Wer dem positiven Denken huldigt, muss ganz schön viel verdrängen:
Ungerechtigkeit, Bösartigkeit, alles Schlimme. Dabei kann man sich den
Abgründen stellen und trotzdem lebensfroh sein.
Eine positive Lebenseinstellung hat nichts mit positivem Denken zu
tun. Daran hat mich kürzlich meine Tante Angela-Maria erinnert. Sie
betrachtet das Leben als wertvolle Sache, muss deswegen aber nicht Mord,
Totschlag und Naturkatastrophen positiv von sich wegdenken. Sie muss
die Dunkelheiten der Existenz nicht als „Chance“ sehen, nur um die Welt
zu mögen.
Auch vom Gesundheitswahn oder der Anbetung der Natur hält meine Tante
wenig, denn der Tod greift selbst nach dem gesündesten Menschen, und
auch im schönsten Wald herrscht das Gesetz von Fressen und
Gefressenwerden. Gewiss, die Natur bringt Schönheit hervor, aber auch
Zerfall, Krankheit und Desaster. Abgesehen von der Ungerechtigkeit des
Menschen, die unsere ganze Geschichte durchzieht.
Das alles muss man verdrängen, wenn man am positiven Denken festhält.
Wenn man meint, man könne ohne positives Denken kein lebensfroher
Mensch sein. Dann muss man systematisch am Abgründigen vorbeisehen und
darf sich selber auch nicht zu lange im Spiegel
anschauen. Keine Bösartigkeit, keine Verzweiflung oder Ohnmacht darf
sich breitmachen, sonst gilt man als Glücksversager, als tragischer
Schmied seines eigenen Elends.
Dabei wäre es etwas Positives, dem Negativen einen Stellenwert im
Leben einzuräumen. Nur wer die Ohnmacht zulässt und das Leiden kennt,
kann wirklich mitleiden und mitfühlen. Nur wer sich von der Wirklichkeit
erschüttern lässt, nur wer sich in acht zu nehmen wagt vor den eigenen
Schattenseiten, der flüchtet sich nicht in eine Traumwelt. Der sucht
nicht eine ideale Welt mit idealen Menschen, sondern der arbeitet sich
an der Wirklichkeit ab, die uns alle betrifft.
Und der weiß, dass die Wirklichkeit am Ende sehr eigensinnig ist,
dass aber gerade das ihren Reichtum und Reiz ausmacht. Oder mit den
Worten von Friedrich Dürrenmatt: „Die Welt ist eine Pulverfabrik, in der
das Rauchen nicht verboten ist.“
Giuseppe Gracia (50) ist Schriftsteller und Medienbeauftrager des
Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Dieser
Beitrag erschien zuerst im Schweizer "Blick".
Optimismus als einfältige, verharmlosende Sicht auf die Wirklichkeit war mir immer unheimlich. Optimismus als grundsätzlich bejahende und trotzende Haltung gegenüber dem Leben in einer Welt, die so ist wie sie ist, hat mir immer eingeleuchtet (und ich weiß mich bei dieser Unterscheidung im Einklang mit Bonhoeffer). Es ist sicher richtig, dass - wie Karl Popper sagte - pessimistische Intellektuelle gefährlich sind. Und im Gegensatz zum Optimismus sind beim Pessimismus beide Aspekte gefährlich: sowohl die Haltung wie auch die Einschätzung. Beide bewirken einen Nocebo-Effekt.
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