Sonntag, 13. Mai 2018
Meine Generation
Wer sich für ein Studium an einer deutschen Hochschule entschließt, hat eine gewisse Erwartungshaltung. Wie man voraussetzt, dass ein Wiener Schnitzel aus Kalbfleisch besteht, dass es sich beim neuen Stephen King um eine spannende Horrorgeschichte und keinen kitschigen Softporno handelt und dass, wo schottischer Whisky draufsteht, kein osteuropäisch gepanschter Fusel drin ist – genauso kann man von einer Universität annehmen, es mit einem Ort der Wissenschaft zu tun zu haben. In Frankfurt an der Oder ist das anders.
Seit mehr als fünfhundert Jahren existiert hier die Viadrina-Universität. Im Jahr 1991 wurde die Bildungsstätte neu gegründet. Gesine Schwan, später Bewerberin um das Bundespräsidentenamt, war unter anderem Rektorin hier. Die Viadrina ist zwar keine klassische Volluniversität, man kann aber dennoch so bodenständige Fächer wie Betriebs- oder Volkswirtschaft, Jura oder Kulturwissenschaft studieren.
Doch in den nuller Jahren geriet die Viadrina in den Ruf, eher eine Zauber- denn eine Hochschule zu sein. Wissenschaftlich skurril anmutende Fächer wie Komplementärmedizin standen plötzlich auf dem Lehrplan und konnten als Kurse besucht werden. Wissenschaftliche Mitarbeiter und Professoren der Uni publizieren und lehren zu so obskuren Themen wie Ufos, dem Gralsmythos, astrologischer Ernährungsberatung und paranormalen Phänomenen. Ein Student verfasste gar eine Masterarbeit, in der er Belege über das Hellsehen anführte und sich mit Visionen von diversen Probanden befasste. Die Arbeit wurde ausdrücklich gelobt.
Seither wird die Viadrina-Universität von vielen nur noch als “Hogwarts an der Oder” bezeichnet. Weil sie mehr einer Zauberschule wie der in den Harry Potter-Romanen gleicht als einer seriösen Hochschule. Ein akademisches Wolkenkuckucksheim.
Doch hinter diesem offenbar singulären Phänomen steckt in Wahrheit viel mehr. Hogwarts liegt nicht nur an der Oder, Hogwarts ist überall. Es ist das Symptom einer Epoche, die sich dem geistigen Anything goes verschrieben hat. Der Esoterikboom der vergangenen Jahrzehnte ist nur eine Facette eines weit größeren Phänomens. Die Hogwartisierung hat nicht nur Eingang in renommierte Universitäten gehalten, sondern auch in unser Denken. Es drückt sich nicht nur in absurden Theorien über Wunderwasser, Auraheilung und Wünschelruten aus. Das sind lediglich die extremen Ausprägungen eines Zeitgeistes, der stets das Luftige dem Geerdeten vorzieht.
Nein, diese Weltanschauung drückt sich insbesondere aus in einem Zwang zum Positivdenken, einem endlosen Streben nach Glück und der Angst vor Konflikten. Wir wollen das schöne, gute Leben, nicht so sehr das wahre. Wenn es irgendwie geht, versuchen wir Widerstände zu vermeiden. Unser Leben richten wir ein wie die Villa Kunterbunt von Pippi Langstrumpf, eine Welt, in der wir tun und lassen können, was immer wir wollen. Wie sehen unsere Werte aus? Haben wir überhaupt noch welche? Woran glauben und vor allem – wie denken wir?
Man kann es so sagen: Wir haben zwar den Glauben an den einen Gott verloren, auch den Glauben an herkömmliche Religionen generell. Für unsere Generation gilt immer mehr: Wir glauben an alles Mögliche, nur nicht an Gott. Die Lücke, die das bei vielen hinterlässt, wird mit schwammigen Ersatzreligionen gefüllt. Unsere Ersatzreligionen heißen Esoterik, Fußball, Gesundheit, Ökologie, Apple, Social Media, um nur einige von vielen zu nennen. Statt jeden Sonntag in die Kirche pilgern viele von uns jeden Samstag ins Fußballstadion oder versammeln sich im Halbrund vor dem Livestream aus dem Silicon Valley, wenn Apple wieder ein neues iPad präsentiert.
Statt an Gott glauben wir viel lieber an Glück und Globuli. Das Erschreckende daran ist, dass immer mehr junge, gebildete und rationale Menschen an Hokuspokus glauben. Und dass jener Hokuspokus an Hochschulen wie eben der Viadrina einzieht, wo Hellsehen und Transkommunikation nicht als Parawissenschaften gehandelt, sondern mit akademischem Elan diskutiert werden. Im April 2011 hat die “Zeit” geschrieben: “Für den Studenten ist es [heute] schwer zu erkennen, dass sich sein Professor längst der Pseudowissenschaft verschrieben hat.”
Immer mehr Studenten bekommen also “Wissen” vermittelt, das in Wahrheit aller akademischen Grundlagen entbehrt. Man könnte daher, statt sich weiterzubilden, einfach auch ein Orakel befragen. Doch wer das Sprechen mit den Toten für eine den Natur- oder Geisteswissenschaften ebenbürtige Disziplin hält, sollte sich eher um einen Platz in Gryffindor bemühen, also jenem Haus der Zauberschule Hogwarts, in dem schon Harry Potter seine Ausbildung genossen hat. Oliver Jeges
„Glaube, dem die Tür versagt, / steigt als Aberglaub’ durchs Fenster. / Wenn die Götter ihr verjagt, / kommen die Gespenster.“ Emmanuel Geibel
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