Am Nachmittag des 12. Juni stellte sich die
Unionsfraktion in dem Streit um die Frage der Zurückweisungen von
Migranten an der deutschen Grenze mit großer Mehrheit gegen Angela
Merkel und auf die Seite Horst Seehofers.
Kein Abgeordneter, der sich zu Wort meldete, verteidigte nach Berichten
von Sitzungsteilnehmern Merkel, die kurz zuvor noch versucht hatte, die
Vorstellung von Seehofers so genanntem Masterplan zu stoppen. Merkel
hatte sich vor allem strikt gegen eine Zurückweisung von Migranten
ausgesprochen, die schon in anderen EU-Länder in dem EURODAC-System
registriert wurden.
Für diese Doktrin der um jeden Preis offen zu
haltenden Grenzen findet sie nicht nur in der Unionsfraktion keine
Unterstützer mehr. Am Abend stellten sich auch die
CDU-Ministerpräsidenten Rainer Haseloff (Sachsen-Anhalt) und Michael
Kretschmer (Sachsen) offen an Seehofers Seite.
Die Mitglieder der
Unions-Bundestagsfraktion verzichteten auf eine Abstimmung, obwohl es
eine entsprechende Forderung gab. Das soll Merkel die Gelegenheit
geben, bis zum Ende der Woche gesichtswahrend auf Seehofers Kurs
einzuschwenken. Wendt
Mit anderen Worten, man hat nicht vor, eine Palastrevolution zu inszenieren, weil es einfacher ist, zuzusehen, wie Merkel sich eigenhändig immer mehr ausbootet.
Verglichen mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion müßte man eine
preußische Kadettenanstalt wohl als diskutierfreudigen Hort gelebter
Gehorsamsverweigerung beschreiben. Offener Widerspruch gegen die Oberen,
ob in Gestalt von Kanzlerin Angela Merkel oder Fraktionschef Volker
Kauder, gilt nämlich unter den Schwarzen im Parlament als eher
unschicklich. Um so erstaunlicher, wenn er doch mal vorkommt. So wie am
gestrigen Dienstag.
Eigentlich stand der „Masterplan für Migration“ von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU)
gar nicht mehr auf der Tagesordnung der Fraktion. Es habe schließlich
noch keine Einigung gegeben, argumentierte Fraktionschef Kauder (CDU).
Die Direktive: Erst müssen Merkel und Seehofer ihren Streit um die
Frage, ob Asyl begehrende Personen an der deutschen Grenze abgewiesen
werden können, beilegen, dann kann das fertige Produkt besprochen,
bewundert und beklatscht werden. Solange der Kuchen redet, haben die
Krümel zu schweigen. Logisch.
Kaum Zustimmung für Merkel
Doch die „Krümel“ begehrten diesmal auf und malten das Szenario einer
Kampfabstimmung – pro Merkel oder pro Seehofer – an die Wand. Als der
Innenminister bekräftigte, seinen Plan werde es nur ganz oder gar nicht
und auf keinen Fall mit einem faulen Kompromiß verwässert geben, da
erhielt er viel Applaus. Etwa Dreiviertel der Anwesenden hätten ihm
zugestimmt, heißt es. Und nur sehr wenige Hände rührten sich, als Merkel
entgegenhielt, hier ginge es um eine Abwägung zwischen europäischem und
nationalem Recht.
Merkel habe ziemlich konsterniert gewirkt, daß sich nicht nur
CSU-Leute, sondern auch zahlreiche Christdemokraten auf die Seite
Seehofers geschlagen hätten, berichtet ein Teilnehmer. „Die Alte hat
nichts kapiert!“, resümiert der CDU-Abgeordnete augenrollend. „Sie
beschwerte sich dann noch, daß alle sie nur kritisiert hätten, anstatt
sie für ihren Türkei-Deal zu loben.“
CSU wegen Wahl unter Druck
Nach rund anderthalb Stunden wurde das Thema dann vertagt. Zumindest
in der Fraktion. Warum die Situation so verfahren ist? Gibt Merkel nach,
käme das dem Eingeständnis gleich, daß ihre gesamte auf europäische
„Gemeinsamkeit“ zielende Asylpolitik gescheitert ist. Andererseits kann
auch der Innenminister nicht einen seiner berüchtigten Ausfallschritte
(„Drehhofer“) machen: Denn die bayerische Landtagswahl steht vor der
Tür, und das setzt vor allem die Christsozialen unter maximalen Druck.
Jeder faule Kompromiß könnte Stimmen kosten. Sicherlich: eine
Merkel-Dämmerung wurde schon häufiger herbeigeschrieben – und blieb dann
doch aus. Aber ausbleibender Applaus für das Leittier ist für
Unionsverhältnisse schon etwas, das man anderswo als Revolte beschreiben
würde. JF
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