Stationen

Montag, 16. Dezember 2019

Florentinische Frömmigkeit


Dieses Bild ist eines der ersten Beispiele für  tabula quadrata et sine civoriis, wie Brunelleschi empfahl. Sine civoriis bedeutet ohne die vorher üblichen rigiden inneren Unterteilungen in ikonische Bildsektoren mit meist vergoldetem Hintergrund, mit der Heilige aus unterschiedlichen Epochen zuvor nebeneinander gestellt wurden, um als spirituelle Bezugspunkte in Beziehung gesetzt zu werden.
Die einstige Einteilung in Sektoren klingt auf diesem Bild durch die Komposition wie ein Echo als bewährte Struktur nach, an die gezielt angeknüpft wird. Aber die Figuren, die in 4 verschiedenen Zeiten lebten, befinden sich hier im Gespräch und sind nicht durch die Zeit bzw. durch Unterteilungen der Darstellung voneinander getrennt, weil nicht die Zeit als Fundament des Geschehens angenommen wird, sondern die Ewigkeit: wie der Schlussstein der Zeitsäulen oder wie der Fluchtpunkt in der Perspektive. Gleich"zeitig" befinden sie sich aber in der Gegenwart. In der Gegenwart des Betrachters, damals wie heute, denn ihre Darstellung ist bei aller Symabolik realistisch, wie die von Menschen wie Du und ich.

Ganz links Franz von Assisi (1226 verstorben), der italienische Nationalheilige (der in Deutschland dem drachentötenden Heiligen Michael entspricht), rechts neben ihm Johannes der Täufer, der, wie bekannt, noch bevor Jesus (den wir in dieser überzeitlichen Darstellung in der Bildmitte als Frucht der mediterranen Magna Mater sehen) gekreuzigt wurde das Zeitliche verließ und der oberste Schutzpatron von Florenz ist (also das, was in Würzburg und Heilbronn bzw. in ganz Franken der Kilian ist und so, wie in Würzburg im Sommer immer das Kilianifest gefeiert wird, in Florenz Ende Juni immer als San Giovanni Kirchweih gefeiert wird) und hier im asketischen Diogeneshabitus auftritt, ganz rechts Santa Lucia (um 300 verstorben), die in ganz Italien für Licht (lux bzw. luce!), Aufklärung, Augen, Wahrnehmung, Einsicht etc. zuständig ist (und auch in Dantes Hauptwerk eine der vier maßgebenden Frauen ist) und links von ihr San Zanobi (um 400 verstorben), der florentinische Lokalheilige, also das, was in Würzburg der Heilige Burkhard ist.

Domenico Venezianos Darstellung gegenwärtiger Ewigkeit befand sich ursprünglich über einer Predella, die aus 5 einzelnen Sockelbildern bestand. Auf diesem nicht-zeitlosen Sockel befanden sich Einzeldarstellungen der Heiligen, auf denen sie in ihrer Zeit als Beispiele christlicher Bewährung dargestellt wurden. In christlicher Sicht ist "die Zeit" - also das irdische Leben - ja nur eine Art schnell vorübergehendes Bewährungsexil der Seele, das im Vergleich zur Ewigkeit nur so lange dauert wie die Flugphase der Exocoetidae. "Das Leben ist", sagte ich immer, damals in den 80-er Jahren, als man noch eine Menge Telefonmünzen brauchte, um Ferngespräche zu führen, "wie ein Ferngespräch, bei dem man ständig die Groschen runterrasseln hört". Ich meinte damit nicht nur, dass lebenswertes Leben nur ein einsichtiges Leben ist, sondern dass jede Sekunde genossen werden muss, weil die Zeit uns wie Sand durch die Finger rinnt und jede Sekunde, während sie verschwindet, Einblick in die Schönheit gewährt. Diese Schönheit gibt uns die Kraft, um den irdischen Schmerz zu ertragen.

In der Mitte der Predella sehen wir - genau wie auf der Darstellung der Ewigkeit - wieder Maria, das einzige nicht von Erbsünde belastete menschliche Wesen (nach Ansicht der katholischen Tüftler geistlicher Zusammenhänge ovviamente). Sie soll unser aller Adoptivmutter sein, auch allen Müttern als mütterliche Trostfigur dienen, denn die Wehen der Mater Dolorosa, potenziert durch die awareness des von ihrem Sohn auf sich genommenen Schmerzes, sind als geballte Unschuld und Dolor Magnus eine Quelle großer Kraft. Eine Art mediterraner Fusionsreaktor tröstlicher Energien. Die Magna Mater Dolorosa, die die Mittlerin zwischen der Ewigkeit und uns ist (und daher in der Mitte des zuvor beschriebenen Bildes) hat den unmittelbarsten Einblick in die Schönheit. Als Quasidirektverbindung fungiert Gabriel.



Ganz links wiederum muss man sich die Tafel mit dem Heiligen Franz vorstellen, dessen Spiegelneuronen die  Bildung von Wundmalen bewirkt.


Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass unsere Angewohnheit, Bilder der Reihenfolge nach von links nach rechts, wie ein Comic strip zu betrachten, mit der Gewohnheit von Europäern, die lesen und schreiben gelernt haben, zusammenhängt. Diese Bilder richteten sich aber auch, ja sogar besonders, an Menschen, die Analphabethen waren! Die Zentralität Marias ist sicher gewollt, aber rechts und links ist bei dieser Anordnung wahrscheinlich bedeutungslos.
Auch muss Johannes nicht als Mittler zwischen Franz und Maria gesehen werden.


 Und Zenobius erst recht nicht als Mittler zwischen Lucia und Maria. Er ist ganz einfach der fromme "Zanobi", dem Wunderheilungen nachgesagt wurden (auch in unserer Zeit gibt ja der Wunderglaube vielen Leidenden Halt, die mit Bussen nach Lourdes fahren; wieviel mehr, als man noch unbefangen glauben konnte!). Botticelli stellte die mit Zenobius verbundenen Legenden in einem Gemäldezyklus ausführlich dar.



Und ganz rechts sehen wir Lucia, die Heilige, die in der Kirche zuhause ist, in der diese Altarbilder ursprünglich standen (die Magnoli waren die Nachkommen von Magnolo, dem Sohn von Uguccione della Pressa, der die Kirche bauen ließ; nach ihnen ist auch die Costa dei Magnoli benannt, der Berghang, an dessen Fuß die Kirche steht bzw. die Steige gleichen Namens, die hinauf zur Festung Belveder führt und entlang deren vermutlich einst die Wohnungen der Magnoli standen).



Ob die Schweden aus Rücksicht auf die Mosleme wohl das Luciafest - diese Verbindung zwischen germanischen Wintersonnenwenderiten und süditalienischen Traditionen - verbieten werden? Wohl eher nicht, denn in Schweden ist man mittlerweile durch Schaden klug geworden, wenn auch viel zu spät.



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