Stationen

Sonntag, 22. Dezember 2019

70 Jahre Scham

Es war bei einer meiner Buchlesungen zu „Mal eben kurz die Welt retten“ im Jahre des Herrn 2017, als eine ältere Dame zum Ende hin aufstand und im Widerspruch zu meinen Ausführungen schilderte, wie sie die allgemeine deutsche Grenzöffnung 2015 erlebt hatte. Ihre Ausführungen kulminierten in der Aussage, dass ihr die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl gegeben habe, wieder stolz auf Deutschland sein zu können. An diese Aussage, die im Brustton der ernstesten und selbstkritikfreiesten Überzeugung getroffen wurde, musste ich seitdem oft denken. Ich halte sie für den Schlüssel, um das mit enthusiastischem Karacho erfolgte Fahren Deutschlands gegen jede Wand der Unvernunft zu verstehen.
Angela Merkel hat sehr vielen Deutschen – vor allem: den meisten Entscheidungsträgern aus Medien, Wirtschaft und Politik, aber auch allen Gutmeinenden und Progressiven – wieder das Gefühl zurückgegeben, stolz auf ihr Land sein zu können. Diese Leistung sollte man bei allen seitdem erfolgten panischen, autoritären und zuweilen brutalen Reaktionen auf Kritik an der Bundeskanzlerin und ihrer Politik mit bedenken, ansonsten verstünde man das Wespennest nicht, in das jeder Kritiker hineinsticht. Kritik an der Kanzlerin und ihrer Politik heißt seitdem, den guten und progressiven Deutschen etwas wegnehmen zu wollen, auf das sie 70 Jahre lang sehnsüchtig gewartet haben.
Auffällig ist ja, dass die treibenden Kräfte hinter dem neuen deutschen Nationalstolz eben jene (westdeutschen) Gesellschaftskreise und Menschen sind, die sich bis 2015 noch in Grund und Boden schämten, als Deutsche geboren worden zu sein. Und Scham ist bekanntlich die Rückseite des Stolzes, speist sich aus derselben Kraft, nur dass der Scham verwehrt bleibt, was der Stolz sich archaisch und robust zu nehmen berechtigt fühlt. Es war so viel Druck auf dem Kessel dieser verschämten Deutschen, dass ihr neuer Stolz für sie wie eine Befreiung und Entfesselung wirkte. Anders ist die moralische Rigorosität, mit der sie seitdem den politisch Andersdenkenden beleidigen, erniedrigen, unterdrücken und entmenschlichen, nicht zu erklären.
Es gehört zu den deutschen Eigenarten, erst dann auf das Land, dem sie angehören, wirklich stolz zu sein, wenn es sich auf dem Weg in die Selbstzerstörung befindet. Dieser eigenartige Umstand hat nur vordergründig mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 zu tun, denn diese 12 Jahre sind ebenfalls bereits Ausdruck dieser Eigenart. Seit der Reichsgründung 1871 durchzieht die Geschichte der Deutschen dieser Hang zu einem ungesunden und unentspannten Nationalgefühl. Hier vollendet sich das Diktum von Goethe und Schiller aus den Xenien: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens“.   Vahlefeld

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