Stationen

Samstag, 5. Mai 2018

200 Jahre Karl Marx

Die Forschung zeigt, dass Marx nicht nur ein Mann mit chronischen Geldproblemen war, der sich als aggressiver Schmarotzer auf Kosten von Familie und Freunden undankbar durchs Leben schlug und selbst seiner armen Mutter rücksichtslos das letzte Witwengeld entriss.
Verwandte, die aus seiner Sicht zu alt wurden, beschimpfte er als „Erbschaftsverhinderer”. Über die schwere Krankheit eines Onkels schrieb er an seinen Freund Engels: „Stirbt der Hund jetzt, bin ich aus der Patsche heraus.” Als dessen Tod dann drei Jahre später eintrat, rühmte Marx das als „a very happy event”.
Auch seiner Frau und seinen Kindern gegenüber war Marx von einer irritierenden Brutalität. So schildert Uwe Wittstock in seiner brillanten Biografie „Karl Marx beim Barbier” minutiös die Alltagstragödien der Familie Marx. So die Affäre, die Marx mit dem eigenen Dienst- und Kindermädchen Helena Demuth hatte. 1851 wurde aus diesem Ehebruch ein Kind namens Henry Frederick geboren. Marx zwang die Mutter daraufhin, das Kind weg zu geben und Pflegeeltern zu überlassen. Er kümmerte sich nicht um das Schicksal des Sohnes, der bestenfalls gelegentlich seine Mutter besuchen durfte, dabei aber wie ein Hund nur durch die Hintertür und bis in die Küche hereingelassen wurde.
Aus den Briefen und Artikeln geht auch hervor, dass Marx ein ausgeprägter Antisemit und Rassist war. An seinen politischen Freund Arnold Ruge schrieb er, wie „widerlich” ihm „der israelitische Glaube” sei. Sein Text „Zur Judenfrage” (1843) legt den geistigen Grundstein für blanken antisemitischen Hass: „Welches ist der weltliche Grund des Judenthums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.” Die Passagen von Marx über Juden lesen sich zuweilen wie Originaltexte von Nazis. Das Judentum sei „ein allgemeines gegenwärtiges antisociales Element. In der jüdischen Religion liege „die Verachtung der Theorie, der Kunst, der Geschichte, des Menschen als Selbstzweck”. Selbst „das Weib wird verschachert”.
Seine Briefe entlarven Marx auch als Rassisten. So wird Ferdinand Lassalle, der Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und politischer Konkurrent von Marx, wegen seiner jüdischen Herkunft erst als Jüdel Braun, Ephraim Gescheit und Itzig verunglimpft. Nachdem Lasalle ihn 1862 in London besucht hatte, beschimpft Marx ihn als „jüdischen Nigger Lasalle” und schreibt: „Es ist mir jetzt völlig klar, dass er, wie auch seiner Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlossen. Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft.” Selbst seinen eigenen Schwiegersohn Paul Lafarge, dessen Mutter eine kubanische Kreolin war, erniedrigte er in einem Brief an seine Tochter Jenny als „Negrillo” und „Abkömmling eines Gorillas”.    Wolfram Weiner


Im Austausch mit Engels hat Marx sich Juden gegenüber in den geschmacklosesten Wendungen und obszönen Bemerkungen geäußert, wenn es sich um „Moische“ (Moses) Heß oder Ferdinand Lassalle handelte, den „Baron Itzig“, den „Ephraim Gescheit“, den „kraushaarigen Nigger“ – dies ausgerechnet von dem strubbelköpfigen Marx, der im eigenen Familienkreis und von seinem engsten Freund Friedrich Engels – den Spitznahmen „Mohr“ führte. Wenn es gegen jüdische Konkurrenten ging, konnte Marx einen besonders phantasievollen Wortschatz an den Tag bringen. Vor allem auf Lassalle hatten es Marx/Engels abgesehen: Abgesehen von solch nicht unbedingt antisemitischen Bezeichnungen wie „der Hund“ und „das Vieh“, wimmelt es bei ihnen von „Jüdel“, „Itzig“ oder, vornehmer, „jüdischer Baron“ oder „baronisierter Jude“ sowie, besonders krass, „jüdischer Nigger“ – und eben auch „Jüdchen“.
Marx’ Briefe sind voller herablassender Bemerkungen über Juden. Nicht selten bedient er das Stereotyp des unkultivierten und habgierigen Juden. Einzelne trifft der Vorwurf, geizig und gierig zu sein, doch darüber hinaus findet sich in spöttischen Kommentaren ein breites Spektrum antisemitischer Äußerungen. Jüdische Zeitgenossen werden als penetrant und aufdringlich beschrieben, ihnen wurde vorgeworfen, sie entsprächen nicht dem klassischen Schönheitsideal, oder es hieß, ihre Stimme habe einen „gutturalen Klang, mit dessen Fluch das auserwählte Volk bis zu einem bestimmten Grade beladen“ sei.
Antisemit in dem Sinn, den das Wort in unserer Zeit dann erhielt, das war Marx wohl nicht; doch besser wird sein antijüdisches Verhalten damit noch lange nicht und zu entschuldigen ist damit auch nichts.
Marx sogar ein Rassist?
Wie die meisten Europäer Mitte des 19. Jahrhunderts schien Marx gemeinhin Juden in religiösen oder kulturellen Kategorien wahrzunehmen: Viele sarkastischer Bemerkungen in seinen Briefen gehen in diese Richtung. Die eine Gelegenheit, bei der Marx einen Juden mit rassistischen Beleidigungen beschimpfte, war in einem 1862 verfassten Brief an Engels, gegen Ende des sehr unglücklich verlaufenen Besuchs von Lassalle im Hause Marx in London, bei der jener den für die gesamte Tischgesellschaft vorbereiteten Braten alleine verspeiste. Marx, der bei Lassalle mit allerhand antisemitischen Äußerungen schnell zur Hand war – Äußerungen, die gewöhnlich negative soziale Stereotype gegen Juden artikulierte –, schrieb über den Besucher in rassistischer Konnotation:
„Es ist mir jetzt völlig klar, dass er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, - von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlossen (wenn nicht seine Mutter oder Großmutter von väterlicher Seite sich mit einem Nigger kreuzten). Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft“.
Das Herausstellen phänotypischer Merkmale ist zweifellos ein übler Ausbruch, selbst nach Maßstäben des 19. Jahrhunderts, zeigt er doch, dass sich Marx Juden auch in rassischen Kategorien dachte.
Unter Antisemitismus hatte Marx wohl kaum zu leiden
Es wäre ebenso falsch wie oberflächlich, Marx’ antijüdische Attitüden vom Phänomen des jüdischen Selbsthasses abzuleiten. Marx hat an Selbsthass, ob jüdischem oder sonstigem, weniger gelitten als irgendein anderer bedeutender Mensch. Man kann ihm allenfalls eine übertriebene Selbstgefälligkeit zuschreiben; er hat nie an sich auch nur im Geringsten gezweifelt, noch stand er im Ruf, selbstkritisch zu sein oder Kritik widerspruchslos hinzunehmen und nie hat er seine Abstammung von langen Rabbinerreihen bis weit hinein ins 16. Jahrhundert als Belastung empfunden – er hat es einfach nicht erwähnt und das war nicht einmal eine Verdrängung. Marx hat weniger als andere getaufte Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter Judenfeindschaft zu leiden gehabt. Zum mindesten hat er selber sich solchem Leiden ganz entschieden verschlossen. Weder verschwendete Marx auch nur einen Gedanken an das Problem der Abkehr seiner rabbinischen Großväter, noch hat er überhaupt jüdisch-religiöse Fragen sonderlich ernst genommen.
Es ist nicht bekannt, dass Marx auf Schule oder Universität in irgend nennenswerter Weise etwas davon zu spüren bekommen hätte, als getaufter Jude geschmäht oder abschätzig beurteilt worden zu sein. Auf der Universität in Bonn wurde er ohne Schwierigkeiten Mitglied der Trierer Landsmannschaft, trank und randalierte mit anderen Kommilitonen. Überhaupt ging er, auch später, keinem Streit aus dem Weg, bot Duelle an ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er als geborener Jude in der bürgerlichen Gesellschaft eigentlich nicht satisfaktionsfähig war.
Es konnte auch vorkommen, dass ihn seine politischen Kontrahenten – Proudhon, Ruge oder Bakunin z. B. – als „semitische“ Natur und seine jüdische Abstammung in wenig schmeichelhaftem Licht erscheinen ließen. In einem Steckbrief der preußischen Polizei hieß es über Marx in der Rubrik „besondere Kennzeichen“: „Erinnert in Sprache und Äußerem etwas an seine jüdische Abkunft“.
Marx strotzte vor Selbstbewusstsein
Marx war von sich überzeugt bis zur Selbstvergottung und zum Messianismus, der bei ihm nicht auf das jüdische Volk bezogen war, sondern auf das Proletariat übertragen wurde, das ihm als das von der Geschichte auserwählte Volk galt. Von einem jüdischen Proletariat, von jüdischen Handwerkern wusste er indes nichts, und dies ist umso erstaunlicher, als sich unweit seiner Wohnung im Londoner East End tausende Ostjuden, „klejne Leit“, angesiedelt hatten.
Mit dem Judentum hat Marx sich, mit der Ausnahme seines Essays zur „Judenfrage“ aus dem Jahre 1844, nicht tief befasst – es interessierte ihn nicht sonderlich. Gleichwohl beschäftigte er sich mit der ökonomischen Rolle der jüdischen Bourgeoisie. Die erschien ihm als ein Musterbeispiel der Situation des Kapitalismus. Das Judentum seiner Zeit reduzierte Marx schlicht auf Rothschild, auf den „Besitzjuden“, den „Geldjuden“. Von der Idee einer jüdisch-nationalen Bindung, wie sie sich bei Moses Heß andeutete, wollte er überhaupt nichts wissen, das lag außerhalb seiner Ideenwelt. Eine „Sonderlösung“ für Juden erschien Marx schon im Ansatz unnötig und irreführend: Den jüdischen Ritus, soweit er ihn überhaupt kannte, fand er einfach nur „widerwärtig“. Jüdischer Glaube war für ihn ebenso hinfällig und überholt wie der christliche oder irgendein anderer. Die bürgerliche Stellung der Juden gehörte in das Kapitel allgemeiner Emanzipation und Erringung von Rechten, die nicht nur für minderberechtigte Juden zu gelten hätten und im Übrigen durch die Aufhebung aller Klassenunterschiede gegenstandslos werden würden.
Kapitalisten oder Religionen waren abzulehnen – ganz gleich, ob jüdisch oder nicht
Marx unterschied zwischen dem Einzeljuden und dem Kollektiv, indem er dem Einzeljuden die gleiche Stellung zugestand wie jedem einzelnen Kapitalisten. Dagegen war für ihn das jüdische Kollektiv dem Untergang durch Auflösung geweiht und konnte diesem Schicksal so wenig entgehen wie jede andere kapitalistische Formation. Für Marx waren die Juden eine besonders „hässliche kapitalistische Formation“, wie es Shlomo Na’aman einmal formuliert hat, die vom Status des kleinen Geldgeschäftes zum Bankwesen aufstiegen waren. Er interessierte sich nicht für die Juden und ihr Schicksal um ihrer selbst willen, sondern weil sie ihm ermöglichten, an ihnen seine Analyse der Zukunft des Kapitalismus aufzuzeigen, beziehungsweise die „Erlösung der Menschheit vom Schacher in jeder Form“, und allgemein, um nachzuweisen, dass scheinbar religiöse und andere spekulative Fragen sich in gesellschaftlichen Fragen auflösen, die Fragen der menschlichen Emanzipation sind.
Marx war arm
Marx war sein Leben lang knapp bei Kasse und dadurch sogar existenziell bedroht. Interpretationen, wonach Schulden ihn kalt gelassen und finanzielle Schwierigkeiten ihm wenig Sorgen bereitet hätten – bisweilen noch dargestellt als Verweigerung gegenüber der bürgerlichen Haltung zum Geld oder auch als Absage an das unterstellte jüdische Interesse daran –, verkennen die tatsächlichen Schuld- und Schamgefühle angesichts der chronischen Geldknappheit und der Schwierigkeiten, ein regelmäßiges Einkommen zu erzielen.
Wenn Marx in seinem Hauptwerk, im Kapital, von den Juden als einem Handelsvolk spricht, das „in den Poren der polnischen Gesellschaft“ existiere, benutzt er ein biologistisch-rassistische Bild vom Juden als Parasiten, das in der frühsozialistischen Literatur immer wieder gezeichnet wird. Und weiter heißt es in Marxens Schrift:
„Der Kapitalist weiß, dass alle Waren, wie lumpig sie immer aussehen oder schlecht sie immer riechen, im Glauben und in der Wahrheit Geld, innerlich beschnittene Juden sind, und zudem wundertätige Mittel, um aus Geld mehr Geld zu machen“.
In dieser Aussage finden sich nicht nur eine ganze Reihe zeitgemäßer antijüdischer Stereotypen, hier antizipiert Marx antisemitische Klischees, die sich zählebig bis in die Gegenwart erhalten haben. Wer, wie Marx, das Judentum nicht mehr religiös, sondern synonym mit Geld und „Schacher“ definiert oder mit dem weltbeherrschenden bösen Prinzip „Kapital“, der muss irgendwann seine eigenen Ressentiments in eine gute Ideologie umpolen. Durch den Antisemitismus hindurch zum Klassenbewusstsein – das war ein wichtiges Element im Selbstverständnis der Arbeiterbewegung.
Keine Regel ohne Ausnahme. Marx konnte durchaus offen und auch mit einem gewissen Stolz zu seiner jüdischen Abstammung stehen. In seinen Briefen an seinen stinkreichen Onkel Lion Philips (dem holländischen Elektrokonzern), schlug er positive Töne über das Judentum an, wobei offen bleiben muss, ob dies nicht dem Umstand geschuldet war, das Familienerbe nicht zu gefährden. Philips war Marx’ einziger Briefpartner vor dem er sich nicht genierte, auf seine Herkunft hinzuweisen. Ihm gegenüber sprach er des Öfteren von „unserer gemeinschaftlichen Abkunft“ oder „unserem Ahnenstolz“, dann mit Bezug auf Benjamin Disraeli als „unser Stammesgenosse“. Hier war gewiss eine ironische Identifizierung nicht von der Hand zu weisen.
Marx war der Prophet einer revolutionären und kommunistischen Zukunft, eine Persönlichkeit, die gerade durch die Begründung einer ganz neuen Ideologie, des nach ihm benannten Marxismus, die Welt auf den Kopf gestellt und ihr dabei den Schlaf geraubt hat. Als Privatmann darf man ihn alles in allem für seine Zeit als ziemlich konventionell charakterisieren. Er war patriarchal, sittenstreng, bürgerlich, fleißig, kultiviert, seriös, deutsch und hatte einen von einer gewissen Patina überzogenen jüdischen Hintergrund. Und keine dieser Eigenschaften war Mitte des 19. Jahrhunderts auf irgendeine Weise ungewöhnlich.
In einem Spitzelbericht aus dem Jahre 1852/53, aus dem Gareth Stedman Jones zitiert, heißt es:
„Marx […] führt ein wahres Zigeunerleben. Waschen, Kämmen, Wäschewechseln gehört bei ihm zu den Seltenheiten; er berauscht sich gern. Oft faulenzt er tagelang, hat er aber viel Arbeit, dann arbeitet er Tag und Nacht mit unermüdlicher Ausdauer fort; […] dann legt er sich wieder mittags, ganz angekleidet, aufs Kanapee und schläft bis abends, unbekümmert um die ganze Welt, die bei ihm frei aus- und eingeht“.
Woher der Verfasser seine Informationen genommen hat, erscheint ganz schleierhaft und ob sie wahr sind, darf gewiss bezweifelt werden.
Gleich mehrere Biografien erscheinen zum 200. Geburtstag
Rechtzeitig zum 150-jährigen Jubiläum seines Hauptwerkes, „Das Kapital“ und zu seinem 200. Geburtstag 2018 erlebt der Apostrophierte mit seinen Erkenntnissen eine regelrechte Renaissance. Zwei Marx-Biografien aus aktuellem Anlass ergänzen die bereits unüberschaubare Marx-Historiografie, zwei Biografien, die unterschiedlicher nicht sein können. Hubert Kiesewetter bringt gleich schweres Geschütz in Stellung, wenn er auf die sprachlichen Gewaltorgien von Marx (und Engels) verweist, die die „brutale Politik“ in kommunistischen Herrschaftssystemen „vorweggenommen“ hätten. Kiesewetter lässt kein gutes Haar an Marx, wenn er ihn einen „Alleszerstörer“ nennt und so verortet er dessen Bedeutung allein in der vielseitigen Propaganda für die endgültige Vernichtung der kapitalistischen Staaten. Und mit dieser Weltanschauung habe Marx jeden menschenwürdigen Kredit verspielt.
Anders Jürgen Neffe, der Marx vom Status eines Dämonen auf die Erde zurückführt, der menschliche Gebrauchs-Marx. Neffe verweist auf die Marxsche Botschaft, dass Revolutionen als „Lokomotiven der Geschichte“ sich nicht gegen deren Lauf, sondern nur mit ihm in Bewegung setzen. Einer Rückkehr zum vorbehaltlosen Umgang mit Marx und seinem Werk stand und steht immer der „-ismus“ im Wege. Indes hat Marx den nach ihm benannten Marxismus nie begründet. Dagegen steht auch sein Satz:
„Ich weiß nur dies, daß ich kein ‚Marxist’ bin“.
Man kann es drehen und wenden wie man will: Auch 135 Jahre nach seinem Tod ist Marx quicklebendig, ob man Leben und Werk verteufelt oder bewundert und die rhetorische Frage steht im Raum: Welcher Philosoph hat je so tief in die Ökonomie geblickt, welcher Ökonom so philosophisch gedacht und so literarisch geschrieben wie er?
Als Karl Marx am 14. März 1883 in London starb, hatte für die Juden insgesamt ein neues Zeitalter begonnen, freilich ein negatives: Der „moderne“, rassisch motivierte Antisemitismus hatte sich soeben formiert, und das Wort „Antisemitismus“ selbst war durch Wilhelm Marr gerade vier Jahre zuvor in die Welt gesetzt worden. Nicht zuletzt Marx’ Haltung zur „Judenfrage“ hat dazu beigetragen, judenfeindliche Vorurteile innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung zu bewahren.
Die „jüdische Lehre des Marxismus“
Praktisch sein ganzes Leben lang hatte Marx sich um seinen jüdischen Hintergrund kaum gekümmert. Das Bild änderte sich mit dem Aufstieg sozialdarwinistischer Vorstellungen. Irgendwann glaubten einige Zeitgenossen, jüdische Züge bei ihm zu entdecken und erinnerten an seine „israelitische“ Abstammung. In den Jahrzehnten nach Marx’ Tod verstärkten sich derartige Einstellungen nicht nur spürbar, sondern wurden darüber hinaus in zunehmendem Maße politisch aufgeladen. Den Kulminationspunkt einer ideologischen Zuspitzung waren Adolf Hitler und die unmissverständlich artikulierte Todfeindschaft gegen die „jüdische Lehre des Marxismus“.
In manchen (jüdischen) Kreisen dagegen stand Marx als eine Art jüdischer Volksheld. Zur Zeit der Russischen Revolution von 1905 hieß es einmal: „Jede Klasse hat ihr eigenes politisches Programm. … Das jüdische Proletariat hat bereits eine politische Tojre (Thora) von Karl Marx bekommen“.
In den Nachrufen auf Marx kamen vor allem drei Aspekte zum Ausdruck – Marx als Wissenschaftler, als Jude und als unbeugsamer Revolutionär, Aspekte, die im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte immer weiter ausgearbeitet werden sollten und das Bild von ihm zunehmend erstarren ließen.   Dr. Ludger Joseph Heid


Als wir den protestantischen Friedhof von Rom betraten, einen der schönsten in dieser schönen Stadt, wo zahlreiche berühmte Männer und Frauen liegen, war es schwer, überhaupt hineinzukommen. Vielleicht fünfzig Leute drängten sich zwischen den Gräbern und den alten Bäumen, sie schwatzten und plauderten, sie schienen sich seit Langem zu kennen – die meisten trugen eine rote Rose. Langsam, durchaus feierlich, bewegten sie sich auf ein Grab zu, doch bei aller Feierlichkeit war es offensichtlich, dass hier niemand begraben wurde, keiner weinte, niemand schütze sich mit einer dunklen Brille, kein Priester weit und breit, keine trauernde Witwe, kein verzweifelter Mann, sondern die Stimmung wirkte gehoben, fast aufgeräumt und trotzdem ernsthaft: Politik lag in der Luft. Man war gekommen, um am Grab von Antonio Gramsci dessen achtzigsten Todestages zu gedenken. Der grosse italienische Kommunist war 1937 nach schwerer Krankheit und langem Gefängnisaufenthalt als politischer Häftling von Mussolini gestorben. Er war bloss 46 Jahre alt geworden. Er hatte gelitten wie ein Hund.
Am Grab angekommen, versammelten sich die Menschen und rückten zusammen, als ob sie sich wärmen müssten, und ein grau melierter Herr, der aussah wie ein Journalist oder ein Gymnasiallehrer, etwas schmuddelig, aber gutmütig, schlecht rasiert, aber mit intelligentem Blick, hielt eine Rede, die wohl ziemlich lange dauerte und dennoch niemanden zu langweilen schien. Am Ende streckte der Mann die Faust in die Luft, und die rund fünfzig Leute taten es ihm gleich, die meisten so alt wie er – wir hatten unverhofft einer Kundgebung der letzten Kommunisten beigewohnt, so erschien es uns, und eine seltsame Melancholie ergriff mich.
Obwohl ich doch wusste, wie falsch, ja am Ende mörderisch diese Politik gewesen war, für die sich diese alten, sympathisch wirkenden Menschen ihr Leben lang eingesetzt hatten, rührte mich diese Versammlung der Unverdrossenen und Unentwegten, die trotz rund 100 Millionen Toten, die der Kommunismus weltweit zu verantworten hatte, an ihrem falschen Glauben festhielten. Ja, die vielleicht bereit gewesen wären, wie Gramsci für ihre politischen Überzeugung zu sterben. Wenn wir eines Beweises bedurft hätten, dass den Kommunismus durchaus religiöse Züge auszeichnete, dann hatten wir ihn hier zu sehen bekommen, an diesem surrealen, traurigen und posthumen Abschied von Antonio Gramsci in Rom.

Der Prophet eines neuen, gottlosen Aberglaubens

Gramsci gilt als einer der klügsten Theoretiker des Kommunismus, bitterarm aufgewachsen, aber hochbegabt, gehörte er zu den vielen, vielen brillanten Menschen, die sich einer politischen und wissenschaftlichen Theorie verschrieben hatten, die heute empirisch so gut wie in allen Punkten widerlegt ist und dennoch so viele kluge Köpfe noch heute fasziniert. Warum? Was am Marxismus hat die Menschen dermassen begeistert und angelockt?
Vor genau 200 Jahren, am 5. Mai 1818, ist Karl Marx, der Prophet dieser neuen, gottlosen Religion, in Trier, einer uralten Stadt in Südwestdeutschland, geboren worden. Sein Grossvater mütterlicherseits war ein Rabbiner aus Holland, seine Vorfahren väterlicherseits hatten seit fast hundert Jahren die Rabbiner von Trier gestellt: Wenn dem Kommunismus und seinem Prediger Karl gewisse religiöse Merkmale eigen waren, dann dürfte dies auch mit dieser Herkunft zu tun haben. Marx wusste, wie man einen Glauben praktizierte, und er verstand die Sehnsucht der Menschen nach Gewissheiten und unumstösslichen Antworten, wo sonst nur Chaos und Zufall zu bestimmen schienen.
Seine als wissenschaftliche Erkenntnis verbrämte Überzeugung, wonach die sozialistische Revolution unausweichlich sei, hatte weniger mit Wissenschaft oder Politik zu tun, als mit einer religiös anmutenden Heilserwartung. Ebenso kannte Marx das Böse – und er wies den Menschen einen Weg, es zu besiegen. Auch Friedrich Engels, der Freund und engste Mitarbeiter von Marx, entstammte einer hochreligiösen, calvinistischen, ja evangelikalen Familie. Marx‘ Vater, ein Anwalt, liess sich und seine Kinder übrigens taufen und trat zum Protestantismus über, wozu ihn die preussischen Behörden faktisch gezwungen hatten, da er sonst als Anwalt nicht mehr hätte praktizieren können. Trier war 1815 an Preussen gekommen.
Ein zweites fällt auf. Wenn wir Marx’s Leben und Persönlichkeit betrachten, dann erinnert er in manchem an die Reformatoren. Was Marx am besten konnte, war sich glänzend auszudrücken, er redete gut, wenn auch ohne Charisma, und seine journalistischen oder politischen Texte – genauso wie die theologischen von Zwingli, Calvin oder Luther – verführten die Leser, indem Marx vom Guten und Bösen erzählte, indem er schimpfte, lachte und spottete, ja, selbst seine wissenschaftlichen Werke fesselten die Menschen auf eine geradezu perverse Art: Sie waren so schwierig zu verstehen, dass jeder, der diese Lektüre überstanden hatte, fast zwangsläufig zum Gläubigen wurde. Märtyrer des Lesens hatten die Wahrheit erblickt.

Eine weltumfassende, tödliche politische Bewegung

Dass Marx jedoch auf Jahrhunderte hinaus eine weltumfassende, tödliche politische Bewegung zu begründen vermochte, lag am Inhaltlichen. Marx war einer der Ersten, der die dunklen Seiten der industriellen Revolution beschrieb und der – das war entscheidend – versuchte sie zu verstehen. Wer zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Trier aufwuchs, sah von den Folgen dieser erstaunlichen kapitalistischen Umwälzung, die in jenen Jahren einsetzte, noch nicht allzu viel; doch wer, wie Engels und später auch Marx nach England kam, dem fiel sie umso mehr auf. In London, dem damaligen Hauptquartier des Kapitalismus, dieser neuen «Gesellschaftsform», wie Marx sie nennen sollte, lebten die reichsten Menschen der Welt, aber auch die ärmsten (konnte man meinen), sodass der Eindruck, den Marx erhielt, dass hier Verhältnisse herrschten, die nicht zu überdauern imstande wären, nachvollziehbar ist. Marx war überzeugt, dass der Kapitalismus, bei allen Vorzügen und Fortschritten, die er durchaus anerkannte, dem Untergang geweiht war.
Im Grunde erlag Marx schon damals einer optischen Täuschung. Wer die Statistiken und Löhne zurate zog, hätte leicht erkennen können, dass ausserhalb von London, ob in der Provinz oder auf dem Kontinent, in dieser angeblichen landwirtschaftlichen Idylle der Vormoderne, die viel drückendere Armut herrschte. Doch auf dem Land, wo Knechte, Taglöhner, Mägde fast regelmässig verhungerten, wirkte deren Schicksal irgendwie „natürlicher“, zumal es sich um Zustände handelte, die seit Jahrhunderten die Menschen plagten. Ausserdem stachen die Unterschiede zwischen reich und arm weniger ins Auge. Ein vermögender Adliger wohnte im fernen Schloss, weit weg von seinen bedauernswerten Pächtern und Untertanen, wogegen ein Kapitalist in London zwar in einem anderen Viertel lebte als der Proletarier, aber immer noch nah genug, dass sein Reichtum viel unverschämter wirkte als jener des Adligen.
Dessen ungeachtet konnte sich Marx nicht vorstellen, dass der Kapitalismus irgendwann auch die Armen reicher machen würde, sondern er ging davon aus, dass deren Verelendung Jahr für Jahr zunehmen würde, bis die Armen rebellierten und die Revolution auslösten. Deshalb stellte er eine Theorie auf, die solches behauptete und erklärte, und weil die Menschen dazu neigen, das Schlimmste zu befürchten, aber das Beste zu erhoffen, traf Marx einen Nerv. Bald galt er als der Prophet, der alles richtig gesehen hatte und alles richtig vorauszusagen schien. Ähnlich wie die christlichen Evangelisten kündigte er ein Jüngstes Gericht an, das die Kapitalisten zur Verdammnis verurteilen sollte, und dem Proletarier das ewige Leben im Sozialismus versprach. «Wir haben sie so geliebt, die Revolution», sollte der spätere linksradikale Studentenführer Daniel Cohn-Bendit schreiben, mit einer Ergriffenheit, wie wir sie von Erleuchteten kennen.
Ohne diese pseudoreligiöse, apokalyptische, zutiefst jüdisch-christlich geprägte Heilsgeschichte, die Marx und Engels entwarfen, davon bin ich überzeugt, hätte der Marxismus nie eine solche Durchschlagskraft entwickelt – denn diese Theorie sprach vor allem jene an, die vorgaben nicht mehr an Gott zu glauben, ihn aber offenbar trotzdem vermissten: die Intellektuellen des 19. und 20. Jahrhunderts, die eben der Religion entronnen waren, gut ausgebildete Leute, die sich für streng wissenschaftlich hielten und deshalb einem angeblich wissenschaftlichen Aberglauben umso lieber verfielen.

Mit einem Selbstvertrauen sondergleichen ausgestattet

Marx war ein scharfsinniger Ökonom und ein origineller Denker. Aber er, der Nachkomme von so vielen grossen Rabbinern, war auch mit einem Selbstvertrauen und einem Sendungsbewusstsein sondergleichen ausgestattet, die ihn dazu verleiteten, die Weltformel und Universallehre zu suchen und nach getaner Arbeit fest daran zu glauben, sie gefunden zu haben. Zweifel war seine Stärke nicht. Das machte ihn zwar unwiderstehlich in den Augen vieler kluger Köpfe, gleichzeitig anfällig für Irrtümer im Weltmassstab. Bezahlt dafür haben Millionen von Toten – für eine ehrgeizige Theorie, die in der Praxis nie und nirgendwo etwas taugte.
Gramsci, der einstige Vorsitzende der Kommunistischen Partei Italiens, schmorte elf Jahre lang im Gefängnis. Man behandelte ihn schlecht, verweigerte ihm, dem seit der Kindheit Kränkelnden, die Medikamente, sodass er jeden Tag ein wenig starb. Fieberhaft schrieb er weiter an seiner Theorie des Sozialismus. 1934 begnadigte ihn der faschistische Diktator Mussolini. Es war zu spät, um je wieder gesund zu werden. 1937 verstorben, ruht er auf dem Protestantischen Friedhof in Rom. Als katholischer Atheist.   Markus Somm
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung.

Die von mir nicht völlig unverehrte Sahra Wagenknecht fühlte sich herausgefordert, den vereinzelten Protesten gegen die Aufstellung eines trojanischen Pferdes aus China in jener deutschen Kleinstadt, in welcher der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus und Schöpfer populärer ökonomischer Märchen wie der Mehrwerttheorie, der Verelendungstheorie und des tendenziellen Falles der Profitrate das triste Licht der Welt erblickte, mit dem Statement entgegenzutreten: "Wenn jeder für das verantwortlich wäre, was in seinem Namen geschieht, dürfte Jesus Christus heute in keiner Kirche mehr hängen." (Ist das am Ende der Grund für das Bilderverbot der Mohammedaner?) Wer Marx zum Vordenker autoritärer Systeme erkläre, so die Linken-Frontfrau, könne seine Aufsätze nie gelesen haben. "Marx hat an keiner Stelle eine verstaatlichte Planwirtschaft gefordert. Sein Ziel war Demokratie."
Als ein Mensch, der Marxens "Aufsätze" noch in einem Weltwinkel gelesen hat, wo sie religiöse Doktrin waren, im deutschen Gottesstaat der Atheisten, muss ich sacht widersprechen, und zwar mit Marx-Zitaten:
"Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats." ("Kritik des Gothaer Programms")
"Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung." ("Manifest der Kommunistischen Partei")

"Nachdem z.B. die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch und praktisch vernichtet werden." ("Thesen über Feuerbach")
"Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein. Bis dahin wird am Vorabend jeder allgemeinen Neugestaltung der Gesellschaft das letzte Wort der sozialen Wissenschaft stets lauten: ‚Kampf oder Tod; blutiger Krieg oder das Nichts. So ist die Frage unerbittlich gestellt.’" ("Das Elend der Philosophie"; das finale Zitat stammt pikanterweise von George Sand.)
"...der Kannibalismus der Kontrerevolution selbst wird die Völker überzeugen, daß es nur ein Mittel gibt, die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel – den revolutionären Terrorismus." ("Sieg der Konterrevolution zu Wien", Neue Rheinische Zeitung vom 7. November 1848)
Marx’ Wirkungsgeschichte mit jener von Jesus in einen Atemzug zu bringen, scheint mir etwas degoutant angesichts der doch ziemlich divergierenden Grundmotive: hier die Liebe zu allen Gotteskindern, dort ein infernalischer Hass auf wahrlich alles und jeden, den eigenen Vater, die Juden, die Slawen, das, um ein bisschen aus den Briefen zu zitieren, "Fabrikantengesindel", die "Hunde von Demokraten und liberalen Lumpen", die "Hunde von Parlamentskretins", "all das Gesindel aus Berlin, Mark oder Pommern", den "Menschendreck" und "Menschenkehricht" (eine Marxsche, auch von mir in Gedanken gern gebrauchte Lieblingsvokabel), den "jüdischen Nigger" Lasalle, dessen "Zudringlichkeit" "niggerhaft" sei, das "Rindvieh" Wilhelm Liebknecht, den "Scheißkerl" Freiligrath, das "muskowitische Vieh" Bakunin. Die Franzosen "brauchen Prügel"; Deutschland sei "die dümmste Nation unter dem Sonnenlicht" (wohl wahr, wohl wahr); "ohne Keile von außen ist mit diesen Hunden nichts anzufangen". Juden? "Viel Juden und Flöhe hier." Kroaten und Tschechen? "Lumpengesindel". Russen? "Hunde"; "Im russischen Vokabularium existiert das Wort Ehre nicht." Das Publikum? "Ich dehne diesen Band ("Das Kapital“ – M.K.) mehr aus, da die deutschen Hunde den Wert der Bücher nach dem Kubikinhalt schätzen." Die Internationale Arbeiter-Assoziation? "Lumpengesindel". Das Proletariat? "Komplettere Esel als diese Arbeiter gibt es wohl nicht . . ., schlimm, daß mit solchen Leuten Weltgeschichte gemacht werden soll." Humanismus? "Phrase". Parlamentarismus? "Demokratische Pißjauche".
Brechen wir die hate-speech-Lese im Werk unseres Wutdenkers hier ab und werfen wir einen Blick auf seine Jugendgedichte. Der Vierzeiler "Wunsch" hebt an mit den Worten: "Könnt' ich die Seele sterbend tauchen/In der Vernichtung Ocean". Und in des "Des Verzweifelnden Gebet" findet sich der Selbsttrost: "Eines blieb, die Rache blieb mir doch."
Seinem Lebensgesetz zufolge gesellte sich stracks die Selbstidolatrie hinzu:
"Einen Thron will ich mir auferbauen,
Kalt und riesig soll sein Gipfel sein,
Bollwerk sei ihm übermenschlich Grauen,
Und sein Marschall sei die düst're Pein !
Wer hinaufschaut mit gesundem Auge,
Kehre todtenbleich und stumm zurück,
Angepackt vom blinden Todteshauche,
Grabe selbst die Grube sich sein Glück.
Und des Höchsten Blitze sollen prallen
Von dem hohen, eisernen Gebäu,
Bricht er meine Mauern, meine Hallen,
Trotzend baut die Ewigkeit sie neu."

Er wusste schon früh, was er wollte.    MK am 13. 5. 2018


"Ach, muß das gut tun, einem verblichenen großen Geist auf den Sargdeckel zu brunzen!", rüffelt Leser *** über meine gestrigen Eintrag zu Triers berühmtesten Sohn. Brunzen? Ich habe den Dr. Marx doch bloß zitiert! Aber, fährt *** fort, "man kann derartige Invektorien selbstverständlich auch in den nachgelassenen Schriften des Agitators Jesus, des Reformators Luther, des Geheimrats Goethe nachlesen – was einen intelligenten Kopf dennoch keineswegs davon abhält, das Œvre der vorgenannten zu würdigen.“"
Vielleicht, weil das Œvre mehr taugt, zumindest im Falle Goethes?
"Der Gewi-Unterricht in Schlema mag Mängel gehabt haben  –  ebenso die DialHistMat-Vorlesungen an der Uni", legt *** nach. "Diese Erkenntnis entbinden Sie nicht vom Selbststudium und eigenem Durchdenken bestimmter Sätze Marxens in ihrem historischen Zusammenhang, bevor Sie Ihren Blog mit einem Text füllen, der Ihnen nicht zur Ehre gereicht."
Zunächst, solcherart gekitzelt, ein paar Worte pro domo. Ich habe das lauschige Schlema mit zweieinhalb Jahren verlassen, der Staatsbürgerkundeunterricht an der Wilhelm-Pieck-Oberschule in Berlin Pankow, wo ich in einer sogenannten Russisch-Klasse für die akademische Karriere abgerichtet werden sollte, kam ohne jeden Versuch einer tieferen Marx-Exegese aus, und eine Universität habe ich nie betreten, weil ich im Drecksstaat DDR nicht studieren wollte; ich war von der ideologischen Mast in der Schule übersatt und strebte zu den Proleten, deren Trinkgewohnheiten ich etwa ab der 9. oder 10. Klassen angenommen hatte, in die Produktion. Hätte ich geahnt, dass die Mauer, die ein Jahr vor meiner Geburt gebaut wurde und mir als ein unerschütterliches Apriori meinen Horizont vorschrieb resp. verstellte, noch vor der Mitte meines Lebens fallen sollte, ich hätte mich in irgendein sogenanntes Orchideenfach verkrümelt, in dem man von der Propaganda halbwegs verschont blieb, Altphilologie zum Beispiel (für Physik war ich zu blöd), mir wären Millionen Gehirnzellen erhalten geblieben, die mir der DDR-Schnaps frustrationsmildernd zunichte machte, ich hätte tausend Bücher mehr gelesen etc. pp., kurzum: Es mag ein Fehler gewesen sein. Aber außer Nostradamus und Katrin Göring-Eckardt kann eben kaum jemand in die Zukunft schauen. Ich habe in dieser Zeit freilich ziemlich viel Marx gelesen, unter anderem weil man in der Zone die meisten anderen interessanten nachhegelschen Denker ja nicht in die Hände bekam, womit wir endlich bei unserem kommunistischen Oberklassiker wären. Ich besaß die halbe Marx-Engels-Werkausgabe, und ich habe mit dem Gevatter in gewisser Weise eine Rechnung offen, auch wenn ich die meisten der blauen Bände längst umweltgerecht entsorgt habe. Ich bin also alles andere als ausgewogen in meinem Urteil.
Zurück denn zu Leser ***: Das Selbststudium, welches er fordert, empfehle ich auch, lesen Sie alle Marx, möglichst viel davon, dann fällt der Groschen meistens von alleine. "Das Vertrauen des Marxisten in Marx ist gemeinhin so groß, dass er darauf verzichtet, seine Werke zu lesen", brachte Nicolás Gómez Dávila das Problem, wie man sagt, auf den Punkt. Ein anderes Problem wiederum hat damit zu tun, dass "Marx der einzige Marxist war, den der Marxismus nicht verdummt hat" (nochmals Gómez Dávila); ich hatte mein halbes Leben mit Leuten zu tun, denen das von Marx hergestellte Strychnin das Gehirn vernebelt hatte, ja ich gehörte lange selber dazu; ich erinnere mich noch mit grimmigem retrospektiven Amüsement, wie ich versuchte, die mir zugängliche Welt, also den Realsozialismus hie und den ökonomisch wie lebensartlich in lichtere Sphären entschwirrenden sog. Kapitalismus dort – und die sog. nationalen Befreiungsbewegungen der dritten Welt inmitten – mit den Kategorien des Mannes zu erklären, der auf dem deutlich wertloseren der beiden 100-Mark-Scheine abgebildet war. Mein Fehler bestand darin, ihn als Philosophen oder Ökonomen lesen zu wollen, tatsächlich war er ja ein Religionsgründer und Kirchenvater. Daraus erklärt sich sowohl seine Massenwirkung als auch das krachende und blutige Scheitern seiner Kirche – es scheint ein Weltgesetz zu sein, dass seit Muhammad keine neuen Religionen mehr geschaffen werden können, und auch der Islam besteht ja schon überwiegend aus Adaptionen –, und erklärt übrigens auch die Prägekraft, die der Bolschewismus auf die muslimischen Länder an der südlichen Peripherie Russlands ausübte. Der von seinem Glauben durchglühte, die Weltbeglückung predigende, ein unumstößliches Regelwerk statuierende und zu jeder Brutalität bereite Kommissar war ein Typus, der den Menschen dort einleuchtete, mit dem konnten sie etwas anfangen.
Marx war ein Groller und Zürner, der in sich mehr Hass und Verachtung auf die Welt trug als jeder andere mir bekannte als groß gehandelte Denker; der alte Schopenhauer erscheint daneben als ein heiterer Stoiker. In puncto Ressentiment stand Marx natürlich weit unter Rousseau, er war voller Bosheit, aber kein Lump und Neider auf Schleichwegen. (Nehmen wir jetzt noch Adorno und Foucault hinzu, und Sie haben die Quadrille meiner Unmöglichen; so blitzgescheite wie trostlose Zerstörerwesen mit eminenten Wirkungsgeschichten.) Wir wissen, dass des Menschen Geistigkeit in den Niederungen seiner Empfindungen, leiblichen Dispositionen und biografischen Verwicklungen wurzelt. Marx war erfolglos und litt an allerlei körperlichen Unpässlichkeiten, er schaffte es nicht, seine Familie zu ernähren, er war die komische Figur des Kapitalismuskritikers, der sich von einem Kapitalisten aushalten lassen musste, um den Kapitalismus weiter kritisieren zu können, des ökonomischen Sachverständigen, der sein Geld an der Börse verspielte, des erfolglosen Politikers, der die erfolgreichen Politiker bis in die Vergangenheit hinein mit seinen Schmähungen überzog, des sendungsbewussten Autors, dessen Bücher niemand kaufte, des Sektengründers, dessen eigene Sekte seine beständige Besserwisserei nicht ertrug – jetzt erst, geehrter Herr ***, "brunze" ich ihm auf den Sargdeckel.

Apropos: Bei Marxens Beerdigung, auf welcher Engels diese so erstaunlich kecke Rede hielt, waren keine zehn Leute anwesend. Alles beinahe wie bei Jesus, die Wirkungslosigkeit, das Scheitern, die gewaltige posthume Wirkung, aber eben nur beinahe. Dass Marx als Aufrührer zwar nicht gekreuzigt, aber auf dem Kontinent nicht mehr geduldet wurde und im britischen Exil leben musste – "Im Exil zu sterben ist eine Garantie dafür, nicht völlig mittelmäßig gewesen zu sein" (nochmals Gómez Dávila) –, dürfte der Produktivität seiner Galle nicht abträglich gewesen sein. Er lieferte im rhetorischen Übermaß, was dem durchschnittlichen linken Intellektuellen behagt: Überlegenheitsgefühl, Welterklärungsanspruch und Futter für ökonomisches Selbstmitleid. Und nur unter Intellektuellen ist er noch populär. Kein seriöser Ökonom – nehmen Sie diese Formulierung cum grano salis, Ökonomie ist keine Wissenschaft – beruft sich heute noch auf eine marx’sche These, kein seriöser Historiker – dito – glaubt mehr an die Klassenkampftheorie, den Historischen Materialismus und all die anderen Kausalitäts-Legenden und Determinismus-Mythen aus der marxistischen Klippschule, die natürlich der Denkfaulheit und Differenzierungsunlust der meisten Intellektuellen entgegenkamen. Kann es ein dümmeres Buch von einem intelligenteren Menschen geben als George Lukács’ "Die Zerstörung der Vernunft"? Das macht Marxismus aus brillanten Köpfen, wobei in diesem Falle die Furcht hinzukam, noch beflisseneren Marxisten mit deutlich schlechteren Werkkenntnissen beim Verhör gegenüberzusitzen.
Ich muss den Alten freilich auch in Schutz nehmen. Erstens: Er konnte schreiben, böse meist, aber das mag ich ja. Zweitens: Er war seinen Thesen und Theorien gegenüber weit skeptischer als seine geistigen Nachfahren und politischen Testamentsvollstrecker. Drittens: Er würde sich vor vielen heutigen Linken ekeln, vor Figuren, die Shakespeare und Aischylos aus den universitären Lehrplänen entfernen wollen, weil sie sich von der Dominanz alter weißer Männer getriggert fühlen. Er würde Gender-Professorinnen, Multikulturalisten, Wüstenreligionsbewillkommner und die Erfinder immer neuer Geschlechter mit ätzendem Spott überziehen. Er würde im Giftschrank der alten weißen Männer enden.
Es ist übrigens unangemessen, Marx die Menschheitsverbrechen der kommunistischen Terrorstaaten anzulasten, denn Schuld trägt immer nur derjenige, der zuschlägt, nicht derjenige, der dazu auffordert, man halte von Letzterem, was man wolle. Dasselbe gilt freilich auch bzw. gilt natürlich nicht für die sogenannten geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus (sofern sie eben nicht selber Nationalsozialisten waren wie beispielsweise Rosenberg oder Beaumler).

Doch ich habe nun einmal ins Wespennest gestochen. Leserin *** schreibt: "Die Sammlung Ihrer Marx-Zitate hat mich an etwas erinnert. In dieser Art und Weise sammelten Arndt-Gegner, vor allem Studenten, jene Arndt-Zitate, die heute anstößig klingen. In dieser Häufung verwendet sind sie jedoch unredlich – das Positive wird nicht erwähnt."

Ich habe diese Zitate lediglich als Belege dafür gesammelt, dass Frau Wagenknechts huldvolle Unterstellung, Marx' "Ziel" sei "die Demokratie" gewesen, nicht so recht stimmt. Oder dass er sie ungefähr so wollte, wie die amerikanischen Neocons: Der ewige Frieden ist immer noch genau ein letztes Gefecht, einen letzten Massenmord weit entfernt.
"Vielleicht hat es  sogar sein Gutes, dass man im 19. Jahrhundert noch keine Political Correctness kannte. Vielleicht nicht bei Jesus, jedoch auch in der Bibel finden sich sehr viele Zitate, die heute nur erschrecken können, vor allem im Alten Testament. Ich kaufte einmal eine Kinderbibel, um meinen Kindern daraus vorzulesen. Dies gab ich dann auf, weil mir Vieles einfach zu grausam war. (...) Heinrich Heine machte sich einmal über die schrecklichen Ostjuden lustig, über ihr Aussehen ihre Sprache usw.  Selbst bei Goethe lassen sich befremdliche Zitate finden."

Bei Goethe kam immerhin noch niemand auf die schrille Idee, ihm zu unterstellen, sein Ziel die Demokratie gewesen.
"Natürlich hat auch Marx geirrt. Es kann allerdings gar nicht sein, dass heute  s ä m t l i c h e  Aussagen eines Gesellschaftswissenschaftlers des 19. Jahrhunderts bestätigt werden können. So etwas gibt es auch auf anderen Gebieten nicht, immer bleibt etwas Zeittypisches, welches von neuen Erkenntnissen überholt wird."

Kein Dissens.
"Dennoch fand Karl Marx vor allem im 'Kapital' Erkenntnisse und Aussagen, die bis heute Gültigkeit haben. Wenn ich die vielen Krisen sehe, die heute die Welt erschüttern, finde ich (leider) vieles richtig, z.B. dass (einige) Kapitalisten skrupellos über Leichen gehen, wenn die Rendite steigt. (...) Auch die unersättliche Gier des Systems zerstört unseren Planeten. Wenn man sich für Weltpolitik interessiert, konnte man in vielen Filmen sehen, dass Menschen vor allem in Südamerika und auch in Afrika buchstäblich umgebracht werden, wenn Profite locken. (...) Allein der Antrieb großer Teile des Systems, Kriege um mehr Profit zu führen, reicht, um dieses System zu hassen."

Ich würde gern erfahren, welche Aussagen des "Kapital" heute noch Gültigkeit haben. Was aber die hier gegen den Kapitalismus erhobenen Vorwürfe betrifft, muss ich zunächst einwenden, dass keineswegs nur (einige) Kapitalisten für ihren Vorteil über Leichen gehen, sondern das tun und taten (einige) Menschen zu allen Zeiten. Es ist unredlich oder töricht oder auch bloß Gesinnungskitsch, einem speziellen politischen oder Wirtschaftssystem vorzuwerfen, was zur menschlichen Gesamtnatur gehört. Nun könnte gegen den Kapitalismus, den man in seiner heutigen Form vielleicht besser Marktwirtschaft nennen sollte, eingewendet werden, dass er gerade besonders mörderisch oder besonders umweltzerstörerisch sei. Gegen diese These hat aber der Realsozialismus ein beeindruckendes Zeugnis abgelegt. Den Streit, ob der Kapitalismus "die Umwelt" zerstört oder ob gerade das freie Spiel innovativer Kräfte auf dem Markt zu immer umweltverträglicheren Techniken führt, will ich nicht entscheiden müsssen. Am verkommensten sind gemeinhin jene Regionen, wo am wenigsten investiert wird. Der Kapitalismus ist mitverantwortlich dafür, dass auf diesem Planeten inzwischen sieben Milliarden Menschen leben können, das kann man schlimm finden, vor allem aus ästhetischen Gründen, aber es ist aus der Sicht des Biologen eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Der Marktwirtschaft verdankt ein Großteil der Weltbevölkerung seine Wohlbehaustheit, sein langes Leben, seine Gesundheit, seine Mobilität, und wo das alles fehlt, fehlt auch die Marktwirtschaft. Die Großgaunereien einiger Banken wiederum waren, zumindest in dem gigantischen Ausmaß vor der Finanzkrise, nur möglich, weil die Staaten zuvor in die Märkte eingegriffen hatten. Und so verhält es sich letztlich auch mit den Kriegen. Gewiss, es gibt einen Teil der Wirtschaft, der davon profitiert und die Politik zu beeinflussen versucht. Aber es ist nicht der Kapitalismus als solcher und ganzer. Was hat denn ein zivilwirtschaftlicher Unternehmer davon, wenn Märkte zerstört werden?
"Jedenfalls zeigen die Marxzitate", schließt Leserin ***; "Marx war kein Mustermensch, er hat geirrt und trotz allem eine große Menschenliebe besessen. Wenn ihm die Menschheit egal wäre, hätte er sich mit einem Durchschnittsleben zufrieden gegeben."

Na ja, die Geschichte hat schockweise Gestalten erzeugt, die alles andere als ein Durchschnittsleben führten und denen die Menschen gleichgültiger waren als der Dreck unter ihren Fingernägeln. Seit Rousseau und erst recht seit Marx behaupten aber viele von ihnen, ihr wahres Interesse gelte stattdessen der Menschheit. Nebbich.   MK am 14. 5. 2018


"Der Marxismus ist das Opium der Intellektuellen". Raimond Aaron

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