Ich habe es gleich zum Schatz gesagt, dass das keine gute Idee ist,
wenn Dörte ihren Sohn bei uns parkt. Erstens kann ich Dörte nicht
leiden, zweitens kann ich Kinder nicht leiden und drittens kann ich
Dörtes Sohn Claas-Klaus nicht leiden, weil er einen bescheuerten Namen
hat und viertens kann ich Dörtes Erziehungsstil des, wie sie sagt,
„wertschätzenden Respekts“, nicht ab und fünftes ist mir mein Samstag
heilig und sechstens überhaupt! Aber der Schatz meinte, dass das doch
nur für zwei Stunden wäre, bis Dörte ihre Verabredung hinter sich
gebracht habe, und da würde Claas-Klaus nur stören und sie hätte am
Samstag niemanden, und wenn das einmal im Jahr wäre, dann solle ich mich
gefälligst nicht wie ein alter Idiot anstellen und dass es mich nicht
umbrächte, mal zwei Stunden mit einem Siebenjährigen zu spielen.
„Mich bringt es nicht um, aber vielleicht bringe ich das Blag um“,
habe ich gesagt, aber es hat nichts genutzt. Wenn sich der Schatz etwas
in den Dickkopf gesetzt hat, dann hilft alles nichts. Es ging auch gut
los, Dörte kam eine halbe Stunde früher als ausgemacht und die Damen
quakten über dies und das, während Claas-Klaus zuerst nasebohrend dabei
stand und sich dann mit immer leuchtender werdenden Augen mein Set von
Küchenmessern betrachtete. In dunkler Vorahnung fragte ich Claas-Klaus,
ob er vielleicht Lust hätte, Play-Station zu spielen, aber bevor mir der
Zwerg eine Antwort geben konnte, fuhr Dörte dazwischen: „Claas-Klaus
spielt so etwas nicht. Wir halten nichts von elektronischen Spielsachen.
Die verblöden die Kinder nur. Also bitte nicht!“ Ich wollte schon
fragen, ob es bei Dörte zu Hause jede Menge elektronischer Spielsachen
gegeben hätte, aber der Schatz funkelte mich schweigend an, weil sie
mich kennt, und da habe ich geschwiegen. Ich war sehr tapfer. Und nahm
mir insgeheim vor, Claas-Klaus doch an die Playstation zu lassen –
einfach, um Dörte eins auszuwischen. „Wir achten darauf, Dörte“, fuhr
mir der Schatz in meinen schönen Plan hinein, während ich mit einem
Küchentuch Claas-Klaus hinterher lief, der seinen Popel an den
Kühlschrank geschmiert hatte. „Wie sieht es mit Fernsehen aus?“, wollte
ich von Dörte wissen und sie ließ mich wissen, dass Claas-Klaus, dieses
bemitleidenswerte Kind mit einem Technik-Umfeld der 70er Jahre, nur
sonntags eine Stunde fernsehen dürfte. Aber irgendein Naturfilm wäre
okay. Damit schieden die Avengers und Herr der Ringe aus, auch, wenn da
manchmal Natur drin vorkommt.
Schließlich machte sich Dörte auf den Weg, und wir waren mit
Claus-Klaas alleine. „Magst Du was spielen? „Mensch ärgere Dich nicht“
kennst Du bestimmt. Wollen wir das spielen?“, schlug der Schatz dem Kind
vor. „Mhmm“, brummte Claas-Klaus, und meine Erklärung, dass ich sehr
dringend noch leider einen extrem wichtigen Artikel schreiben müsste und
nicht mitmachen könnte, hat der Schatz mit einer sehr energischen
Nennung meines Vornamens zunichte gemacht.
Und so sitzen wir nun zu dritt vor einem
Mensch-ärgere-dich-nicht-Brett, und der Schatz packt die Spielfiguren
aus, was Claas-Klaus mit einem „die sind ja aus Plastik“ sachlich
richtig kommentiert. Ich hasse Mensch-ärgere-dich-nicht. Ich finde, es
ist das langweiligste Spiel der Welt und erinnert mich an endlose
verregnete Nachmittage, an denen ich diesen Klassiker für Doofe mit
meinen Großeltern und meiner kleineren Schwester spielen musste, weil
das ihrem Intelligenzquotienten angemessen war. Würfeln kriegt sogar ein
Einbeiniger hin und man muss auch nur bis Sechs zählen können. Das kann
jeder, der sich die Schuhe mit Klettverschluss zumacht.
„Du kennst die Spielregeln?“, fragt der Schatz den Claas-Klaus
vorsichtshalber ab, und der Claas-Klaus nickt, stellt seine Figürchen
auf („Ich will Rot. Ich nehme immer Rot“, hat er verkündet und mir die
Figuren weggenommen, obwohl ich seit meiner Geburt Rot nehme, aber er
ist ja der Gast und ich nehme eben Blau) und würfelt. Einen Einser. Er
setzt eine Figur auf das erste Feld. „Das geht nicht“, erhebe ich
Einspruch, „nur mit einem Sechser geht es ´raus!“ Claas-Klaus schaut
mich an, als wäre ich ein fliegendes Schwein. „Wir spielen das so, dass
die Kinder immer ´raus können, nur die Erwachsenen müssen eine Sechs
würfeln“, erklärt er die kindgerechte Regel. Und ich bin derart
verblüfft, dass ich gar nicht auf die Idee komme, nachzufragen, wer
„die“ sind, die so eine bescheuerte Regel einführen. Aber gut. Er ist
der Gast und zieht munter los. Der Schatz hat gleich eine Sechs und
zieht ebenfalls nach draußen. Bei mir dauert es drei langweilige Runden,
bis der Sechser fällt und ich ziehe ebenfalls eine Figur aufs Feld.
Prima: Eine Vier trennt mich von Claas-Klaus Spielfigur, die just vier
Felder vor mir sitzt. Ich schüttle den Würfel in der hohlen rechten Hand
und hoffentlich... Da! Die Vier. Ich ziehe zu Claas-Klaus Figürchen und
will sie zurück in sein Häuschen stellen, als Claas-Klaus mich fragt,
was ich da mache.
„Ich habe Dich vom Feld geschlagen“, erkläre ich ihm regelkonform und
Claas-Klaus sagt: „Nein. Wenn Du auf ein Feld kommst, auf dem ein Kind
sitzt, musst Du erst eine Sechs würfeln, bevor Du die Figur wegnehmen
kannst.“ „Das habe ich ja noch nie gehört“, protestiere ich, „und ich
spiele dieses Spiel, seit Willy Brandt Kanzler war.“ „Mama und ich
spielen das immer so“, gibt der Classenklaus zurück, und ich sehe vor
meinem geistigen Auge Dörte mit meinen Händen um ihren dünnen Hals. „Das
sind die Kinderregeln“ führt der Classenklaus weiter aus, „weil es
sonst unfair ist!“ „So, isses das?“, knurre ich den Zwerg an, „und warum
ist es unfair?“ „Weil sich Kinder schneller als Erwachsene ärgern“,
erklärt Claas-Klaus die seltsame Logik seiner Mutter, „und so ist es
fairer und wertschätzender“. „Fairer und wertschätzender“, echoe ich,
während der Schatz ein Lachen unterdrückt. Sie kennt mich. Spielen ist
Krieg. Da gibt es keine fairen und wertschätzenden Regeln. Keine
Gefangenen. Es geht ums Gewinnen und Verlieren. Es geht um Ruhm und Ehre
und alles. „Wie oft darf ich würfeln?“, frage ich den Spielemeister.
„Ein Mal“, gibt er zurück. „Ein Mal? Das ist nichts!“, beschwere ich
mich. „Ein Mal“, bekräftigt der Zwerg, und ich würfle eine Sechs und
stelle mit zufriedenem Gesichtsausdruck seine Figur zurück ins rote
Häuschen. Claas-Klaus schluckt hörbar, kommt aber sowieso gleich wieder
raus. Er muss ja keine Sechs würfeln.
Der Schatz zieht mit seiner grünen Spielfigur an ihm vorbei, er
würfelt eine Drei und schlägt sie vom Feld. „Ja!“, ruft er und ballt die
Faust, dann lacht er, als hätte er soeben den Weltuntergang ausgelöst.
Ich ziehe ebenfalls an ihm vorbei und stehe nun kurz vor den
Zielfeldern, während der Schatz sich bemüht, eine Sechs zu würfeln.
Claas-Klaus kommt bis auf ein Feld an mich heran. „Du weißt schon, dass
Du genau vier Punkte brauchst, weil Du die Zielfelder von oben nach
unten füllen musst?“, erklärt er mir die 2019er Regeln. „Jetzt weiß ich
es ja“, grummele ich zurück und siehe da, meine Vier fällt und ich ziehe
ins erste Zielfeld von oben. Claas-Klaus würfelt eine Fünf, zieht in
mein Zielfeld, schlägt meine Figur und setzt sie zurück in mein
Starthäuschen. „Was war jetzt das?“, will ich verblüfft wissen. „So
spielen wir das. Kinder dürfen bei passender Zahl auch in die Häuschen
der Erwachsenen. Sonst ist es unfair“, doziert das Kind des Grauens. Der
Schatz lacht laut schallend. Ich lehne mich zurück und verschränke die
Arme vor der Brust: „Sag mir, oh Meister der kindgerechten Spielregeln:
Hast Du jemals – jemals – ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel verloren?“
„Ein Mal“, antwortet der Klauklaus, „aber da habe ich mich so geärgert,
dass Dörte die neuen Kinderregeln eingeführt hat, damit es fairer ist.“
„Okay, hör mir zu: Du kannst Deine Mutter gerne beim Vornamen nennen,
aber, oh Gastkind einer alleinerziehenden Hobbypädagogin und
Spieleverhunzerin, in diesem Haushalt spielen wir
Mensch-ärgere-dich-wie-Sau und hier gelten die Originalregeln! Wenn Du
nicht verlieren kannst, dann spiele meinetwegen Klavier, aber keine
Familienspiele und keine Brettspiele. Den Rest Deines nachhaltig mit
Biogemüse gefüllten Lebens wirst Du nämlich nicht nur mit Siegen,
sondern mit jeder Menge Niederlagen leben lernen müssen. Und dieses
dämliche Spiel mit den umweltfeindlichen Plastikfiguren bereitet Dich
unter anderem exakt darauf vor: mit Niederlagen umzugehen. Wenn Deine
Lieblingsmannschaft verliert, wenn Du das Darlehen nicht kriegst, wenn
der Gebrauchtwagen ein Unfallwagen ist, Du auf dem Schulhof beim Drei
gegen Einen eine auf die Zwölf kriegst oder Dir Fernsehgebühren oder
Steuererhöhungen ins Haus flattern: Immer dann wirst Du eine Niederlage
erleben. Weder fair noch wertschätzend. Weil das verdammte Leben da
draußen weder fair noch wertschätzend ist...“
„Hör auf, Du machst ihm Angst“, unterbricht der Schatz meinen wilden
Ritt, während mich das ClausKlaas mit großen Augen anschaut. „Ja, weil
das Leben beängstigend ist“, fauche ich sie an, „und wenn er später mal
mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze liegt, dann wird es keine
Dörte geben, die ihm das Patschhändchen hält. Und jetzt machen wir das
wie Männer aus, Klaus...“, sage ich, räume das Spielbrett ab und greife
nach dem „Risiko“-Spiel. „Jetzt gibt es Krieg. Schluss mit der
Kinderkacke!“, verkünde ich und Claas-Klaus Augen leuchten, als er die
kleinen Soldatenspielfiguren sieht. „Ich werde Dich nicht vernichten“,
erkläre ich dem Zwerg, „aber es wird sehr fair sein und Du wirst Spaß
dabei haben...“
Als Dörte nach guten zwei Stunden das wertgeschätzte Früchtchen ihrer
Lenden abholt, findet sie einen aufgeregten Jungen mit roten Wangen,
der ihr erklärt, dass er „Krieg gespielt und gewonnen hat“ und das
„total geil war!“ Und dass er auch ein Risiko-Spiel haben will. Ich habe
es ihm nicht leicht gemacht, und ein paarmal war er zornig. Und ich hab
ihn gewinnen lassen. Um Dörte zu ärgern. Und um aus dem armen Kerl
wenigstens ansatzweise einen Mann zu machen. Auch wenn es mich
eigentlich nichts angeht. Trotzdem: Die wahren Siege finden im Kopf –
und nicht auf dem Spielbrett – statt. Thilo Schneider
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