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Mittwoch, 16. Mai 2018

Sie lügen bei jeder Gelegenheit - KGE und AM

Neben der Fake History, etwa in Gestalt der Saga, türkische Gastarbeiter hätten Deutschland nach dem Krieg wieder aufgebaut, gibt es das vergleichsweise wirksamere Instrument der Gegenwartslegende. Sie biegen aktuelle Debatten so, dass sie in einen bestimmten Deutungsrahmen passen. Ein schönes Beispiel lieferte Katrin Göring-Eckardt mit der Behauptung, weltweite Flüchtlingsströme hätten irgendetwas mit dem Sojaanbau für den Fleischkonsum der Deutschen zu tun:
„Viele Fluchtbewegungen kommen deswegen zustande, weil wir so leben, wie wir leben. Menschen fliehen auch, weil kein Wasser da ist, weil es Dürren gibt, weil sie ihre eigenen Lebensmittel nicht mehr anbauen können, weil sie das Soja für unsere Fleischproduktion anbauen.“
In dieser Behauptung stecken zwei Topoi, die dem grüne Herzen teuer sind: westliches Schuldgefühl, Agitation gegen Fleisch. Und sie erweist sich schon nach dem kurzen Blick auf die Zahlen als purer Nonsens. Die zehn größten Sojaanbauländer der Welt heißen USA, Brasilien, Argentinien, China, Indien, Paraguay, Kanada, Ukraine, Bolivien und Uruguay; aus keinem der Länder strömen Flüchtlinge. Umgekehrt spielt weder in Syrien, Afghanistan und den diversen Herkunftsländern der Migranten, die nach Deutschland kommen, Sojaanbau irgendeine Rolle.

Auf dem Katholikentag in Münster versuchte sich Angela Merkel an einem ähnlichen Biegen und Brechen des Faktischen: Sie dozierte auf der Bühne über den Zusammenhang, der nach ihrer Meinung zwischen der Austrocknung des Tschadsees und der Formierung der islamistischen Terrororganisation Boko Haram besteht. Im Wortlaut klang das so:
„Schaun Sie sich einfach mal, wenn Sie’s nicht schon gemacht ham, vielleicht haben’s hier ja auch alle gemacht, die Karte vom Tschadsee vor 40 Jahren an, vor 20 Jahren an, von heute an. Da kommen Ihnen die Tränen. Da ist ein ganzer See nicht mehr da. Da haben 100 Millionen Menschen gelebt. Und es hat sich die Welt und niemand (…) richtig drum gekümmert. Und in der Situation ist Boko Haram entstanden.“
Zunächst einmal erhellt eine kurze Geschichte von Boko Haram die Lage. Die muslimische Terrororganisation entstand 2002 im Norden Nigerias, also kurz nach dem Anschlag al-Quaidas auf das World Trade Center. „Boko Haram“ bedeutet „Bücher sind verboten“, freier übersetzt auch „westliche Bildung ist verboten“. Die bewaffnete Truppe mit etwa 15 000 Mitgliedern ist Teil der islamistischen Gewaltentwicklung seit 2001, die von al-Quaida über die Al-Shabab-Milizen in Somalia und den IS bis zu der indonesischen Terrororganisation Darul Islam reicht. Das Hauptgeschäft von Boko Haram besteht in extrem gewalttätigen Überfällen auf Dörfer, Mord an Christen wie an Muslimen, die sich entgegenstellen, und der Massenentführung von Mädchen. Seit seiner Gründung tötete Boko Haram Zehntausende und vertrieb etwa 2,3 Millionen Menschen. Ihr Hauptquartier wechselte seit 2002 einige Male, befand sich aber immer im Norden Nigerias.
Und nun zum Tschadsee: Er liegt nicht in Nigeria, sondern, wie der Name schon sagt, im Nachbarland Tschad. Er grenzt nur an eine nigerianische Provinz. Der ehemals sechstgrößte See der Erde verlor seit den sechziger Jahren 90 Prozent seiner Wasserfläche, zum einen durch extreme Trockenheit, zum anderen durch steigende Wasserentnahme aus dem Fluss, der ihn speist. Schon 1972 spaltete sich der See durch die Austrocknung in ein Nord- und ein Südbecken. Dass der ganze See, wie Merkel meint, „nicht mehr da“ ist, stimmt nicht. Aber für das Land bedeutet die Schrumpfung des ehemals riesigen Sees ein großes Problem. Trotzdem blieb das Land politisch halbwegs stabil.

Obwohl es zu den sieben ärmsten Ländern der Welt zählt und mit etwa 14 Millionen Einwohnern auch zu dem am dünnsten besiedelten, flohen in den vergangenen Jahren Hunderttausende aus den Nachbarländern vor Gewalt in den Tschad, darunter 280 000 aus dem Sudan und etwa 20 000 von Boko Haram vertriebene Nigerianer. Kein Staat Afrikas beherbergt im Verhältnis zu seiner angestammten Bevölkerung so viele Flüchtlinge. Wie Merkel übrigens auf 100 Millionen Menschen in der unmittelbaren Nähe des Tschadsees kommt, die dort einmal gelebt haben sollen, bleibt angesichts der tatsächlichen Bevölkerungszahlen rätselhaft.

Dass Tausende vor Boko Haram in das Land des austrocknenden Sees fliehen, dessen große Wasserverluste außerdem in den siebziger Jahren stattfanden – das allein lässt schon von Merkels Behauptung nichts übrig, der austrocknende See im Nachbarland Nigerias sei irgendwie ursächlich für das Entstehen der jihadistischen Terrorarmee im Jahr 2002. Nun war Merkels Ausführung in Münster ein typischer Merkelismus: Sie sprach nicht von einer direkten Ursache, sondern konstruiert einen vagen, nicht näher erklärten Zusammenhang: „in der Situation ist Boko Haram entstanden.“
Den eigentlichen Entstehungsgrund für Boko Haram und ähnlich gelagerte Organisationen erwähnt sie gar nicht erst: den aggressiven Islam, der seit dem Jahr 2000 vor allem dank der Finanzierung aus Saudi-Arabien weltweit expandiert. Bei Merkel besitzt der militante Islamismus den Status eines Naturereignisses: er ist nun mal da. In ihren Ausführungen auf dem Kirchentag kamen die Begriffe Islam und islamistisch gar nicht vor. Dort, wo sich wirtschaftliche und ökologische Miseren ausbreiten, setzt er sich nach einem deterministischen Muster fest. Schuld an Boko Haram ist also die Austrocknung des Tschadsees, auch, wenn der im relativ stabilen Nachbarland liegt. Das Trockenfallen eines Sees wiederum lässt sich dem Lieblingsgroßthema der Bundeskanzlerin zuschlagen, dem Klimawandel. Da sich das Klima immer und überall wandelt, passt der Begriff also ebenfalls immer und überall, auch, wenn es wie im Fall des Tschadsees sehr komplexe Ursachen gibt. Ein Phänomen (islamistischer Terror) fügt sich dann argumentativ in ein vorgeprägtes Muster, so, wie bei Göring-Eckardt Massenmigration das grüne Schema bestätigt (Fleisch essen ist schlecht).


Wie hängen nun gewalttätiger Islam in Nigeria und die wirtschaftliche Misere des Landes wirklich zusammen? Wer sich die Daten ansieht, erkennt sehr schnell, dass nicht der Wasserschwund eines Sees im Tschad etwas mit den Gewaltproblemen Nigerias zu tun hat, sondern die demographische Entwicklung. In Nigeria leben derzeit etwa 185 Millionen Menschen; seit 1990 verdoppelte sich die Bevölkerung fast. Gut die Hälfte der Nigerianer besteht aus Jugendlichen unter 15 Jahren. Die Bevölkerungsdichte des Landes beträgt 197,2 Einwohner pro Quadratkilometer – im Nachbarland Tschad sind es 0,1 Einwohner pro Quadratkilometer. Demographen gehen davon aus, dass Nigeria noch in diesem Jahrhundert die USA in der Bevölkerungsgröße überholen wird (dort leben derzeit 325 Millionen Menschen). Um die Zahl der Jobs zumindest gleichauf mit einem solch extremen Bevölkerungswachstum zu halten, bräuchte Nigeria ein Wirtschaftswachstum, das mehr als doppelt so hoch ausfallen müsste wie das von China und Südkorea in deren besten Zeiten. Nun ist der westafrikanische Staat allerdings kein Industrieland, sondern eine zwar ölreiche, aber auch von Korruption, Tribalismus und schlechter Bildung gepeinigte Nation. Das bevölkerungsreichste Land Afrikas kann als Musterbeispiel für den youth bulge dienen, den Überschuss vor allem schlecht gebildeter junger Männer ohne Chance auf wirtschaftlich aussichtsreiche Betätigung.

Warum entstehen dann aber keine christlichen Terrorarmeen in Nigeria? Die christliche Community ist dort neben dem vorherrschenden Islam durchaus präsent (wie übrigens auch im Tschad). Warum entsteht keine politische Bewegung, die es sich zum Ziel setzt, Korruption und unfähige Eliten zu bekämpfen? Diese Frage führt zu einer Antwort, weshalb Boko Haram Zulauf erhält. Erstens bietet deren Ideologie ein sehr einfaches Gerüst, an dem sich auch jeder junge Mann ohne Schulbildung festklammern kann: Der Westen ist Sünde, der Islam ist die Lösung – aber nur dann, wenn er als wortwörtliche Befolgung des Korans praktiziert wird. Und zweitens machen islamische Terrorarmeen weltweit jungen Männern das Angebot, Teil einer mächtigen Raub- und Vergewaltigungstruppe zu werden, legitimiert durch eine religiöse Ideologie, die sich auf dem Vormarsch befindet. Auf ganz ähnliche Weise rekrutierte der Islamische Staat muslimische Desperados aus dutzenden Ländern. Dort, wo die normale Ökonomie keine Grundlage findet, tritt die Gewaltökonomie an ihren Platz.
Hätte Merkel auf dem Katholikentag darüber geredet, dann wäre sie unweigerlich bei dem entscheidenden Punkt gelandet: Der Überschuss junger hoch aggressiver muslimischer Männer bildet einen perfekten Nährboden für islamistischen Terror. Und genau dieses Ferment, genau diesen Nährboden importiert sie mit ihrer Politik seit 2015 im großen Stil nach Deutschland. Der Zustrom junger Männer reicht zwar längst nicht aus, um die youth bulge in Afrika oder auch nur in Nigeria wenigstens zu mildern. Aber er genügt für den zügigen Ausbau jihadistischer Strukturen, wie sie schon in Frankreich, Belgien und Großbritannien existieren. Wer sich mit Einblicken in diese Entwicklung belasten will, dem sei Constantin Schreibers Buch “Inside Islam. Was in deutschen Moscheen gepredigt wird” empfohlen.
Merkel beschreibt das Problem nicht nur falsch. Ihre Politik ist ein erheblicher Teil des Problems.
Da kommen einem die Tränen.   Wendt

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