Stationen

Sonntag, 25. Juli 2021

Herztier

Es ist fast eine Schande, dass ich vorher noch nie ein Buch von Herta Müller gelesen habe. Nicht nur, weil sie den Literaturnobelpreis erhalten hat und tatsächlich den Mädchennamen meiner Großmutter trägt. Sondern auch, weil wir dieselben staubigen Straßen unsere Heimat nennen (Rumänien, Anm. d. Red.). Und dann lag es als Geschenk in meinem Briefkasten, und nun stehe ich berührt und auch verstört vor einem Buch in einer Sprache, die ich so noch nirgendwo gelesen habe. Ich war zu jung für Politik, als wir das Land damals 1984 verließen. Als ich geboren wurde, hatte sie schon viele Verhöre hinter sich. Heute erst erfahre ich Geschichten auch aus meiner Familie, wie der Onkel, der geholfen hat, Samisdat-Literatur aus dem Land zu schmuggeln. Ich höre gerne diese Geschichten, weil sie von jenen erzählen, die sich nicht unterkriegen ließen, und auch von ihnen und ihrem Scheitern erzählt Herta Müller.

Sie beschreibt die Gefährtenschaft einer Handvoll Freude, die das alltägliche Grauen dokumentieren und dem System trotzen. Die sich einrichten in der Schikane und sie doch nie einfach hinnehmen. Beklemmend und hoffnungslos, monoton und trist, menschlich abgründig und mechanisch, manchmal erzeugen die Worte fast Ekel in ihrer Deutlichkeit. Zuletzt hatte ich dies beklemmende Gefühl, dieses direkte Unwohlsein das sich vom Sinn der Worte direkt in den Körper überträgt, als ich den „Archipel Gulag“ von Solschenizyn las. Das Buch habe ich nicht fertig bekommen und abgebrochen. Die Systematik der Unmenschlichkeit die dort dokumentiert steht, war schwer zu ertragen.

Und jetzt Herta Müller. Es ist anders, weil es auch die Hoffnung nicht verliert, fast zärtlich auch jene beschreibt, die es nicht verdient haben. Jene, die ihr Herztier noch nicht verloren haben, denen es noch nicht entlaufen ist. Den Schrecken dieser unmenschlichen Systeme verstehen können nur jene, die die Angst kennen, die Barrieren des Misstrauens und die Widerwärtigkeit von Menschen, die mitten in der Ohnmacht ihre eigene Niederung an Macht auskosten. Umso wichtiger, diese Bücher zu lesen und weiter zu tragen gegen die Romantik jener, die heute noch leichtfertig kommunistischen Träumen nachlaufen, ohne zu ahnen, welchen Spalt zur Hölle auf Erden sie damit auftun. Ich werde jetzt auch Solschenizyn fertig lesen. Weil er es verdient hat. Weil er soviel riskiert hat, um der Welt zu zeigen, was hinter dem Eisernen Vorhang wirklich passierte. Herta Müller tat es auch. Ihre Sprache trotzt bis heute dem Versuch, sie zum Schweigen zu bringen. Vielleicht ist sie deswegen so erbarmungslos deutlich. Und vielleicht muss es auch genau so sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Birgit Kelles Blog.

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