Stationen

Dienstag, 6. Juli 2021

Jacques Ellul

Die Schriften von Jacques Ellul (1912-1994) können viel dazu beitragen, den heutigen Weltzustand zu erhellen.

Sein Werk ist auf Deutsch leider nicht gut greifbar. Seine Bücher werden antiquarisch zum Teil zu horrenden Preisen angeboten (man suche etwa nach Leben als moderner Mensch oder Apokalypse). Gar nicht erst übersetzt wurden seine Hauptwerke La Technique ou l'enjeu du siècle ("Die Technik oder Die Herausforderung des Jahrhunderts", 1954) und Propagandes ("Propaganda" im Plural, 1962).

Politisch war der französische Theologe, Historiker und Soziologe ein Mann der Linken. Wie alle originären Denker war er jedoch ein "kategoriensprengender" Autor, der sich simplen Einschachtelungen entzog. Das trifft auch auf Martin Heidegger, René Guénon, Ivan Illich und andere Kritiker der technologischen Gesellschaft zu, deren Werk in Zeiten der "vierten industriellen Revolution" (so nennt es WEF-Chef Klaus Schwab) zunehmend an Relevanz gewinnt.

So kann man auch als Rechter eine Menge von Ellul lernen. Er war Antikommunist und Antifaschist, ohne ein "Liberaler" zu sein. Stattdessen bekannte er sich zu einer Art von christlichem Anarchismus, den er allerdings vom (gewaltaffinen) politischen Anarchismus abgrenzte. Das ist das Thema seines Essays "Anarchie und Christentum" (1988), zu dem ich hier ein paar Bemerkungen anbringen möchte. Auch er ist leider nicht ins Deutsche übersetzt worden und liegt mir in einer englischen Fassung vor.

Elluls Standpunkt war radikal anarchistisch: Nicht bloße Skepsis gegenüber der politischen Macht, sondern radikale Verwerfung, ganz im Sinne des berühmten Zitats von Lord Acton: "Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut", eine Tradition, die man bis zu den Kirchenvätern und alttestamentarischen Propheten zurückverfolgen kann. So lehnte Ellul Staatsgewalt, hierarchische Strukturen, Autoritäten und Partizipation im politischen Machtkampf ab, und trachtete nach neuen sozialen Gesellschaftsformen abseits der gängigen Modelle.

Bei der Lektüre mußte ich unweigerlich an den (anti-kommunistischen) Song "Bloody Revolutions" der anarchistischen Punk-Band Crass denken (für die ich eine Schwäche habe):

So don't think you can fool me with your political tricks/ Political right, political left, you can keep your politics/ Government is government and all government is force/ Left or right, right or left, it takes the same old course/ Oppression and restriction, regulation, rule and law...

Dieses Denken führt freilich aus rechter Sicht rasch in die Sackgasse der Utopie, der die Hartnäckigkeit der menschlichen Natur im Weg steht.

Ellul war sich dessen bewußt, und er glaubte nicht, daß eine rein anarchistische Gesellschaft möglich sei, da Machtstreben und Begehrlichkeit zu tief im Menschen verankert sind. Er nannte als Beispiel den Versuch des holländischen Staates in den siebziger Jahren, dem Problem des Drogenhandels und -mißbrauchs durch Drogenlegalisierung entgegenzuwirken. Das ging völlig nach hinten los, und Amsterdam wurde in der Folge zur "Drogenhauptstadt" mit einer "horriblen Rate an Drogensüchtigen": " Die Beendigung der Unterdrückung hemmt nicht das menschliche Verlangen."

Wie eine wahrhaft "demokratische" Gesellschaft mit Institutionen auf "Graswurzel-Basis" aussehen könnte, die auf Autoritäten und Hierarchien verzichtet, bleibt auch bei Ellul vage und andeutend. Im Zentrum seiner Vorstellung von Anarchie steht die "Verweigerung aus Gewissensgründen", und er nennt die Bereiche Wehrpflicht, Schulpflicht, Steuerpflicht und, besonders aktuell, Impfpflicht.

Hier nennt er ein Beispiel, das meiner Ansicht nach eher die Schwäche seiner Position aufzeigt: Ein mit ihm befreundeter Jurist und Mathematiker, der aufs Land gezogen war und sich als "Aussteiger" der Viehzucht verschrieben hatte, verweigerte die vorgeschriebene Impfung seiner Rinder. Als ihm die zuständigen Behörden Geldstrafen auferlegen wollten, ging er vor Gericht, um dort mithilfe der Expertise von Tierärzten und Biologen die Problematik und mangelnde Sinnhaftigkeit der Impfungen aufzuzeigen. Das Gericht gab dem Impfverweigerer Recht, und Ellul kommentiert:

Das ist ein sehr gutes Beispiel, wie wir innerhalb eines Netzes aus Regulationen etwas Freiraum finden können.

Schön und gut, aber was wäre gewesen, wenn das Gericht gegen den Viehzüchter entschieden hätte? Das Gericht ist eine staatliche Institution, und um das Recht durchzusetzen, bedarf es der Autorität und der Macht. Gegen die bevorstehenden Zwangsimpfungen und "grünen Pässe" mit juristischen Mitteln vorzugehen, erscheint auf die Dauer aussichtslos, da es eine "vom System" unabhängige Justiz (und Wissenschaft) voraussetzt.

Daher wäre mein Einwand gegen das anarchistische Denken "gehlenianisch": Macht an sich ist weder gut noch schlecht, "Ohne höchste Macht läßt sich nichts machen" (Lasalle), und warum sollte man theoretisch nicht Macht mit Tugend und ethischem Verantwortungsbewußtsein verbinden können? Dabei ist unsere Welt leider so eingerichtet, daß man auch bei der Verfolgung subjektiv guter Absichten und guter Zwecke in ethische Zwickmühlen, ja tragische Situationen geraten kann.

In Moral und Hypermoral (1969) ergänzte Gehlen das Bonmot Actons folgendermaßen:

Doch ist dieser Satz unvollständig, denn bekanntlich korrumpiert Machtlosigkeit auch, und absolute Machtlosigkeit korrumpiert absolut. (...) Das Schwert, das man aus der Hand legt, ergreift ein anderer; so wie der Satz Christi "Wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen" der Ergänzung bedarf: Auch der, der es niederlegen mußte. (...)  Man muß Macht haben, um überhaupt handeln zu können, zumal in der moralischen Sphäre. Man hat gewaltig zu sein, um Gutes zu tun, und stark, um Schutz zu bieten. Das Gute zu suchen und dabei die Macht zu verwerfen kommt auf die seichte und eigensinnige Vorstellung heraus, daß das Leben keine Bedingungen haben sollte.

Das scheint mir unwiderleglich zu sein. Auf Macht verzichten, bedeutet letztendlich aus dem Daseins- und Selbsterhaltungskampf auszuscheiden, und selbst eine anarchistisch-basisdemokratische Community oder "Civitas Dei" kann sich dieser Notwendigkeit auf Dauer nicht entziehen, selbst wenn ihre brüderlichen Mitglieder eine Art franziskanischer Wiedergeburt als "neue Menschen" erfahren und Machtstreben, Begehrlichkeit, Ressentiment usw. hinter sich gelassen haben.

Ellul denkt hier konsequent und sieht in einer solchen Gemeinschaft das Urbild und die Ur-Forderung des Christentums, verraten in dem Moment, in dem die christliche Gemeinde zur hierarchisch organisierten Kirche, zum "staatsanalogen Gebilde" (Gehlen) wird, das einen auch weltlichen Machtanspruch vertritt. Die "Konstantinische Wende" hat aus diesem Blickwinkel das Christentum verfälscht, ja auf den Kopf gestellt: "Linker Jesus, rechte Kirche", wie ein Buchtitel eines linksgerichteten österreichischen Pfarrers in den neunziger Jahren lautete. Im Gefolge Konstantins wurde ein christlicher Cäsar denkbar, woraus das mittelalterliche Ideal des christlichen König- und Kaisertums von Gottes Gnaden erwuchs.

Aus einer solchen Sichtweise folgt jedoch auch - und Ellul war dieser Ansicht -, daß die römisch-katholische Kirche als Institution im Dienste dieser Verfälschung der Christentums steht. Wenn der klassische Anarchist die Kirche als hierarchisches Herrschaftsinstrument an der Seite von Staat und Krone attackiert, dann räumt ihm Ellul erhebliche Berechtigung ein.

Ellul möchte in seinem Essay eine Art Brücke zu den Anarchisten schlagen, indem er den Kern der christlichen Lehre, verborgen hinter dem klerikal-politischen Apparat als anarchistisch bestimmt, im Sinne der Zurückweisung jeglichen Herrschenwollens oder Beherrschtwerdens. Während der Anarchist "Ni Dieu, ni maître!" ("Weder Gott, noch Herr!") ruft, so lautet die Parole des Christen: "Gott allein ist Herr!" (oder auch: "Gott steht über allen Herren!"), womit jegliche irdische Macht oder Autorität mindestens unter einen Vorbehalt gestellt wird.

Nun gab es etliche Denker, die dieser Sichtweise "seitenverkehrt" zustimmten, sie aber als Argument gegen das Christentum ins Feld führten. Für Charles Maurras oder Julius Evola war die katholische Kirche eine römisch-zivilisatorische Institution, die das "semitische" oder "bolschewistische" Gift des Urchristentums neutralisiert hatte.

Der gewaltigste dieser Ankläger war freilich Friedrich Nietzsche, der Verkünder des "Willens zur Macht", etwa in Götzendämmerung und Der Antichrist. "Man darf zwischen Christ und Anarchist eine vollkommne Gleichung aufstellen", schrieb er, und beide stammten in seinen Augen aus "Schwäche, aus Neid, aus Rache":

Der Christ und der Anarchist: beide décadents, beide unfähig, anders als auflösend, vergiftend, verkümmernd, blutaussaugend zu wirken, beide der Instinkt des Todhasses gegen alles, was steht, was groß dasteht, was Dauer hat, was dem Leben Zukunft verspricht... Das Christentum war der Vampyr des imperium Romanum – es hat die ungeheure Tat der Römer, den Boden für eine große Kultur zu gewinnen, die Zeit hat, über Nacht ungetan gemacht. (Der Antichrist)

Diese alte Debatte ist hinlänglich bekannt, und wird bis heute im rechten Spektrum mit einiger Leidenschaft geführt, auch in unseren Kommentarspalten.

Elluls christlicher Anarchismus hat indes mit Schwäche, Neid, Ressentiment oder Rachsucht überhaupt nichts zu tun. Er ist vielmehr eine Antwort auf die totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Ellul hatte hier als resistant gegen die deutsche Besatzungmacht, der Leib und Leben riskiert hatte, einiges mitzureden.

Und hier beginnt es fesselnd zu werden. Aus seiner "anarchischen" Position heraus hatte Ellul ein überaus feines Gespür für manipulative Übergriffe aller Art.

So kenne ich kein Buch, das das Wesen der Meinungsbildung und Verhaltenssteuerung der Massen gründlicher und unheimlicher erfaßt hätte als Propagandes, das mir ebenfalls in englischer Sprache vorliegt (auch wenn ich hier einige Abstriche machen muß, was bestimmte, historisch gebundene Urteile und Blickwinkel Elluls angeht, die ich nicht teile). Auf dreihundert eng bedruckten Seiten analysiert Ellul detailliert die Wirkungsweisen, Techniken und psychologischen Folgen verschiedener Propagandamethoden und -strategien.

Dabei geht er nicht die bequemen Weg, sich auf Beispiele aus antiliberalen politischen Systemen wie Stalinismus, Maoismus, Faschismus und Nationalsozialismus zu beschränken, sondern sieht in der Propaganda ein zentrales Element der modernen Gesellschaften überhaupt, auch der sogenannten "demokratischen" und "liberalen". Selbst der Idee einer Propaganda "für die gute Sache" steht Ellul aufgrund ihrer korrumpierenden und pervertierenden Natur kritisch bis abweisend gegenüber.

Die Einsicht, daß die modernen Massengesellschaften notwendigerweise der Propaganda und der Kontrolle der öffentlichen Meinung bedürfen, um Ordnung, Autorität und Orientierung zu schaffen, teilt er mit dem amerikanischen PR-Guru Edward Bernays (1892-1995), seinerseits Autor des Klassikers Propaganda (1928, dt. 2007). Der Unterschied ist, daß Bernays und Ellul zu diametral entgegengesetzten Wertungen gelangen.

Ellul schreibt:

Es bedarf der Propaganda, um Macht auszuüben, aus dem einfachen Grund, daß sich die Massen heute an politischen Angelegenheiten beteiligen. Nennen wir dies nicht "Demokratie", es ist nur ein Aspekt davon.

Bernays nannte nun genau dies "Demokratie":

Die bewußte und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element der demokratischen Gesellschaft. Diejenigen, die diesen unsichtbaren Mechanismus der Gesellschaft manipulieren, bilden eine unsichtbare Regierung, die die wahre herrschende Macht unseres Landes ist.

Wir werden regiert, unser Geist wird geformt, unser Geschmack geformt, unsere Ideen vorgeschlagen, größtenteils von Menschen, von denen wir noch nie gehört haben. Dies ist ein logisches Ergebnis der Art und Weise, wie unsere demokratische Gesellschaft organisiert ist.

"Demokratie" wird demnach von "Demokraten" gesteuert, die Ordnung in das Chaos der Masse bringen, und hat mit "Volkssouveränität" und ähnlichen Dingen nichts zu tun. Bernays war ein Neffe von Sigmund Freud und stark von dessen Thesen beeinflußt, die er nutzbar machen wollte, um die Steuerung der Massen - ihr Konsumverhalten, ihr Wahlverhalten, ihre Meinungsbildung - zu perfektionieren.

Der britische Filmemacher Adam Curtis hat Bernays' und Freuds Einfluß auf die Praxis der Propaganda und der "Public Relations" im 20. Jahrhundert brilliant in seinem vierteiligen Dokumentarfilm The Century of the Self (2003) dargestellt.

Entscheidend ist dabei für Ellul, daß der Rezipient der Propaganda nicht bloß ein passiver Empfänger der Botschaften der Mächtigen und ihrer Regimes ist, sondern daß es innerhalb der Massengesellschaft ein enormes Bedürfnis nach Propaganda gibt, das die Propagandisten wiederum zu befriedigen versuchen. Propaganda ist also ein tiefgreifendes soziologisches Phänomen, das den Zusammenhalt und die Funktionsweise der modernen Gesellschaften schlechthin gewährleistet.

Propaganda ist eine Form der Technik, die Ellul als rational ersonnenes, absolut gesetztes Organisationsprinzip definiert, das maximale Effizienz anstrebt und sämtliche Bereiche des menschlichen Lebens ordnen, steuern und optimieren soll: So gibt es industrielle, finanzielle, administrative, medizinische Techniken, Techniken des Regierens, der Ökonomie und der Erziehung. In einem säkularen Zeitalter wird die Technik zum Religionsersatz, bekommt einen quasi-sakralen Status und Nimbus verliehen.

In Christentum und Anarchie deutet Ellul die Propaganda als zweites apokalyptisches Tier der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, das den Endkampf der himmlischen mit den vom Satan beherrschten irdischen Mächten schildert. Dieses Tier folgt dem ersten Tier auf den Fuß, das die politischen Mächte seiner Zeit, vermutlich Rom, repräsentiert. Ellul zitiert dabei jene bekannte Stelle (Offb. 13, 12-17), die sich zur Zeit wieder großer Beliebtheit erfreut:

Es brachte die Erde und ihre Bewohner dazu, das erste Tier anzubeten... Es verwirrte die Bewohner der Erde durch die Wunderzeichen, die es im Auftrag des Tieres tat; es befahl den Bewohnern der Erde, ein Standbild zu errichten zu Ehren des Tieres... Es wurde ihm Macht gegeben, dem Standbild des Tieres Lebensgeist zu verleihen, sodaß es auch sprechen konnte. Die Kleinen und die Großen, die Reichen und die Armen, die Freien und die Sklaven, alle zwang es, auf ihrer rechten Hand oder ihrer Stirn ein Kennzeichen anzubringen. Kaufen oder verkaufen konnte nur, wer das Kennzeichen trug.

Ellul kommentiert:

Ich für meinen Teil sehe hierin eine exakte Beschreibung der Propaganda im Bündnis mit der Polizei. Das Tier hält Reden, die das Volk dazu verleiten sollen, dem Staat zu gehorchen und ihm zu huldigen. Es gibt ihnen ein Zeichen, das ihnen erlaubt, in der Gesellschaft zu leben. Und schließlich werden alle, die dem ersten Tier nicht gehorchen, zu Tode verurteilt.

Er sieht hier eine Widerspiegelung des römischen Staatskults durch die "Propaganda" der Tempel, Kaiserbilder usw., die die römische Macht auch in den eroberten Provinzen festigen sollte:

Es handelte sich um eine Art der Machtausübung, die auf Intelligenz und Glaubwürdigkeit beruhte, um freiwilligen Gehorsam gegenüber dem Tier zu erwecken.

Ellul trifft sich hier auf frappierende Weise mit einem an dieser Stelle oft rezipierten Autor, der politisch und religiös aus der komplett entgegengesetzten Richtung kam, nämlich Jean Raspail, der ein monarchistischer Katholik (und in einem gewissen Sinne kein "Christ") war. Auch er zeichnete in seinem Roman Das Heerlager der Heiligen (1973) die Propagandamaschinerie der Massenmedien als apokalyptisches Tier, und die Journalisten, Intellektuellen, Politiker, linksdrehenden Kleriker und sonstige Akteure des öffentlichen Lebens als seine geradezu dämonisch besessenen Diener.

Bei Raspail sind die verschiedenen apokalyptischen Tiere und ihre Funktionen jedoch nicht so klar voneinander geschieden wie in Elluls Deutung der Apokalypse. Die Tier der Massenmedien ist nicht bloß der Propagandist des physisch deformierten Antichristen auf den Schultern des falschen Propheten oder Moses aus der Dritten Welt, sondern eine unerklärliche, gestaltwandlerische Manifestation wahnhafter, selbstzerstörerischer Kräfte, die aus dem verfallenden Herzen der westlichen Zivilisation selbst aufgestiegen sind.

Konsequenterweise steht das Propaganda-Tier bei Raspail nicht so sehr im Dienste des Staates oder der Regierenden, die eher als hilflos Getriebene und utopisch Verblendete erscheinen, mit panischer Angst vor dem Druck der "öffentlichen Meinung". Seine Funktion ist vielmehr, jede Staatlichkeit und gewachsene, traditionelle Ordnung durch eine aufgeheizte, chiliastische Hypermoral zu unterminieren und ihren Kollaps voranzutreiben.

Raspail zeigt sich hier in vollkommener Übereinstimmung mit Arnold Gehlen, der im Schlußteil von Moral und Hypermoral ebenfalls die Heraufkunft eines satanischen "Reichs der Lüge" durch Medien- und Intellektuellenherrschaft beschwor, wobei der Antichrist "die Maske des Erlösers" trägt. Raspails Szenario hat allerdings auch Ähnlichkeiten mit Nietzsches polemischer Schilderung der christlichen Subversion der römischen Staatsordnung, die wiederum aus frühchristlich-apokalyptischer (man könnte auch sagen: jüdisch-messianischer) Perspektive dem Reich des Antichristen entspricht. Wir stehen also vor einer Art Vexierbild.

Einig sind sich Ellul und Raspail jedoch in einem Punkt: Die Propaganda ist nicht nur ein Regen, der unablässig auf die unschuldigen Hirne der Massen niederprasselt, sondern diese beteiligen sich vielmehr aktiv an ihrer Verbreitung und Multiplikation, saugen sie geradezu süchtig auf, bedürfen ihrer als Droge, Stimulans, Haltegriff, Sinnstiftungs- und Welterklärungsvehikel.

Ellul widmet die Hälfte seines Essays dem Nachweis, daß die Bibel "eine Quelle der Anarchie" sei, und muß sie dabei eingestandenermaßen recht selektiv lesen (wie es im Grunde jedermann getan hat, seit es so etwas wie eine "Bibel" gibt.)  Besondere Schwierigkeiten bereitet hier natürlich der Römerbrief (13, 1-7) über das Verhältnis des Christen zur Staatsgewalt:

Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalt unter. Denn es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen.

An diesem Brief des Apostel Paulus haben sich unzählige Theologen abgearbeitet, am berühmtesten wohl Karl Barth in seinem Kommentar Der Römerbrief (1919/1922).

Auf diese Problematik kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Stattdessen möchte ich zum Abschluß dieser Betrachtungen eine Stelle aus Elluls Essay zitieren, die wie ein Blitz in mich einschlug. Er spricht hier von seiner Desillusionierung von linker Politik und von Politik im allgemeinen, sowie der Notwendigkeit, ein "neues soziales Modell" zu begründen:

Die Sache ist umso dringlicher, als sämtliche unserer politischen Formen erschöpft und praktisch inexistent sind. Unser Parlaments- und Wahlsystem und unsere politischen Parteien sind ebenso nutzlos wie Diktaturen unerträglich sind. Nichts ist übriggeblieben. Und dieses Nichts ist zunehmend aggressiv, totalitär und allgegenwärtig. Wir machen heute die seltsame Erfahrung, daß wir vor ausgehöhlten politischen Institutionen stehen, in die niemand mehr Vertrauen hat; vor einem Regierungssystem, das allein den Interessen einer politischen Klasse und einem fast unendlichen Machtzuwachs dient; und vor einer sozialen Kontrolle, die sämtliche unserer Demokratien zu einem autoritäreren Mechanismus gemacht hat, als es der napoleonische Staat jemals war.

Jacques Ellul schrieb dies als Linker in den späten achtziger Jahren. Über dreißig Jahre später lese ich diese Sätze als Rechter, reibe mir perplex die Augen und empfinde Wort für Wort  dasselbe.  

Ellul fährt fort:

Dies ist das Resultat von Techniken [dazu zählt Ellul wie gesagt auch die Propaganda. - M.L.]. Man kann es nicht direkt eine Technokratie nennen, denn es sind nicht die Techniker, die das Sagen haben. Nichtsdestotrotz beruht die Macht der Regierungen auf Techniken, und es sind die Techniker, die hinter den Kulissen die Ideen liefern und ihre Verwirklichung ermöglichen.

Es ist müßig, an dieser Stelle über Dinge zu diskutieren, die ohnehin jeder weiß: Über das Wuchern des Staates, der Bürokratie, der Propaganda (unter dem Deckmantel von Öffentlichkeitsarbeit und Information), der Konformität, einer Politik, die uns alle zu Produzenten und Konsumenten machen will, usw.

Auf diese Entwicklung gibt es schlicht und einfach keine Antwort. In der Tat gibt kaum jemanden mehr, der sie in Frage stellt. Die Kirchen haben erneut ihre Aufgabe verraten. Die Parteien spielen veraltete Spielchen. Unter diesen Umständen betrachte ich die Anarchie als die einzige, ernsthafte Herausforderung, als den einzigen Weg, um Bewußtheit zu erlangen, als den ersten aktiven Schritt.

Ist "Anarchie" auch für Rechte eine Option? Womöglich ja, wenn sie verstanden wird als Abwehr eines totalitären Machtzugriffs, sei er staatlicher, überstaatlicher, medialer oder "gesellschaftlicher" Natur.

Wir Oppositionellen und Dissidenten rennen seit Jahren gegen ein System an, das sich gegen jede Veränderung abgesichert hat und mit unlauteren Mitteln spielt, sodaß ein Herausforderer das heuchlerisch dargebotene Spiel gar nicht gewinnen kann.

Das System begnügt sich jedoch nicht damit, uns bloß abzuwehren. Es will uns keine Rückzugsgebiete lassen und bedarf gleichzeitig unserer als Buhmänner, um seine Existenz zu rechtfertigen (wie soll der mit einer Milliarde Euro budgetierte "Kampf gegen rechts" konkret aussehen?)  Mit der "Coronaviruskrise" hat es die nächste, unhintergehbare Zündstufe erreicht, wie David Engels unlängst beschrieb.

Im Dezember 2020 schrieb Götz Kubitschek eine Absage unter dem Titel  "Dem Staat verlorengehen":

Glauben wir noch an Reformierbarkeit? Glauben wir noch, daß es Politiker geben könnte, die den Staat zu einem erneut würdigen, schlanken, effektiven Gebilde reformieren und zugleich verhindern könnten, daß er zur Beute globaler, vernutzender, ortloser, asozialer Spieler würde?

Glauben wir an Entbürokratisierung plus Staatsidee? An effektive Solidarität? An Patriotismus und Freiheit, an Selbständigkeit und Schutz, an Staatsdienst und Dankbarkeit?

Ich glaube nicht mehr daran. Das hat lange genug gedauert. Es lag an meiner Überzeugung, man könne ohne Rücksicht auf wirtschaftliche, technische und soziale Bedingtheiten doch so etwas wie »reine Politik« treiben, also: eine Staatsidee Gestalt werden lassen, die den Bedingtheiten übergeordnet wäre, etwas wie Dienstbereitschaft, Selbstkontrolle, Bescheidenheit, Effektivität.

Diese mobilisierende Vorstellung hat sich als Illusion erwiesen, der Weg zur Ernüchterung führte von Pegida über den Aufstieg der Alternative zuletzt mit Siebenmeilenstiefeln dorthin, wo zigtausend Bürger hilflos gegen eine zynische Staatsmacht anrennen.

Und er schloß mit einem Mohler-Zitat:

»Die Rechte kann heute keine rein konservierende Funktion haben – ihre Funktion muß vielmehr auf weite Strecken eine sprengende sein«, schrieb Armin Mohler einmal. Sie müsse »eine sichere Witterung dafür besitzen, wieviel sie sprengen darf, ohne die Substanz zu verletzen.« Dies ist heute mehr denn je unsere Aufgabe. Wir müssen über den Staat anders nachdenken.

Jacques Ellul schrieb 1988, angesichts seiner Absage an das politische System: "Wir müssen jetzt neu beginnen."

Brauchen also auch wir einen Neustart, einen  "Great Reset von rechts"? Aber wie?

 

Jacques Ellul, 1990 (Wikipedia).   ML

 

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