Stationen

Freitag, 29. Juni 2018

Bilder die bleiben

Der Hermeneutiker will einen Text verstehen, der Dekonstruktivist will ihn entlarven. Der eine behandelt einen Text wie ein aufmerksamer Gastgeber einen lieben Besucher, der andere wie ein Geheimdienstoffizier einen verdächtigen Ausländer.


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Ich gehöre der letzten Kohorte an, die ihre Kindheit noch in der Antike verbracht hat.


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"Je älter ich werde, desto unchristlicher finde ich mich. Es ist das Gegenteil von dem, das mit dem Alter eintreten sollte. Ist das ein Niedergang des inneren Niveaus, ist es im Gegenteil eine Reifung? Ich weiß nicht. Aber es ist sicher, daß ich mich mehr und mehr der vorchristlichen Weisheit nähere und daß die griechischen Tragödien in mir ein tieferes Echo erwecken als die Evangelien. Jerusalem entfernt sich zugunsten der heidnischen Welt, nicht nur von Athen. Ich verstehe sie nicht gut, ich fühle nur die Sache der Fatalität."
Cioran, Notizen, 19. September 1970


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Nett, uninspiriert, ungefährlich, ideen-, kontur- und kantenlos, ermüdend langweilig, ohne Führungsspieler und ohne jeden Willen zur Dominanz: Doch doch, die ehemals deutsche Nationalmannschaft ist schon ein gutes Abbild ihres Landes.

Fußball-WM, zum zweiten: Der Tagesspiegel trompetete am 17. Juni: "Der WM-Titel 2014 war das alleinige Verdienst einer multiethnischen Fußballmannschaft. Das Team ist der beste Beweis dafür, wie grotesk das Verlangen nach einer bewahrenswerten deutschen Identität ist." Tja, und wessen Verdienst ist der letzte Gruppenplatz in der Vorrunde?

Fußball-WM, zum dritten: "Kaum je in der Geschichte haben deutsche Journalisten die Gastgeber einer WM so schäbig behandelt wie jetzt Russland, nicht mal das obligatorische WM-Studio-Hauptquartier wollten sie im Feindesland errichten. Politpsychologische Abgründe eines alten deutschen Größenwahns, allenfalls vergleichbar mit polnischen Minderwertigkeitsbefindlichkeiten: Mainstream-Medien in beiden Ländern forderten vor der WM einen Boykott. Jetzt haben sie ihn endlich bekommen, kurz bevor das Turnier mit denen richtig losgeht, die dieses Fußballweltfest wirklich gemeinsam feiern wollen", kommentiert André F. Lichtschlag. ARD und ZDF wissen jetzt wahrscheinlich nicht, an welche Partien sie ihre vorproduzierten Propaganda-Reportagen über Putins Reich des Bösen pappen sollen. Sogar dass die Russen in St. Petersburg den höchsten Turm Europas gebaut haben – übrigens mit erheblicher deutscher Kollaboration –, fanden unsere Volksaufklärer gaaanz verwerflich und teilten das allen Fußballguckern mit, die nicht rechtzeitig weggezappt haben. Der Höchste ist schließlich genau so altweißmaskulnazgûlsexistischschlimm wie der Längste!



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Wo es Positionen wie die der Neonazis gibt, muss es auch das krasse Gegenteil davon geben. Das gebietet die politische Tektonik, auch wenn die insofern etwas schief ist, als die einen Extremisten sich überall zu Wort melden dürfen, die anderen nicht. Die es medienverstärkt können, haben einen Aufruf gestartet namens "Solidarität statt Heimat", also praktisch NPD seitenverkehrt, vielleicht sogar von denselben Leuten erfunden. Ähnlich sinnfrei wie der Titel – man muss zumindest sehr übelmeinend sein, um zwischen beide Termini kein und zu bekommen – ist die Begründung, und wer den noch mit Jobangaben versehenen Anfangsteil der Unterzeichnerliste studiert, sieht schnell, dass kaum einer dabei ist, der nicht auf Kosten des Steuerzahlers in irgendeiner staatsgesponserten Kultursimulationseinrichtung mit politischen Fingerfarben spielt oder in einer im Lande Hegels und Heideggers allen Ernstes immer noch als geisteswissenschaftlich bezeichneten Fakultät Theoriemüllhalden häuft; insofern bildet der Trupp von Schildbürgern mit Abitur ein lilliputaneskes Gegenstück zu den Unterzeichnern der "Gemeinsamen Erklärung 2018". Als Zeugnis eines kollektiven Dachschadens, der sich allein mit dem Durchschnitts-IQ der Unterzeichner nicht restlos wird erklären lassen, bleibt dieser Text gleichwohl festhaltenswert. Am besten gefällt mir darin die Passage: "...inmitten der beeindruckenden Kämpfe von Geflüchteten für ihr Recht auf ein gutes Leben", weil ich hier ja gelegentlich von solchen Kämpfen künde. Zusammen mit dem Hinweis auf die Erklärung bekam ich beispielsweise einen eindrucksvollen Vorfall aus Kassel zugeschickt: "Mann schüttet Hausmeister heißes Öl ins Gesicht". Mann, ganz klar, das heißt noch nicht so lange hier, verfolgt, traumatisiert, sensibel, reizbar. Hausmeister, noch klarer, das heißt Schäferhund, abgeschlossene Türen, strukturelle Gewalt, Heimat. Nun weiß der Gauch auch, wohin Solidarität führen kann.


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Apropos "beeindruckende Kämpfe": Ich habe jetzt den Kontakt zu der Witwe von Thomas K. hergestellt, der vor kurzem in Bergisch Gladbach von einem neunzehnjährigen Migranten totgeschlagen wurde (siehe Acta diurna vom 10., 12. und 15. Juni). Bei der Versteigerung des Bildes von Bernd Zeller sind 4300 Euro zusammengekommen, da der Meistbietende auf sein Ersteigertes verzichtete, den Betrag trotzdem spendet und das Bild an den Zweitmeistbietenden geht. In den nächsten Tagen bekomme ich die Bankverbindung der Anwältin und werde sie all denjenigen schicken, die mir geschrieben haben, dass sie den Hinterbliebenen – Thomas K. hinterlässt zwei minderjährige Kinder – etwas spenden wollen.


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Und nochmals apropos: Die "Gemeinsame Erklärung 2018" wird im Oktober im Petitionsausschuss des Bundestages behandelt. Vera Lengsfeld wird vor dem Ausschuss sprechen. Mit der Petition 2018 fordern Bürger vom Parlament die Einsetzung einer Kommission, die Vorschläge zu drei Punkten ausarbeiten soll:

• Ordnung der Migration an der Grenze, um das Asylrecht für tatsächlich politisch Verfolgte zu erhalten, aber ein Ende der Vermischung von Asylrecht und Einwanderung, um die illegale Migration zu beenden; Schaffung eines pragmatischen Einwanderungsrechts nach australischem beziehungsweise kanadischem Vorbild;
• Überwindung des Kontrollverlusts im Inneren, Klärung der Identität der hier Angekommenen, Abschiebung der abgelehnte Asylbewerber, islamistischen Gefährder etc.
• Hilfe für diejenigen, die am dringendsten Hilfe brauchen, Frauen, Kinder, Alte, Kranke, generell diejenigen, die keine 10 000 Dollar für Schlepper zahlen können. Mit dem Geld, das in Deutschland für einen Migranten ausgegeben wird –  der mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit weder politisch verfolgt wird noch aus einem Kriegsgebiet kommt – lässt sich vor Ort Unterstützung für mindestens fünfzig Menschen organisieren.

Im Idealfall kann die Kommission ihre Arbeit aufnehmen, wenn der Hauptfluchtgrund im Kanzleramt gerade beseitigt worden ist.


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Es gebe in Wien keine Kaffeehausmusik mehr, bedauert der Portier im "Sacher", der es wissen muss; es bestünde einfach keine Nachfrage.


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"In den Troerinnen sagt Hekube, daß Troja untergehen müßte, weil es zu glücklich sei. Das war die antike Auffassung. Herakles wird bestraft, weil er bei allen seinen Arbeiten Erfolg hatte (...)
Wenn ich manchmal an diese den griechischen Tragödien gemeinsame Vision denke, kann ich mich nicht des Gedankens enthalten, daß diese abendländische Welt, belastet von namenlosen Reichtümern, zusammengesetzt aus mißvergnügten Genießern, absurderweise unzufrieden mit ihrem Los, das Schicksal von Troja haben wird, weil die Götter eifersüchtig sind".
Cioran, Notizen, 24. September 1970


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Netzfund, per Mail bei mir gestrandet:

 


MK am 28. 6. 2018

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