Stationen

Sonntag, 25. Juli 2021

Manchmal wissen sie beim Spiegel gar nicht...

..., wie recht sie haben. 


Einer, der ebenfalls nicht weiß, inwiefern die Spiegelfechter von der Relotiusspitze recht haben, kommentiert:

„Auf die mündlichen Traditionen verschiedener indigener Kulturen Nordamerikas zurückgreifend, schreibt der indianische Gelehrte Jack D. Forbes in seinem Buch ‚Columbus and Other Cannibals’: ‚Seit mehreren Jahrtausenden haben Menschen unter einer Pest gelitten, schlimmer als Lepra, eine Krankheit, schrecklicher als Malaria und entsetzlicher als die Pocken.’ Die Algonquin und andere indigene Völker bezeichneten die Geisteskrankheit des weißen Mannes, der im 15. und 16. Jahrhundert in ihren Heimatländern ankam, als ‚Wetiko’. Wörtlich übersetzt bedeutet das Kannibalismus: ‚der Konsum eines anderen Lebens für den eigenen privaten Nutzen oder Profit’. Forbes schließt daraus: ‚Diese Krankheit ist die schlimmste Epidemie, die der Mensch jemals erlebt hat.’

Wetiko – oft als mentales Virus verstanden – verbreitet die tiefsitzende Illusion, als Mensch hoffnungslos im Käfig eines von der Welt getrennten Egos gefangen zu sein. Aus dieser Perspektive der Isolation erscheinen andere entweder als Konkurrenten oder (mögliche) Beute. In einem Weltbild der Angst erscheinen Kampf und Ausbeutung als rational – und Anteilnahme als lächerliches und sentimentales Gefühl.

Nach 5000 Jahren Patriarchat, 500 Jahren Kapitalismus und 50 Jahren Neoliberalismus bestimmt die Wetiko-Krankheit fast alle Bereiche unserer westlichen Gesellschaft. Dass wir ein ökonomisches System akzeptieren, welches die größtmögliche Vernichtung der natürlichen Welt als ‚Erfolg’ feiert, ist ein Symptom unserer Infizierung mit dem Virus. Wetiko hat unsere Herzen betäubt und macht es uns unmöglich, die Heiligkeit und den Schmerz des Lebens zu empfinden – weder in uns noch um uns herum. Unzählige Wesen gehen heute an dieser chronischen Unfähigkeit zum Mitgefühl zugrunde.

Von der zwanghaften Fixierung auf künstliche Werte wie die Profitmaximierung in der Ökonomie bis zur Pandemie gescheiterter und missbräuchlicher Liebesbeziehungen wurde die Wetiko-Krankheit so weit Teil unserer Normalität, dass sie kaum noch als Krankheit erkannt wird. Ein Kult von Selbstbezogenheit hat das soziale Gewebe der Menschheit von innen her verfault gemacht und die Erde entheiligt. Die Folge ist eine Welt voller Angst – Angst vor Trennung, Angst vor dem Tod, Angst vor dem Leben, vor Sexualität, vor Bestrafung, vor dem kommenden Kollaps… Hinter der Fassade bürgerlichen Anstands verbirgt sich ein psychologischer Untergrund, in dem die Folgen der strukturellen Angst ungehindert um sich greifen: Dauerwut, allgemeines Misstrauen, Sucht, Depression, Langeweile, Perversion, zwanghafter Konsumismus, Kontrollzwang und eine heimliche oder offene Faszination für Gewalt.”

 

Spontan ist man geneigt, dieser Diagnose beizupflichten. Solcher Zustimmung will ich als geborener Spielverderber allerdings die Frage in den Weg stellen: Verglichen womit? Zitiert wird ein nordamerikanischer Indianer. Deren Stämme fanden seit Olims Zeiten Vergnügen daran, sich gegenseitig zu bekriegen, zu massakrieren, zu opfern und zu martern; um Gefangene zu versklaven, hätten sie sich in irgendeiner Weise wirtschaftlich entwickeln müssen (denn das haben Sklaven mit Gastarbeitern gemeinsam: Man braucht Jobs für sie). Der Zusammenstoß mit den weißen Eroberern führte zu einem sich-gegenseitig-Überbieten mit Greueltaten. Die Lage der Indianer, die auf ihrem Kontinent von jenen Bleichgesichtern verdrängt wurden, deren Nachkommen heute als Entschuldigung nicht mehr „Indianer” sagen oder spielen dürfen sollen, war tragisch, gewiss, aber wie sähe die Alternative aus? Hätte Amerika ein bis heute von gentilgesellschaftlich organisierten Nomaden äußerst dünn besiedelter Erdteil bleiben sollen?

Die Indianer waren so brutal und „unmenschlich” wie die Weißen auch; welcher heutige Antirassist wäre, sagen wir um 1700 einem Trupp Irokesen oder um 1800 einem Reiterschwadron der Comanchen gern in die Hände gefallen? Aber sie lebten im Einklang mit der Natur!, werden sofort unsere Öko-Esoteriker und Spät-Rousseauisten rufen. Aber was gibt es Grässlicheres als die Natur? Wie herrlich und einstweilen noch sicher lässt es sich dagegen in der „Wetiko”-Zivilisation leben! Die Natur ist ein einziges Gemetzel, jedes Wesen lebt umstellt von Zähnen, Klauen, Krallen, Giftstacheln und Zangen, kein Leben ist heilig, kein Tier stirbt in Würde im Alter, sondern wird in seiner Schwäche zu Tode gehetzt und während der Agonie gefressen, ob nun von Hyänen, Geiern, Artgenossen oder Ameisen, während dem Raubtier am besten das Neugeborene des Beutetiers mundet. Sprachen wir schon von Hitze und Kälte, von Parasitenbefall, Stechmücken, Viren und Bakterien, von der wirklichen Pest, von Cholera, Typhus, Schlafkrankeit und Pocken? Es waren von „Wetiko” Besessene, die diese Plagen ausrotteten, den Menschen Straßen, Krankenhäuser, Kanalisation, Strom, fließendes Wasser, Fernwaffen, feste Gebäude, Kühlschränke und sogar warme Mahlzeiten im Fliegen verschafften. Wie lächerlich mir die Naturromantik ist! Speziell wenn sie von Leuten verbreitet wird, die in der echten freien Natur keine Woche – wenn Raubtiere in der Nähe sind keine fünf Minuten – überleben würden. Die Natur genussvoll von außen zu betrachten, ist das eine, Natur zu sein das andere, hat ein Klassiker, ich glaube Schopenhauer, geschrieben. Liebe zur Natur, ich wiederhole es, ist ein Stockholm-Syndrom. Die Natur bringt uns verlässlich um. Die einzig erträgliche Natur ist die vom Menschen domestizierte oder eingehegte bzw. ausgesperrte.

Ausschließlich dem Westen „Wetiko” zu unterstellen, verkennt, dass es nirgends, wo Leben ist, etwas anderes gibt und dass die sogenannte Natur mit Vulkanausbruch, Erdbeben und Asteroideneinschlag mehr Arten vom Antlitz der Erde getilgt hat, als es dem Menschen je vergönnt sein wird.

Aber natürlich sind die wirtschaftlichen und technischen Erfolge der ausgeprägtesten „Wetiko”-Lebensart verantwortlich dafür, dass auf diesem Planeten heute knapp acht und bald zwölf Milliarden Menschen leben, weshalb die Menschheit einer dunklen, von Verteilungskämpfen und Staatszusammenbrüchen geprägten Zukunft entgegenstrebt. „Wetiko” hat die gleichgültig-teilnahmslose Harmonie der Natur gestört und das beispiellose Wagnis begonnen, eine Spezies aus diesem langweiligen Kreislauf ausbrechen zu lassen. Wie auch immer das Experiment ausgeht: Ein Gewehr, ein Kompass oder eine Muskatnusstaschenreibe sind mehr wert als der Grand Canyon.  MK

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