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Donnerstag, 29. Juli 2021

Normalerweise müßten Polizeiautos durch die Straßen fahren und mit Lautsprecher die Bevölkerung warnen: „Packt das Nötigste und verlaßt diesen Platz!“

Anne B. reiste am Dienstag vergangene Woche mehr als 500 Kilometer von Sachsen-Anhalt in das von der Flutkatastrophe besonders betroffene Ahrtal, um zu helfen. Im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT spricht die 28jährige, die im öffentlichen Dienst arbeitet und ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, über die Koordination der Helfer, über Einzelschicksale, Politikversagen und „obskure“ Helfer.

Sie haben sich dazu entschlossen, Menschen zu helfen, die von der Flutkatastrophe betroffen sind. Wie kam es dazu?

Anne B.: Ich sah die Bilder im Fernsehen und dachte sofort: Da muß ich helfen. Dazu kam die Tatsache, daß ich auch Zeit hatte – immerhin vier Tage Urlaub.

Wie kann man sich das organisatorisch vorstellen, wenn man helfen will? Wie kommt man zu den Hilfesuchenden?

Anne: Das lief alles über soziale Medien. Dort gab es verschiedene Aufrufe, aber auch Gruppen, in denen sich Helfer organisierten und Kontakte hergestellt werden. Dort habe ich mich gemeldet und mir wurden einige Nummern vermittelt. Ein Kontakt meinte dann, es gäbe eine Familie, die dringend Hilfe benötige. Das war im Kreis Ahrweiler, genauer gesagt Bad Neuenahr.

Haben Sie irgendeinen Bezug zu der Gegend?

Anne: Überhaupt nicht. Ich war nie dort und bis vergangene Woche kannte ich auch niemanden in dieser Gegend. Ich komme aus Sachsen-Anhalt.

Also einfach ins Auto und los?

Anne: Vorher habe ich noch den Kofferraum mit nützlichen Gegenständen, also von denen ich dachte, sie würden gebraucht, vollgemacht. Von Mullbinden bis Hundefutter. Und dann fuhr ich los. Zwanzig Minuten vor Ankunft wunderte ich mich allerdings. Wo soll da die Katastrophe sein? Die Sonne schien, die Landschaft war idyllisch. Alles schien normal zu sein. Doch als ich dann in dem Tal um eine Kurve fuhr, sah ich es. Es war unbeschreiblich und viel schlimmer als die Bilder im Fernsehen. Rechts und links nur Zerstörung! Weggerissene Straßen, zerstörte Häuser, kaputte, mit Schlamm bedeckte Autos, die hochkant hinter Zäunen lagen. Auf der linken Seite, es war wohl vorher ein Sportplatz, wurde kurzerhand eine Mülldeponie errichtet mit meterhohen Bergen an Schrott und Schutt. Es war wirklich schlimm.

Anne B. während ihres Hilfseinsatzes
Anne B. während ihres Hilfseinsatzes Foto: privat


Hört sich schrecklich an. Und dann kamen Sie zu der Familie, mit der Sie vorher Kontakt aufgenommen hatten?

Anne: Genau. Nachdem ich mich zunächst verfahren hatte, fand ich schließlich gegen 15 Uhr meinen Kontakt. Es war die Tochter eines älteren Ehepaares. Die haben sich wahnsinnig gefreut, daß ich tatsächlich da war. Und dann ging es an die Arbeit. Gemeinsam mit der Tochter entschlammten wir die Küche.

Wie funktionierte das?

Anne: Dadurch, daß die Sonne ja längst wieder schien, trocknete der Schlamm. Das heißt, wir mußten die Küche paradoxerweise wieder schwemmen, um den Dreck schließlich mit Handfeger und Eimer zu entsorgen. Das war der erste Tag.

Wo haben Sie denn übernachtet?

Anne: Dafür bekam ich vor Ort die Adresse einer Notunterkunft, die auch Helfer aufnahm. Eine Schule wurde entsprechend umfunktioniert. Das wurde alles vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) geleitet. Dort gab es eine Feldküche und medizinische Versorgung. Die Turnhalle der Schule war ein großes Warenlager, wo sich Betroffene notwendige Dinge nehme konnten. Ich bekam dann meinen Schlafplatz zugeteilt.

Und am nächsten Tag ging es weiter. Wie gestaltete sich eigentlich die Koordination der Helfer?

Verschlammte Straßen und Gärten in Bad Neuenahr und Heimersheim im Kreis Ahrweiler
Verschlammte Straßen und Gärten in Bad Neuenahr und Heimersheim im Kreis Ahrweiler Foto: privat

Anne: Schwierig. Zwar gab es eine Art Vorgesetzten vom ASB, aber dieser konnte unmöglich die ganzen freiwilligen Helfer koordinieren. Das haben wir uns dann zum Auftrag gemacht. Als wir gehört hatten, es solle ein Bus mit 55 Personen kommen, ist ein weiterer freiwilliger Helfer durch die Straßen gegangen und hat Listen gemacht, wer Hilfe benötigt. Als die Helfer vor Ort waren, konnten wir sie schnell verteilen.

Sehr pragmatisch.

Anne: Absolut. Doch bei allem Helfen und Anpacken bleiben die Einzelschicksale im Gedächtnis.

Zum Beispiel? 

Anne: Ein älteres Ehepaar, 75 und 79 Jahre alt, hatten bis einschließlich Mittwoch nur einen einzigen Helfer. Und der war 82 Jahre alt. Der Keller stand bis zu diesem Tag noch unter Wasser. Die beiden waren körperlich nicht in der Lage, das zu stemmen.

Nur, damit keine Mißverständnisse entstehen: Vom Wochenende bis zum Mittwoch wurde dem Ehepaar faktisch nicht geholfen? 

Anne: Genau.

Welches persönliche Schicksal war besonders eindrücklich?

Anne: Viele. Die Geschichte eines alten Mannes, den ich in der Notunterkunft kennengelernt hatte. Er wurde evakuiert. Zudem hatte er in den Fluten seine Frau verloren. Noch bevor er sein Haus verlassen hatte, konnte er letzte Wertgegenstände in Sicherheit bringen. Ich fuhr ihn zu seinem Haus, das geplündert wurde. Er hatte Solarpanels auf dem Dach, die die Verbrecher abmontieren wollten. Als das nicht klappte, haben sie die Platten zerstört.

Unglaublich. 

Anne: Was ich nicht haben kann, bekommst du auch nicht. So denken wohl manche.

Medien und Experten kritisieren nun, daß viel zu spät evakuiert wurde. Inwieweit können die Anwohner, mit denen Sie gesprochen haben, das bestätigen?

Anne: Hierzu eine Geschichte, die mir besonders unter die Haut ging: Eine ältere Dame bemerkte, daß die Flut in ihr Haus eindringt und wollte sich ins obere Stockwerk in Sicherheit bringen. Da die Stufen gefliest waren, rutschte sie aus. Am Treppengeländer konnte sie sich gerade noch hochziehen. Bis auf Schnittwunden, Prellungen und einen gebrochenen Zeh ist ihr, wie durch ein Wunder, nichts passiert. Sie konnte sich retten. Ihre Verletzungen wurden übrigens erst eine Woche später behandelt.

Wie kann es sein, daß sie, aber auch andere, nicht evakuiert wurden?

Anne: Nicht jeder hat ein Smartphone. Und auch die Nachrichten aus der Warn-App waren nicht eindeutig und machten den Ernst der Lage nicht klar. Normalerweise müßten Polizeiautos durch die Straßen fahren und mit Lautsprecher die Bevölkerung warnen: „Packt das Nötigste und verlaßt diesen Platz!“

Vielen Anwohnern war das Ausmaß also gar nicht bewußt, obwohl die Fakten vorlagen?

Anne: Richtig. Einige wußten schon, daß da „etwas“ kommt und die Keller könnten überflutet werden. Aber diese Dimension hatte keiner geahnt. Der ältere Mann, von dem ich gesprochen hatte, sagte auch, er wußte von gar nichts.

Die ARD-„Tagesschau“ und andere Medien berichteten von obskuren Helfern, die die Einsatzkräfte und Helfer beim Aufräumen störten. Sind Ihnen solche Personen aufgefallen?

Anne: Nein. Es steht ja auch niemandem auf der Stirn geschrieben, welche Überzeugung er hat. Jeder Helfer, den ich in den Tagen kennengelernt habe, war ehrlich besorgt und ehrlich bemüht, die Situation für die Opfer erträglicher zu machen. Die politische Einstellung interessierte niemanden. Ich selbst habe von den „obskuren Helfern“, Querdenkern oder was auch immer, nur über soziale Medien erfahren. Vor Ort habe ich nichts mitbekommen. Man muß aber dazu sagen, daß das Ahrtal ziemlich groß ist und ich lediglich in ein paar Ortschaften war.

Wie lautet Ihr Fazit nach diesem Hilfseinsatz?

Anne: Einerseits hat man ein gutes Gefühl, den Menschen geholfen zu haben. Die Leute sind sehr dankbar und wenn es auch nur ein kurzes Gespräch oder ein Apfel war. Es war eine sehr wertvolle Erfahrung für mich, auch wenn ich wünschte, die Flut wäre nie passiert. Was bleibt, sind die Schicksale der Menschen. Der Schmerz überträgt sich auf dich. Du kannst ihn förmlich fühlen. Mir ist es am Freitag schwer gefallen, nach Hause zu fahren. Ich wäre gerne länger geblieben.

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