Stationen

Freitag, 23. Juli 2021

So einen Großvater zu haben, ist mehr wert als alles Gold der Welt

Thea Saalheimer war 17, als sie Anfang 1939 vor dem Naziterror nach Tel Aviv floh, wo sie sich in Max Wolffsohn verliebte. 15 Jahre später kehrten die beiden mit ihrem damals siebenjährigen Sohn, dem heutigen Historiker und Achgut.com-Autor Michael Wolffsohn, nach Deutschland zurück. Hier ein Auszug aus der im April 2021 neu erschienenen Jugendbuchversion von Michael Wolffsohns „Deutschjüdische Glückskinder“.

Auf die Frage, wie er überhaupt dazu kam, seine Familiengeschichte in einen Jugendroman zu verwandeln, antwortet Michael Wolffsohn:

Mein damals siebenjähriger Enkel Noah wollte ‚mehr über Juden und Hitler wissen‘. Also wurde, mit Hilfe seiner Eltern, Großmutter und der befreundeten Buchhändlerin Rachel Salamander das inhaltlich passende und altersgemäße Buch gesucht – doch nicht gefunden. Zum längeren Erzählen, nebeneinander sitzend, war der geografische Abstand zwischen Noahs und meinem Wohnort zu groß. Sollte ich den jungen Mann hängen lassen? Keinesfalls. ‚Noah, ich schreib´s für Dich, unsere anderen Enkel und, wenn sie mögen, auch für andere Kinder, größere und kleinere.' So begann auf meine alten Tage meine ‚Karriere‘ als Jugendbuchautor.

Als Rahmenhandlung wählte ich meine deutschjüdische Familiengeschichte und als Hauptperson meine Mutter: Geboren 1922 in Bamberg, Flucht nach Britisch-Palästina auf den ‚letzten Drücker‘ im März 1933, Zweiter Weltkrieg und Rommel, im Klartext: Hitler ante portas, dann die ersten Jahre Israels, 1954 Rückkehr nach Deutschland, West-Berlin – ‚trotz allem und nach allem‘.

Ein Wahnsinn, von ‚Glückskindern‘ zu sprechen? Nein. Warum? Wer will, lese.“

Gerettet waren nicht nur die Wolffsohns, sondern auch Thea und die Familie Saalheimer. Nach den dunklen Monaten in Deutschland kamen sie im März 1939 mit dem Schiff in Britisch-Palästina, in der Stadt Haifa, an.

Sonne! Freiheit! Und was für ein Blick – das Meer direkt vor ihnen! Die Gluthitze konnte ihnen nichts anhaben. Die Mädchen waren jung, endlich frei und im siebten Himmel.

Thea und ihre Familie waren Einwanderer de luxe: Sie wurden mit dem Auto abgeholt. Der Fahrer ihres Onkels Fredi, der schon Jahre zuvor nach Britisch-Palästina ausgewandert und dort Bankdirektor geworden war, brachte sie in ein Spitzenhotel auf dem Kamm des Karmelberges. (Übrigens und nebenbei: Wenn ihr in der Bibel lest, findet ihr eine spannende Geschichte über den Propheten Elias auf dem Karmelberg.)

Die Saalheimers waren also in Haifa angekommen. Tags darauf ging es nach Tel Aviv. Ihr Onkel Fredi war nicht nur ein reicher, sondern auch ein guter Mensch. Er nahm die Familie in seiner Vierzimmerwohnung in der Hajarkonstraße 99 auf. Das Haus mit schönster Architektur, direkt an der Strandpromenade, hatte ein deutscher Architekt gebaut. Auch er war Jude, auch er war vor Hitler geflohen. Das Schlafzimmer überließ Fredi Justus und Gretl.

Schon bald fanden die Saalheimers eine eigene Wohnung am Boulevard Chen 8, mitten in Tel Aviv: eine schöne Dreizimmer-Wohnung mit zwei Balkonen, großem Bad und einer wunderschönen Fassade. Das Haus war im sogenannten „Bauhaus-Stil“ erbaut, dem modernsten Architekturstil seiner Zeit. Woher der Bauhaus-Stil stammte? Aus Deutschland. Dort war er von vielen Juden entwickelt worden. Nach ihrer Flucht bauten sie in ganz Tel Aviv schöne Häuser in diesem Stil.

Als Thea 1939 mit ihrer Familie dort ankam, war Tel Aviv ein verschlafenes Nest, und die heutigen Riesenbäume auf dem Boulevard Chen waren nichts als kümmerliche Zwergpflanzen. „Diese mickrigen Streichhölzer werden nie wachsen“, verkündete Opa Justus. „Den ganzen langen, heißen Tag knallt die Sonne drauf, und Wasser gibt’s eh nicht.“ Von Pflanzen verstand Justus so viel wie ich vom Seiltanzen, also weniger als nichts: Inzwischen ist der Boulevard Chen mit riesigen, Schatten spendenden Bäumen bewachsen. Sie stehen in der Mitte zwischen zwei Fahrbahnen. Spielmöglichkeiten für Kinder gibt es zuhauf.

Tel Aviv ist heutzutage eine der lebendigsten Städte weltweit. Lebenslustig und eine „Stadt, die niemals schläft“. Gleich um die Ecke der Wohnung der Saalheimers steht die herrliche Konzerthalle der Israelischen Philharmoniker (die damals noch „Palästinensische Symphoniker“ hießen), weitere zwanzig Schritte entfernt das Nationaltheater „Habima“.

Das zionistisch geprägte Jüdisch-Palästina war 1939 eine ganz und gar lockere Gesellschaft: Die Leute waren stolz darauf, als Bauern zu arbeiten, und auch diejenigen, die keine Bauern waren, kleideten sich lässig. Trotz der Wasserarmut duschten alle täglich, waren also immer picobello sauber. Verpönt war in der gewollt einfachen jüdischen Gesellschaft von Britisch-Palästina jede Art von bürgerlich-festlicher Abendgarderobe. Tel Aviv war anders. Die Stadt gehörte mit ihrem Bauhaus-Stil zu den Pionieren moderner Architektur; und hier konnten die Leute zumindest manchmal festlich gekleidet sein, wie sie es aus Deutschland kannten.

Bald nach ihrer Ankunft führte Onkel Fredi Thea und ihre Schwestern in ein Konzert der Palästinensischen Symphoniker. Arturo Toscanini, einer der berühmtesten Dirigenten der damaligen Zeit, stand am Pult. Endlich konnten die Mädchen Musik hören und ihre schicksten Kleider anziehen! Sie fühlten sich wie im Paradies. Endlich Musik, endlich Frieden, endlich Sicherheit!

Doch schon bald war Schluss mit der vermeintlichen Sicherheit. Bums. Bums. Bums. Kaum waren Opa Justus und seine vier Frauen in die Tel Aviver Wohnung eingezogen, da knallte es. Ein Geschoss nach dem anderen schlug gegen die Fassade des schönen Hauses Boulevard Chen 8.

Im Frühjahr 1939 herrschte nämlich Bürgerkrieg in Britisch-Palästina. Die arabischen Palästinenser wollten Juden und Briten aus Palästina rausbombardieren. Sie meinten damals – und manche meinen es noch heute –, das Land gehöre nur ihnen und nicht den Juden. Die Juden sahen und sehen das genau anders. Sie sagen: „Nur hier, in dem Land, aus dem unsere Vorfahren ursprünglich kommen und aus dem wir vor über 2000 Jahren vertrieben wurden, können wir frei und sicher leben und selbst über unser Leben bestimmen. Wir haben nichts dagegen, dass hier auch Palästinenser leben, aber mit uns und nicht gegen uns. Wir lassen uns nicht wegbomben. Und ins Mittelmeer lassen wir uns ganz bestimmt nicht schmeißen.“

Das kann und konnte man damals erst recht verstehen, denn seit Beginn des Krieges verfolgten Hitler und die Nazis die Juden nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und darüber hinaus. Britisch-Palästina war für die Juden die einzige Hoffnung auf ein sicheres Leben.

Doch auch in Britisch-Palästina wurden Juden beschossen, nur weil sie Juden waren. Zahlreiche Nachbarhäuser der Saalheimers wurden getroffen, und einige Menschen starben dabei. Abgefeuert wurden diese Geschosse allerdings nicht etwa von Palästinensern, sondern von Deutschen! Deutsche, die sich „Templer“ nannten und schon lange in Palästina lebten. Ihre Vorfahren waren ungefähr hundert Jahre vorher nach Palästina eingewandert und hatten dort Siedlungen gebaut. Die Templer waren ursprünglich fromme Christen, die in dem Land leben wollten, wo zweitausend Jahre zuvor Jesus Christus gewirkt hatte und gekreuzigt worden war.

Jesus in Palästina? Ja, natürlich, denn Jesus, ihr erinnert euch, ist als Jude in Judäa geboren und gekreuzigt worden. Die Templer waren also deutsche Christen, und Sarona, eine ihrer Siedlungen, lag in unmittelbarer Nähe der Saalheimer-Wohnung am Boulevard Chen. Von dort schossen die in der Hitler-Zeit alles andere als frommen Templer wahllos auf Juden. Viele Templer waren nämlich fern der deutschen Heimat richtige Nazis geworden: Sie verehrten den „Führer“ Hitler wie einen Gott und waren, wie es sich für Nazis „gehörte“, Judenfeinde.

Auch die Palästinenser waren gegen die Juden, wenngleich, wie ich euch erklärte, aus ganz anderen Gründen.

So schlossen sich Templer und Palästinenser zusammen: Beide Gruppen wollten nicht nur die Briten verjagen, sondern auch die Juden. Deshalb ist es zwar traurig, aber nicht wirklich verwunderlich, dass Hitler sowohl den Templern als auch den Palästinensern Geld und Waffen für ihren Kampf gegen die jüdischen Einwanderer und die britischen Besatzer lieferte.

Natürlich zitterten bei jedem Geschoss-Einschlag nicht nur die Saalheimers, sondern alle Juden in Tel Aviv und ganz Palästina, ob jung oder alt. Natürlich fragten sie sich, genau wie Thea ihren Vater: „War es richtig, dass wir aus Deutschland hierhin geflohen sind? Hier werden wir ja schon wieder bekämpft!“

„Was für eine dumme Frage“, empörte sich Papa Justus. „Hier werden wir nicht wehrlos geschlachtet, hier können wir uns wehren. Zwar nicht du, die Mutti oder ich, aber die jüdischen Kämpfer. Durch ihre Gegenwehr verhindern sie, dass wir Juden abgeschlachtet werden. Je stärker wir sind, desto mehr schrecken wir unsere Angreifer ab. Irgendwann werden sie einsehen, dass der Kampf gegen uns nichts bringt.“

Zum Glück für Thea und ihre Familie verloren Palästinenser und Templer ihren Kampf, und dadurch verloren auch die Templer ihre Siedlungen, allen voran das hübsche Sarona. Wenn ihr heute in Tel Aviv seid und den Stadtteil Sarona besucht, werdet ihr in den einstigen Templerhäusern wunderschöne Geschäfte und kleine, schicke Restaurants – richtige „Fresstempel“ – finden. Sogar einen „Tempel“, wo man bayerische Weißwürste mit süßem Senf bekommt.

Wie sehr die Palästinenser damals von den Nazis unterstützt wurden, zeigt übrigens das Schicksal ihres Anführers. Der hieß Mohammed Amin al-Husseini. Nachdem der Palästinenser-Aufstand 1939 niedergeschlagen war, floh er nach Berlin, wo er von Hitler ehrenvoll empfangen wurde. Während des Zweiten Weltkriegs blieb er dort und versuchte, muslimische Soldaten für die Deutsche Armee anzuwerben. Es half weder Hitler noch al-Husseini: Am Ende verloren Hitler und mit ihm all seine Anhänger den Zweiten Weltkrieg.

Auszug aus dem Jugendbuch „Wir waren Glückskinder – trotz allem. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte“ von Michael Wolffsohn, 2021, dtv: München. Hier bestellbar.

 

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