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Samstag, 24. Juli 2021

Logos pharmakon

 

Es ist bekannt, dass der Tod des Sokrates, wie Platon ihn im Phaidon schildert, eine idealistische Erfindung ist - in Wirklichkeit hatte der Schierlingsbecher Krämpfe und dergleichen Scheußlichkeiten zur Folge. Aber auch der umgekehrte Fall ist trügerisch: beim Tod des Seneca denkt der Leser, endlich einmal ein realistischer Bericht...! Ja, Pustekuchen. Hier ist einfach der Tod des Greises geschildert: weil der kalt ist und trocken, kann er nicht ausbluten, muss sich ins Bad tragen lassen usw. Tacitus konnte diese Szene schreiben, ohne das Geringste über die Wirklichkeit zu wissen. Nicht anders übrigen in der 'Germania'. Die Germanen wohnen sub septentrione, unter dem Nordstern, Daher sind sie von flegmatischer Komplexion, also wie die Kinder, halten keine Verträge, müssen trinken, brauchen eine starke Hand, usw. Dabei gab es in Rom genug Germanen, und jeder Römer kannte sie. Trotzdem störte niemanden diese Diskrepanz. Das war eben Literatur. So verhält sich das bei allen antiken Autoren, natürlich auch bei den Evangelisten. Weil aber unsere Zeitgenossen voller Zuversicht und Naivität sich die Texte vornehmen, brauchen wir uns über den Unsinn nicht zu wundern, der herauskommt.

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