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Donnerstag, 26. Dezember 2019

Botschaft in Bildern



Die Szene ist leicht zu deuten: Man sieht die Heilige Familie, Joseph, Maria, das Kind, vielleicht auf der Flucht nach Ägypten vor dem Anschlag des Herodes oder – wahrscheinlicher – auf dem Rückweg. Aber der zweite Blick irritiert. Denn Maria und das Kind sitzen auf einem Pferd, und Joseph, der es am Halfter führt, trägt einen Harnisch, dazu einen eleganten Rock und jene Schuhe mit überlanger Spitze, die an den Höfen des Mittelalters zeitweise Mode waren.
Er wendet seinen Blick zurück auf Frau und Kind, doch seine Linke hält eine Waffe, auf Grund der Länge vielleicht ein Schwert oder eine Lanze mit Wimpel. Zu diesem Aufzug paßt, daß rechts eine zinnengekrönte Burg zu sehen ist, das Tor geöffnet, um die drei aufzunehmen. Diese ungewöhnliche Fassung eines Teils der Weihnachtsgeschichte findet sich auf dem Taufstein der Kirche in Grötlingbo, einem kleinen Flecken etwa fünfzig Kilometer südlich von Visby, der Hauptstadt Gotlands.

In der Vergangenheit war Grötlingbo einmal ein bedeutender Ort. Sein prächtiges Gotteshaus galt als „Kathedrale Südgotlands“. Es hat sich erhalten, obwohl es heute fast einsam daliegt.
Das gilt für viele der mittelalterlichen Kirchen Gotlands; immerhin fast einhundert auf einer Fläche von knapp 3.000 Quadratkilometern. Sie entstanden zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert, als Gotland praktisch ein unabhängiges Gemeinwesen war, das keinen Adel kannte, sondern von Kaufherren und einer mächtigen Freibauernschaft beherrscht wurde. Die Wohlhabenden errichteten die prächtigen Kirchen damals nicht allein zum Ruhme Gottes*, sondern auch um ihr eigenes Prestige zu mehren.
Für die Menschen des Mittelalters war das Bild Josephs als Ritter nicht ungewöhnlich. Schließlich stammte er nach biblischer Überlieferung von König David ab und mußte mithin ein vornehmer Mann gewesen sein, für den nur ein Pferd und keineswegs der Esel des armen Mannes als Reittier in Frage kam. Natürlich konnte er auch nicht im einfachen Haus eines Zimmermanns leben, sondern mußte in Nazareth eine Burg haben.

Solchen Vorstellungen entsprechend zeigt ein zweites Bild des Taufsteins von Grötlingbo die Anbetung der Heiligen Drei Könige mit Maria, die samt Kind auf einem Thron sitzt. Dem nähern sich respektvoll die gekrönten Würdenträger in reichen Gewändern, die nicht Gold, Weihrauch und Myrrhe bringen, sondern ein Prunkgefäß und Insignien des mittelalterlichen Herrschers: Reichsapfel und Ring.
Die Heiligen Drei Könige waren ein Lieblingsthema Sighrafs, der den Taufstein in Grötlingbo geschaffen hat und der zu den „Meistern von Gotland“ gehörte, die für ihre Steinmetzarbeiten berühmt waren. Sighrafs Werke entstanden zwischen 1170 und 1215 und finden sich im ganzen Ostseeraum. Auch auf Bornholm, wo in der Kirche von Aakirkeby ein weiterer Taufstein steht, dessen Runeninschrift übersetzt lautet: „Mich hat Sighraf gemacht. Schaut her.“ Daran wird deutlich, daß Sighraf kein einfacher Handwerker war. Vielleicht hatte er schon etwas vom Selbstbewußtsein des modernen Künstlers. Sicher war er in der Welt herumgekommen.

Visby erhielt im Mittelalter den Beinamen „Regina Maris“ – „Königin des Meeres“, und seine Handelsverbindungen reichten von Gotland bis ins Kiewer Reich und nach Byzanz. Entsprechende Einflüsse merkt man auch Sighrafs Arbeiten an. Der majestätisch-starre, fast maskenhafte Gesichtsausdruck der Muttergottes spricht für Vorbilder aus dem ostkirchlichen oder orientalischen Raum.
Aber gleichzeitig hat Sighraf mit großer Selbstverständlichkeit die christliche Botschaft in seine Gegenwart und die Vorstellungen seiner Mitmenschen übersetzt. Was nicht ungewöhnlich war und dem Ziel entsprach, die christliche Lehre der Gemeinde dadurch nahezubringen, daß man sie nicht nur in einer Sprache, sondern auch in Zeichen ausdrückte, die sie verstehen konnte. Das Verfahren nennt man heute hochtrabend „Enkulturation“.** Deren Spannweite war im Mittelalter erheblich. Sie reichte von der Umwidmung heidnischer Feiertage und heiliger Plätze über die Darbietung der Frohen Botschaft als sächsischer Heldengesang – im Heliand – bis zur Aufnahme von uralten Bildern des Streits zwischen Gut und Böse in den Drachenkampfmotiven.

Aber es ging auch um den prächtigen Wappenschild, der Gott verliehen wurde, die Darstellung des Gekreuzigten im Braunschweiger Dom, die ihn in stoischer Haltung zeigt, angetan mit Purpur, den Schwertgurt um die Hüfte, oder um jene merkwürdige Titulatur Christi, die die aller irdischen Herren überbot: „Der allerdurchlauchtigste Fürst und Herr, gekrönter Kaiser der himmlischen Heerscharen, erwählter König zu Zion und des ganzen Erdbodens, Churfürst der Wahrheit, Erzherzog der Ehren, Herzog des Lebens, Markgraf zu Jerusalem, Burggraf in Galiläa, Fürst des Friedens, Graf zu Bethlehem, Baron zu Nazareth, Ritter der höllischen Pforte“.
Wenn das den Heutigen nicht direkt anstößig erscheint, dann doch fremd. Nur dürfte die Fremdheit kaum größer sein als die, die uns am Heiligabend oder den Weihnachtstagen im Gottesdienst erwartet. Denn da wird es in der Regel nicht um uns gehen, sondern um die Anderen, die Fernen, die Armen und Gemobbten. Für die Bauern von Solentiname oder die Bewohner des Flüchtlingsheims mag Gott Mensch geworden sein. Aber nicht für uns.
Der Gedanke gehört mittlerweile so selbstverständlich zum Inhalt von Predigt, Fürbitte und Kollektenaufruf wie die Kritik an Festtagstrubel und Konsumrausch oder der mangelnden Spendenbereitschaft. Was die Sache nicht besser macht. Die Sache, das ist die Entschlossenheit, mit der an der Gemeinde vorbeigeredet wird, sei es aus Gewohnheit oder Gedankenlosigkeit oder pfäffischer Arroganz.
Auch das erklärt etwas vom Bedeutungsverlust der Kirche in unserer Ersten, abendländischen, weißen Welt, für die das Weihnachtsevangelium offenbar keine Geltung haben soll, obwohl es doch ausdrücklich an alle gerichtet ist, die es hören wollen: „Euch ist heute der Heiland geboren!“   Karlheinz Weißmann

*Sie errichteten die prächtigen Kirchen damals nicht nur um ihr eigenes Prestige zu mehren, sondern auch zum Ruhme Gottes.
**Bereits die alten Römer begegneten den Göttern anderer Völker mit Achtung, was sich auch darin äußerte, dass sie diese Götter durch exoratio auf ihre Seite zu ziehen versuchten. Diese respektvolle Exoratio implizierte auch, dass, wie bei den Römern üblich, keine radikalen Brüche erfolgten, sondern versucht wurde, an alte Traditionen anzuknüpfen, oder diese zumindest als Ritual zu erhalten und in einen ehrerbietigen Kontext zu betten. Wenn man die Flamme nicht am Leben erhalten konnte, bewahrte man wenigstens die Asche auf (die Gesänge der Salier waren so archaisch, dass sie selber nicht mehr deren Worte verstanden). Die Asche nahm auf diese Weise nie Überhand (zumindest solange das römische Reich nicht dem Untergang geweiht war). Die Praxis der "Eingemeindung" bereits vorhandener Traditionen vor Ort geht auf die Gens Anicia zurück, besonders auf Gregor den Großen. Joseph Ratzinger aktualisierte unser zeitgenössisches Verständnis für diesen Vorgang, indem er den Begriff des "logos spermaticos" einführte, womit er die christlichen Elemente in den nichtchristlichen Religionen bezeichnete.

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