Neben der Fake History, etwa in Gestalt der Saga, türkische Gastarbeiter hätten Deutschland nach dem Krieg wieder aufgebaut,
gibt es das vergleichsweise wirksamere Instrument der
Gegenwartslegende. Sie biegen aktuelle Debatten so, dass sie in einen
bestimmten Deutungsrahmen passen. Ein schönes Beispiel lieferte Katrin Göring-Eckardt
mit der Behauptung, weltweite Flüchtlingsströme hätten irgendetwas mit
dem Sojaanbau für den Fleischkonsum der Deutschen zu tun:
„Viele
Fluchtbewegungen kommen deswegen zustande, weil wir so leben, wie wir
leben. Menschen fliehen auch, weil kein Wasser da ist, weil es Dürren
gibt, weil sie ihre eigenen Lebensmittel nicht mehr anbauen können, weil
sie das Soja für unsere Fleischproduktion anbauen.“
In
dieser Behauptung stecken zwei Topoi, die dem grüne Herzen teuer sind:
westliches Schuldgefühl, Agitation gegen Fleisch. Und sie erweist sich
schon nach dem kurzen Blick auf die Zahlen als purer Nonsens. Die zehn größten Sojaanbauländer der Welt
heißen USA, Brasilien, Argentinien, China, Indien, Paraguay, Kanada,
Ukraine, Bolivien und Uruguay; aus keinem der Länder strömen
Flüchtlinge. Umgekehrt spielt weder in Syrien, Afghanistan und den
diversen Herkunftsländern der Migranten, die nach Deutschland kommen,
Sojaanbau irgendeine Rolle.
Auf dem Katholikentag in Münster
versuchte sich Angela Merkel an einem ähnlichen Biegen und Brechen des
Faktischen: Sie dozierte auf der Bühne über den Zusammenhang, der nach
ihrer Meinung zwischen der Austrocknung des Tschadsees und der
Formierung der islamistischen Terrororganisation Boko Haram besteht. Im Wortlaut klang das so:
„Schaun
Sie sich einfach mal, wenn Sie’s nicht schon gemacht ham, vielleicht
haben’s hier ja auch alle gemacht, die Karte vom Tschadsee vor 40 Jahren
an, vor 20 Jahren an, von heute an. Da kommen Ihnen die Tränen. Da ist
ein ganzer See nicht mehr da. Da haben 100 Millionen Menschen gelebt.
Und es hat sich die Welt und niemand (…) richtig drum gekümmert. Und in
der Situation ist Boko Haram entstanden.“
Zunächst einmal
erhellt eine kurze Geschichte von Boko Haram die Lage. Die muslimische
Terrororganisation entstand 2002 im Norden Nigerias, also kurz nach dem
Anschlag al-Quaidas auf das World Trade Center. „Boko Haram“ bedeutet
„Bücher sind verboten“, freier übersetzt auch „westliche Bildung ist
verboten“. Die bewaffnete Truppe mit etwa 15 000 Mitgliedern ist Teil
der islamistischen Gewaltentwicklung seit 2001, die von al-Quaida über
die Al-Shabab-Milizen in Somalia und den IS bis zu der indonesischen
Terrororganisation Darul Islam reicht. Das Hauptgeschäft von Boko Haram
besteht in extrem gewalttätigen Überfällen auf Dörfer, Mord an Christen
wie an Muslimen, die sich entgegenstellen, und der Massenentführung von
Mädchen. Seit seiner Gründung tötete Boko Haram Zehntausende und
vertrieb etwa 2,3 Millionen Menschen. Ihr Hauptquartier wechselte seit
2002 einige Male, befand sich aber immer im Norden Nigerias.
Und
nun zum Tschadsee: Er liegt nicht in Nigeria, sondern, wie der Name
schon sagt, im Nachbarland Tschad. Er grenzt nur an eine nigerianische
Provinz. Der ehemals sechstgrößte See der Erde verlor seit den sechziger
Jahren 90 Prozent seiner Wasserfläche,
zum einen durch extreme Trockenheit, zum anderen durch steigende
Wasserentnahme aus dem Fluss, der ihn speist. Schon 1972 spaltete sich
der See durch die Austrocknung in ein Nord- und ein Südbecken. Dass der
ganze See, wie Merkel meint, „nicht mehr da“ ist, stimmt nicht.
Aber für das Land bedeutet die Schrumpfung des ehemals riesigen Sees
ein großes Problem. Trotzdem blieb das Land politisch halbwegs stabil.
Obwohl es zu den sieben ärmsten Ländern der Welt zählt und mit etwa 14
Millionen Einwohnern auch zu dem am dünnsten besiedelten, flohen in den
vergangenen Jahren Hunderttausende aus den Nachbarländern vor Gewalt in
den Tschad, darunter 280 000 aus dem Sudan und etwa 20 000 von Boko
Haram vertriebene Nigerianer. Kein Staat Afrikas beherbergt im
Verhältnis zu seiner angestammten Bevölkerung so viele Flüchtlinge. Wie
Merkel übrigens auf 100 Millionen Menschen in der unmittelbaren Nähe des
Tschadsees kommt, die dort einmal gelebt haben sollen, bleibt
angesichts der tatsächlichen Bevölkerungszahlen rätselhaft.
Dass
Tausende vor Boko Haram in das Land des austrocknenden Sees fliehen,
dessen große Wasserverluste außerdem in den siebziger Jahren stattfanden
– das allein lässt schon von Merkels Behauptung nichts übrig, der
austrocknende See im Nachbarland Nigerias sei irgendwie ursächlich für
das Entstehen der jihadistischen Terrorarmee im Jahr 2002. Nun war
Merkels Ausführung in Münster ein typischer Merkelismus: Sie sprach
nicht von einer direkten Ursache, sondern konstruiert einen vagen, nicht
näher erklärten Zusammenhang: „in der Situation ist Boko Haram entstanden.“
Den
eigentlichen Entstehungsgrund für Boko Haram und ähnlich gelagerte
Organisationen erwähnt sie gar nicht erst: den aggressiven Islam, der
seit dem Jahr 2000 vor allem dank der Finanzierung aus Saudi-Arabien
weltweit expandiert. Bei Merkel besitzt der militante Islamismus den
Status eines Naturereignisses: er ist nun mal da. In ihren Ausführungen
auf dem Kirchentag kamen die Begriffe Islam und islamistisch gar nicht
vor. Dort, wo sich wirtschaftliche und ökologische Miseren ausbreiten,
setzt er sich nach einem deterministischen Muster fest. Schuld an Boko
Haram ist also die Austrocknung des Tschadsees, auch, wenn der im
relativ stabilen Nachbarland liegt. Das Trockenfallen eines Sees
wiederum lässt sich dem Lieblingsgroßthema der Bundeskanzlerin
zuschlagen, dem Klimawandel. Da sich das Klima immer und überall
wandelt, passt der Begriff also ebenfalls immer und überall, auch, wenn
es wie im Fall des Tschadsees sehr komplexe Ursachen gibt. Ein Phänomen
(islamistischer Terror) fügt sich dann argumentativ in ein vorgeprägtes
Muster, so, wie bei Göring-Eckardt Massenmigration das grüne Schema
bestätigt (Fleisch essen ist schlecht).
Wie hängen nun
gewalttätiger Islam in Nigeria und die wirtschaftliche Misere des Landes
wirklich zusammen? Wer sich die Daten ansieht, erkennt sehr schnell,
dass nicht der Wasserschwund eines Sees im Tschad etwas mit den
Gewaltproblemen Nigerias zu tun hat, sondern die demographische
Entwicklung. In Nigeria leben derzeit etwa 185 Millionen Menschen; seit
1990 verdoppelte sich die Bevölkerung fast. Gut die Hälfte der
Nigerianer besteht aus Jugendlichen unter 15 Jahren. Die
Bevölkerungsdichte des Landes beträgt 197,2 Einwohner pro
Quadratkilometer – im Nachbarland Tschad sind es 0,1 Einwohner pro
Quadratkilometer. Demographen gehen davon aus, dass Nigeria noch in
diesem Jahrhundert die USA in der Bevölkerungsgröße überholen wird (dort
leben derzeit 325 Millionen Menschen). Um die Zahl der Jobs zumindest
gleichauf mit einem solch extremen Bevölkerungswachstum zu halten,
bräuchte Nigeria ein Wirtschaftswachstum, das mehr als doppelt so hoch
ausfallen müsste wie das von China und Südkorea in deren besten Zeiten.
Nun ist der westafrikanische Staat allerdings kein Industrieland,
sondern eine zwar ölreiche, aber auch von Korruption, Tribalismus und
schlechter Bildung gepeinigte Nation. Das bevölkerungsreichste Land
Afrikas kann als Musterbeispiel für den youth bulge dienen, den
Überschuss vor allem schlecht gebildeter junger Männer ohne Chance auf
wirtschaftlich aussichtsreiche Betätigung.
Warum entstehen dann
aber keine christlichen Terrorarmeen in Nigeria? Die christliche
Community ist dort neben dem vorherrschenden Islam durchaus präsent (wie
übrigens auch im Tschad). Warum entsteht keine politische Bewegung, die
es sich zum Ziel setzt, Korruption und unfähige Eliten zu bekämpfen?
Diese Frage führt zu einer Antwort, weshalb Boko Haram Zulauf erhält.
Erstens bietet deren Ideologie ein sehr einfaches Gerüst, an dem sich
auch jeder junge Mann ohne Schulbildung festklammern kann: Der Westen
ist Sünde, der Islam ist die Lösung – aber nur dann, wenn er als
wortwörtliche Befolgung des Korans praktiziert wird. Und zweitens machen
islamische Terrorarmeen weltweit jungen Männern das Angebot, Teil einer
mächtigen Raub- und Vergewaltigungstruppe zu werden, legitimiert durch
eine religiöse Ideologie, die sich auf dem Vormarsch befindet. Auf ganz
ähnliche Weise rekrutierte der Islamische Staat muslimische Desperados
aus dutzenden Ländern. Dort, wo die normale Ökonomie keine Grundlage
findet, tritt die Gewaltökonomie an ihren Platz.
Hätte Merkel auf
dem Katholikentag darüber geredet, dann wäre sie unweigerlich bei dem
entscheidenden Punkt gelandet: Der Überschuss junger hoch aggressiver
muslimischer Männer bildet einen perfekten Nährboden für islamistischen
Terror. Und genau dieses Ferment, genau diesen Nährboden importiert sie
mit ihrer Politik seit 2015 im großen Stil nach Deutschland. Der Zustrom
junger Männer reicht zwar längst nicht aus, um die youth bulge in
Afrika oder auch nur in Nigeria wenigstens zu mildern. Aber er genügt
für den zügigen Ausbau jihadistischer Strukturen, wie sie schon in
Frankreich, Belgien und Großbritannien existieren. Wer sich mit
Einblicken in diese Entwicklung belasten will, dem sei Constantin
Schreibers Buch “Inside Islam. Was in deutschen Moscheen gepredigt wird” empfohlen.
Merkel beschreibt das Problem nicht nur falsch. Ihre Politik ist ein erheblicher Teil des Problems.
Da kommen einem die Tränen. Wendt
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