Für gewöhnlich bringt man Estland nicht mit den Wikingern in Zusammenhang. Als deren Heimat gelten Dänemark, Schweden und Norwegen. Der eine oder andere mag sich an ihre Entdeckungsfahrten bis nach Island, Grönland und Nordamerika – „Vinland“ – erinnern oder von ihren Staatengründungen – in der Normandie, auf Sizilien, in Gestalt der Kiewer Rus – wissen. Zu den üblichen Anschauungen gehört auch, daß der Beginn des Zeitalters der Wikinger ziemlich exakt mit dem Jahr 793 festzulegen ist, als das im heutigen Nordengland gelegene Kloster Lindisfarne von ihnen überfallen, ausgeraubt, die Mehrzahl der Mönche getötet oder verschleppt und die Gebäude niedergebrannt wurden.
Allerdings weiß der Historiker um die Fragwürdigkeit so klarer historischer Abgrenzungen, und als 2008 bei Straßenbauarbeiten in dem kleinen Ort Salme an der Südküste der estnischen Insel Saaremaa (deutsch: Ösel) zwei Schiffsgräber entdeckt wurden, war relativ rasch klar, daß man die bereits zu Beginn oder in der Mitte des 8. Jahrhunderts angelegt hatte. Es handelt sich damit um das früheste Beispiel solcher Bestattungen, von denen heute mehr als 600 bekannt sind.
Die Funde von Salme werden jetzt im Rahmen einer Ausstellung des Museums von Kuressaare (deutsch: Arensburg) unter dem Titel „Wikinger vor den Wikingern“ erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Was der Besucher zu sehen bekommt, ist allerdings wenig spektakulär. Von den Schiffen selbst blieb praktisch nichts übrig, und die Zahl der Beigaben erscheint eher spärlich: einige Fragmente von (oft einschneidigen) Schwertern, Schilden, Lanzen- und Pfeilspitzen, Fibeln sowie Metallbeschläge, Feuer-, Schleif- und Spielsteine, Schmuck aus Glas und Bernstein, Gebrauchsgegenstände aus Bein oder Horn, die Überreste von Hunden, die man ihren Besitzern ins Totenreich mitgegeben hat.
Das eigentlich Bedeutsame des Fundes von Salme ist tatsächlich für das bloße Auge unsichtbar oder erst aus dem Kontext zu erschließen. Unsichtbar sind die genetischen Informationen, die man den Knochenresten entnehmen konnte. Dazu gehört, daß alle 41 Bestatteten im Kampf gestorben sind, daß sie mehrheitlich zwischen 20 und 30 Jahre alt waren und aus derselben Region – dem schwedischen Uppland – stammten. Zwei hatten möglicherweise ihre frühen Jahre auf Gotland verbracht, bei einigen ist denkbar, daß sie von Saaremaa stammten. Die DNA-Analysen konnten außerdem zeigen, daß sich unter den Toten vier Brüder befanden, von denen einer ganz zu unters in einem der Schiffe und mit einem kostbar gearbeiteten Schwert beigesetzt wurde.
An dessen Knauf war ein Ring befestigt, der als Rangzeichen zu betrachten ist. Vielleicht handelte es sich bei dem Gefallenen um den Anführer der Krieger, deren Beigaben aber sonst keine Hinweise auf soziale Unterschiede liefern. Vielleicht kann man darin einen Beleg für den Bezug der Kampfverbände dieser Zeit auf die Sippenstruktur einerseits, auf das Werben von Gefolgschaft durch einen Herren andererseits sehen. Wesentlich war in jedem Fall das Versprechen von Beute, und auch wenn man neuerdings versucht, den seeräuberischen Aspekt des Wikingertums gegenüber dem händlerischen zurücktreten zu lassen, sprechen die Funde von Saaremaa dafür, daß deren Hintergrund ein Akt von Küstenpiraterie gewesen sein dürfte.
Ein fehlgeschlagener, wie man hinzufügen muß, denn die Umstände der Bestattung – nicht zuletzt das Fehlen eines Grabhügels – werden als Hinweis auf eine gewisse Eile betrachtet. Möglicherweise waren die Angreifer nach der Landung auf unerwarteten Widerstand getroffen und hatten wegen hoher eigener Verluste weitere Vorstöße aufgegeben. Die Überlebenden mußten sich rasch zurückziehen, um der Verfolgung oder einer neuerlichen Attacke der Inselbewohner zu entgehen.
Das alles bleibt aber spekulativ, und auch über die weitere Entwicklung auf Kuressaare wissen wir mangels schriftlicher Quellen wenig. Immerhin sprechen die Ausgrabungen der jüngsten Zeit dafür, daß nicht alle Operationen der Wikinger fehlschlugen wie die bei Salme. Nach und nach setzten sie sich auf der Insel fest und machten sie zu einem wichtigen Ausgangspunkt für ihre Fahrten und Feldzüge in Richtung Osten. Wie ihr Verhältnis zu den Einheimischen aussah, bleibt noch zu klären, aber manche Indizien sprechen für die Entstehung einer Art internationaler Kriegerklasse, in deren Reihen Herkunft kaum eine Rolle spielte, eher der „Geist der Wikinger“, von dem Oswald Spengler meinte, daß er sich nirgends deutlicher manifestiert habe, als in der Hochseeschiffahrt unter Segeln.
In dem Zusammenhang ist noch interessant, welche positive Rolle die Wikinger heute für die nationale Identität Estlands spielen. Obwohl geographisch zum Baltikum gerechnet, sind die Esten weder von ihrer Sprache noch von ihrer Abstammung Balten, vielmehr Nachfahren der finno-ugrischen Bevölkerung des Ostseeraums und der Zuwanderer aus Nordeuropa, die über Jahrhunderte hierher gekommen ist, und zu denen im Mittelalter ohne Zweifel auch Wikinger gehörten. Karlheinz Weißmann
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