Es war bei einer meiner Buchlesungen zu „Mal eben kurz die Welt retten“
im Jahre des Herrn 2017, als eine ältere Dame zum Ende hin aufstand und
im Widerspruch zu meinen Ausführungen schilderte, wie sie die
allgemeine deutsche Grenzöffnung 2015 erlebt hatte. Ihre Ausführungen
kulminierten in der Aussage, dass ihr die deutsche Bundeskanzlerin
Angela Merkel das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl gegeben habe,
wieder stolz auf Deutschland sein zu können. An diese Aussage, die im
Brustton der ernstesten und selbstkritikfreiesten Überzeugung getroffen
wurde, musste ich seitdem oft denken. Ich halte sie für den Schlüssel,
um das mit enthusiastischem Karacho erfolgte Fahren Deutschlands gegen
jede Wand der Unvernunft zu verstehen.
Angela Merkel hat sehr vielen Deutschen – vor allem: den meisten
Entscheidungsträgern aus Medien, Wirtschaft und Politik, aber auch allen
Gutmeinenden und Progressiven – wieder das Gefühl zurückgegeben, stolz
auf ihr Land sein zu können. Diese Leistung sollte man bei allen seitdem
erfolgten panischen, autoritären und zuweilen brutalen Reaktionen auf
Kritik an der Bundeskanzlerin und ihrer Politik mit bedenken, ansonsten
verstünde man das Wespennest nicht, in das jeder Kritiker hineinsticht.
Kritik an der Kanzlerin und ihrer Politik heißt seitdem, den guten und
progressiven Deutschen etwas wegnehmen zu wollen, auf das sie 70 Jahre
lang sehnsüchtig gewartet haben.
Auffällig ist ja, dass die treibenden Kräfte hinter dem neuen
deutschen Nationalstolz eben jene (westdeutschen) Gesellschaftskreise
und Menschen sind, die sich bis 2015 noch in Grund und Boden schämten,
als Deutsche geboren worden zu sein. Und Scham ist bekanntlich die
Rückseite des Stolzes, speist sich aus derselben Kraft, nur dass der
Scham verwehrt bleibt, was der Stolz sich archaisch und robust zu nehmen
berechtigt fühlt. Es war so viel Druck auf dem Kessel dieser
verschämten Deutschen, dass ihr neuer Stolz für sie wie eine Befreiung
und Entfesselung wirkte. Anders ist die moralische Rigorosität, mit der
sie seitdem den politisch Andersdenkenden beleidigen, erniedrigen,
unterdrücken und entmenschlichen, nicht zu erklären.
Es gehört zu den deutschen Eigenarten, erst dann auf das Land, dem
sie angehören, wirklich stolz zu sein, wenn es sich auf dem Weg in die
Selbstzerstörung befindet. Dieser eigenartige Umstand hat nur
vordergründig mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 zu tun, denn diese 12
Jahre sind ebenfalls bereits Ausdruck dieser Eigenart. Seit der
Reichsgründung 1871 durchzieht die Geschichte der Deutschen dieser Hang
zu einem ungesunden und unentspannten Nationalgefühl. Hier vollendet
sich das Diktum von Goethe und Schiller aus den Xenien: „Zur Nation euch
zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens“. Vahlefeld
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