Stationen

Samstag, 26. Mai 2018

Stille

Zu allen Präsidialsystemen gehört das Theatralische: Der Staatschef inszeniert sich, zeigt seine Tatkraft und Entschlossenheit. Wladimir Putin maßregelt öffentlich Oligarchen und Gouverneure, Donald Trump präsentiert im Fernsehen die Unterzeichnung eines jeden seiner Erlasse. Der Subtext lautet immer: Ich leite dieses Land, ich entscheide, ich sorge für Ordnung. In Deutschland ist das unbekannt. Zum Inkrafttreten eines Gesetzes nimmt die Kanzlerin so gut wie nie Stellung. Allenfalls sprechen die Vorsitzenden der betreffenden Ausschüsse oder ihre ebenso unbekannten Stellvertreter.
Das eine System setzt auf konkrete Verantwortlichkeit, das andere auf weitgehend anonyme Verfahren. Das eine stärkt das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierung, das andere in die Mitwirkung der Abgeordneten. Das eine betont den individuellen Charakter politischer Führung, das andere die Herrschaft des Kollektivs.
Lange schienen beide Systeme gleich leistungsfähig. Nun allerdings sind die Unterschiede nicht mehr zu übersehen. Im parlamentarischen Ausschußwesen diffundiert die persönliche Verantwortlichkeit der Minister. Niemand ist für nichts verantwortlich. So kommt Politik an ein Ende.
Passiert ist nichts
Deutlich wird das an der Unwilligkeit, selbst klar erkannte Mißstände abzustellen. Schon vor Jahren kritisierte der frühere Innenminister Thomas de Maizière (CDU) die innereuropäische Einwanderung in die Sozialsysteme, ebenso taten es Andrea Nahles (SPD) und die CSU. Passiert ist nichts. Die aktuelle Gesetzeslage, wonach auch Einwanderer, die lediglich ein oder zwei Stunden pro Tag arbeiten, in den vollen Genuß von Hartz-IV-Aufstockung, Kindergeld und sonstigen Leistungen kommen, gilt weiterhin.
Dabei fordert der Deutsche Städtetag immer und immer wieder, „geringfügig Beschäftigte“ von der großzügigen Sozialversorgung auszunehmen. Hinzu kommen, jenseits des legalen Mißbrauchs, die Schäden in Millionenhöhe, die kriminelle Vermieter und osteuropäische Banden mit Scheinarbeitsverträgen verursachen.
Laut Medienberichten soll sich inzwischen ein regelrechter Betrugs-Tourismus etabliert haben: Zu ihren Terminen auf deutschen Ämtern werden die Antragsteller per Bus gekarrt, mit Mehrfachidentitäten auch zu verschiedenen Sozialstellen an einem Tag. Von den „Erträgen“ erhalten sie ein paar hundert Euro; den Löwenanteil kassieren Hintermänner.
Blauäugige Bundesrepublik
Doch diesen Mißstand abstellen? Nicht in Deutschland. Selbst die marginale Korrektur eines Gesetzes scheint innerhalb einer Legislaturperiode nicht möglich, sofern EU oder Ausländer betroffen sind. Die „Ehe für alle“ wurde in wenigen Tagen durchgepeitscht; Gesetzeslücken mit EU-Bezug, die jedes Jahr Millionen Euro kosten, bleiben ungeschlossen.
Denn ebenso ist es beim Kindergeld für EU-Angehörige, die in Deutschland arbeiten, aber ihre Kinder in der Heimat belassen. Warum Kinder, die keinen Bezug zu Deutschland haben und hier keine Kosten verursachen, überhaupt vom deutschen Steuerzahler alimentiert werden müssen, weiß niemand. Über 400 Millionen Euro pro Jahr überweist die deutsche Regierung derzeit ins Ausland, wobei erhebliche Zweifel bestehen, ob alle der angegebenen Kinder überhaupt existieren. So plündern andere EU-Staaten mit Wissen und Willen der EU die hiesigen Sozialkassen.
Doch hier wie in anderen Fällen: Das Parlament tut nichts. Die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen durch Migranten unter falscher Identität ist ein Dauerproblem, ebenso ist es die Schummelei bei der Altersangabe. Dennoch wird, trotz hoher Mehrkosten für die Betreuung Minderjähriger, keine verpflichtende Altersfeststellung festgeschrieben. Jedes afrikanische Land nimmt bei der Einreise von Fremden Fingerabdrücke, nicht aber die Bundesrepublik. Blauäugig verzichtet sie auch auf Feststellung des mitgeführten Vermögens wie auf das Auslesen der Handys zur Identitätsüberprüfung.
Untätigkeit trotz Warnungen
Und nichts geschah beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Weit vor dem aktuellen Korruptionsskandal gab es zahlreiche Hinweise auf systemische Mängel, auf wohlwollend extensive Rechtsauslegung, schlampige Tatsachenfeststellung und korrupte Dolmetscher. Einige Außenstellen hatten auffallend hohe Anerkennungsquoten, es gab hausinterne Warnungen. Doch nicht einmal Disziplinarverfahren änderten den Stellenplan, die Verdächtigen blieben an ihren Plätzen.
Wie der Berliner Attentäter Anis Amri 14, andere Zuwanderer sogar mehr als 20 Identitäten erschleichen konnten, ist bis heute ungeklärt; ebenso die Posse um den als syrischer Flüchtling anerkannten Bundeswehrsoldaten Franco A. Keiner der Bamf-Chefs griff ein, die Politik versagte komplett. Dem staatlichen Kontrollverlust an der Grenze folgte der staatliche Kontrollverlust in den Amtsstuben. Und immer politisch verantwortlich: der Innenminister und die Kanzlerin.
Doch niemand trat zurück, niemand wurde gefeuert, kein straffes, betrugsfestes Verfahren eingeführt. Jahrelang schaute das Parlament weg, die Behörde wurstelt weiter. So wurde auch nach Monaten nicht einmal ein Prozent der zweifelhaften Asylbescheide überprüft. Während Trump oder Putin jedes Behördenversagen zum Thema machen und schon dadurch das Vertrauen der Bürger in die politische Führung stärken, steht die Bundesrepublik still.
Dieser Stillstand stellt nicht nur die Leistungsfähigkeit des Parlamentarismus in Frage; er erschüttert auch den Glauben an die „Legitimation durch Verfahren“. Wenn die Herren des Verfahrens dem Verfahren ausweichen, kommt auch der Luhmannsche Legitimationsprozeß an sein Ende. Seine Umkehrung beschreibt den aktuellen Zustand: Illegitimität durch Verfahrensverzicht.
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Dr. Nicolaus Fest ist Jurist und Journalist. Der frühere stellvertretende Chefredakteur der Bild am Sonntag trat in Berlin für die AfD zur Bundestagswahl an.



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