Es
ist bekannt, dass der Tod des Sokrates, wie Platon ihn im Phaidon
schildert, eine idealistische Erfindung ist - in Wirklichkeit hatte der
Schierlingsbecher Krämpfe und dergleichen Scheußlichkeiten zur Folge.
Aber auch der umgekehrte Fall ist trügerisch: beim Tod des Seneca denkt
der Leser, endlich einmal ein realistischer Bericht...! Ja, Pustekuchen.
Hier ist einfach der Tod des Greises geschildert: weil der kalt ist und
trocken, kann er nicht ausbluten, muss sich ins Bad tragen lassen usw.
Tacitus konnte diese Szene schreiben, ohne das Geringste über die
Wirklichkeit zu wissen. Nicht anders übrigen in der 'Germania'. Die
Germanen wohnen sub septentrione, unter dem Nordstern, Daher sind sie
von flegmatischer Komplexion, also wie die Kinder, halten keine
Verträge, müssen trinken, brauchen eine starke Hand, usw. Dabei gab es
in Rom genug Germanen, und jeder Römer kannte sie. Trotzdem störte
niemanden diese Diskrepanz. Das war eben Literatur. So verhält sich das
bei allen antiken Autoren, natürlich auch bei den Evangelisten. Weil
aber unsere Zeitgenossen voller Zuversicht und Naivität sich die Texte
vornehmen, brauchen wir uns über den Unsinn nicht zu wundern, der
herauskommt.
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