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Freitag, 30. Juli 2021

Wie man einen Walzer mit großen Schritten tanzt

Es gibt in der Geschichtswissenschaft – dieser Begriff ist ein Oxymoron, ich weiß – bekanntlich Fragen, die von Tabus umstellt sind. Die Existenz historischer Tabus hat immer und ausschließlich mit politischen Machtansprüchen in der jeweiligen Gegenwart zu tun. Solche Denkbeschränkungen haben also keinerlei Anspruch auf Dignität; sie zu attackieren ist die Pflicht jedes Geistesmenschen. In diesem Sinne ist ein revisionistischer Historiker ein weißer Schimmel – das Gegenteil wäre der Staats- oder Kirchenhistoriker. Da die meisten Professoren Staatsbeamte sind bzw. vom Staat finanziert werden, vertreten auch die meisten Geschichtsprofessoren die in ihrem Fach politisch erwünschten Positionen. Wenn es dort Tabus gibt, werden sie mehrheitlich nicht daran rühren, denn das brächte nur Ärger. Allerdings schützt nicht notwendig jedes Tabu eine Legende oder eine Mythe; es kann auch eine Wahrheit schützen, so wie gewisse Wahrheiten „rassistisch” sein können und Diktatoren im Recht. Jedenfalls dürfte es auf Erden nur wenige Länder geben, in denen tabulos über sämtliche historischen Fragen diskutiert werden kann, irgendein staatstragender Mythos war und ist immer gefährdet.

Alle Tabus im besten Deutschland, das es je gab, hängen mit dem Dritten Reich zusammen. Dessen Überführung aus der Historiografie in die Dämonologie ist hierzulande halbwegs abgeschlossen. Das heißt, die Nationalsozialisten dürfen niemals, mit keiner ihrer Handlungen und auch nicht im abseitigsten Detail, im Recht gewesen sein, denn das würde ihre Verbrechen relativieren, wie das etablierte Eselswort heißt. Vor diesem Hintergrund muss man auch die Diskussion über die sogenannte Präventivkriegsthese betrachten, also die Frage, ob Hitler im Juni 1941 Stalin mit seinem Angriff nur zuvorkam.

Zuletzt hat sich Wladimir Putin zu diesem Thema geäußert, und zwar ungefähr so, wie sich ein KPdSU-Generalsekretär dazu hätte äußern können: Die Sowjetunion trage, erstens, keine Mitschuld am Ausbruch des Weltkrieges, den sie, zweitens, praktisch im Alleingang gewonnen habe. Putin hat den Sieg der Roten Armee über die Wehrmacht zur entscheidenden identitätsstiftenden Tat für das neue Russland erkoren, worin er sich nicht sonderlich von seinen kommunistischen Amtsvorgängern unterscheidet. Den Kommunismus selber hat er allerdings verabschiedet. Wie der Historiker Jörg Baberowski einmal sagte, hat der Kreml-Chef ein Land übernommen, das in Täter und Opfer des Kommunismus geteilt war, und die Chance zur Herstellung der inneren Einheit darin erblickt, alle gemeinsam zu Siegern über Nazideutschland zu erklären. Kollektiv Sieger zu sein ist ein Angebot, das sich schwer ablehnen lässt. Ein spiegelverkehrter Prozess lief bekanntlich im wiedervereinigten Deutschland ab, dessen Gründungsmythos nach dem Willen u.a. des Hl. Joschka und seines Ordens vom schuldhaften Deutschsein Auschwitz heißt und dessen gesamte Mentalität vom Zusammenbruch 1945 geprägt ist (die 68er hätten ihre Väter vergöttert, wenn sie den Krieg gewonnen hätten).

Bevor ich noch weiter abschweife, zur Sache. Vor vier Tagen fand in Schnellroda eine Podiumsdiskussion zwischen dem AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah und dem Historiker Stefan Scheil statt, in der das Thema kontrovers – tatsächlich kontrovers – diskutiert wurde. Hier treffen zwei Diskutanten aufeinander, von denen der eine sich für meine Begriffe zu sehr die russische Position zu eigen macht, während der andere in Bezug auf Hitler und die Seinen die Grenze zwischen Verstehen und Verständnis – ich könnte auch sagen: Exkulpation – verwischt. Aber es ist ein interessanter, freier Dialog, und allein deswegen hörenswert.

Die Veranstaltung stand unter dem plakativen Motto: „1941 – Präventivkrieg oder Überfall”. Ein Überfall war das Unternehmen „Barbarossa” keineswegs; wenn zwei hochgerüstete Riesenarmeen gegeneinander aufmarschiert sind, kann diejenige, die mit den Kampfhandlungen beginnt, die andere Seite schwerlich überfallen. Überfallen kann man auf Staatsebene nur einen unvorbereiteten Gegner. Der „Überfall” war ein Angriff. Aber ein Präventivkrieg?

Die Sache mit dem Präventivkrieg hat zunächst eine triviale Seite. Nahezu jeder Angriff eines Staates auf einen anderen wurde im Nachhinein als Präventivschlag verkauft, also als Versuch, dem Gegner zuvorzukommen. (Sogar das Imperium Romanum ist eigentlich nur entstanden, weil die Römer ihre Grenzen sichern wollten.) Nach diesem Muster hätte Stalin, wenn er 1941 angegriffen hätte, einen Präventivkrieg geführt. So hatte es ihm Marschall Schukow in seinem Memorandum vom 15. Mai 1941 ja auch vorgeschlagen: Wir müssen Hitler zuvorkommen. Wörtlich: „Wenn man in Betracht zieht, dass Deutschland sein Heer mit eingerichteten Rückwärtigen Diensten mobil gemacht hält, so kann es uns beim Aufmarsch zuvorkommen und einen Überraschungsschlag führen. Um dies zu verhindern und die deutsche Armee zu zerschlagen, erachte ich es für notwendig, dem deutschen Kommando unter keinen Umständen die Initiative zu überlassen, dem Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und das deutsche Herr dann anzugreifen, wenn es sich im Aufmarschstadium befindet, noch keine Front aufbauen und das Gefecht der verbundenen Waffen noch nicht organisieren kann.”

Wenn man weit genug vom Panoramagemälde des Zweiten Weltkriegs zurücktritt, wenn man gewissermaßen vom Mars auf die Erde blickt und zugleich einen größeren Zeitraum als nur den Sommer 1941 ins Auge fasst, dann führte Hitler gegen Stalin einen Präventivkrieg, weil er eben derjenige war, der als erster angriff. Die beiden großen Ideologiestaaten des 20. Jahrhunderts mussten irgendwann aufeinderstoßen, und einer hatte den Anfang zu machen. Egal, wer von beiden diesen Anfang machte, er kam dem anderen zuvor. Wir drehen uns im Kreise einer wechselseitigen Tautologie. Hat der Begriff Präventivkrieg dann noch einen Sinn?

Um die Frage einzuschränken, muss sie lauten: Führte Hitler auch subjektiv einen Präventivkrieg? War er sich dieser Tatsache bewusst? Oder führte er sozusagen einen unbewussten Präventivkrieg?

Der Feldzug gegen die Sowjetunion werde ein „Sandkastenspiel”, frohlockte der deutsche Führer vor dem Angriff; die Rote Armee sei ein „Witz”. Alfred Jodl ließ seinem Stab ausrichten, „nur das für den Sommer nötige Gepäck” mitzunehmen, bis Herbst sei man „bestimmt wieder zurück”. „Der Bolschewismus wird wie ein Kartenhaus zusammenbrechen”, notierte Joseph Goebbels in sein Tagebuch. Die Russen würden „überrannt wie bisher kein Volk”. In der Nacht vor Beginn des „Sandkastenspiels” schien Hitler indes eine Ahnung zu beschleichen. Ihm sei zumute, sagte er, als würde er „die Tür zu einem dunklen, nie gesehenen Raum” aufstoßen, „ohne zu wissen, was sich dahinter befindet”. Spricht so jemand, der präventiv zu handeln meint? Der Unwille der Nazi-Führung, zwischen einem Krieg gegen den Bolschewismus und einem Krieg gegen die „slawischen Untermenschen” zu unterscheiden – also einen antikommunistischen Befreiungskrieg auszulösen und so das Sowjetreich zum Einsturz zu bringen –, spricht ebenfalls gegen die Präventivkriegsthese.

Mit der Hybris auf seiten der Nationalsozialisten korrespondierte eine verblüffende Unkenntnis der Kräfte des Gegners. Die Wehrmacht war sowohl überrascht von der enormen Zahl als auch von der Qualität der sowjetischen Waffen. Schwere Panzer wie den T 34 oder den Kliment Woroschilow (KW) besaßen die Angreifer nicht. Heinz Guderian schreibt in seinen Erinnerungen, dass Hitler noch im Frühjahr 1941 einer russischen Offizierskommission gestattet habe, die deutschen Panzerschulen und Panzerfabriken zu besichtigen, und die Russen angesichts des Panzers IV nicht glauben wollten, „daß dieser unseren schwersten Typ darstellte. Sie erklärten immer wieder, wir verheimlichten ihnen unsere neuesten Konstruktionen, deren Vorführung ihnen Hitler zugesagt habe.” Hitler selber hat beteuert, dass ihm der Entschluss, die UdSSR anzugreifen, weit schwerer gefallen wäre, wenn er gewusst hätte, auf welchen Gegner er sich einließ.

Auf den rationalen Kern zusammengeschmolzen und von ideologischem Tamtam befreit, bleibt von der sogenannten Präventivkriegsthese die Frage übrig: Plante Stalin einen Krieg, und wenn ja, mit welchen Zielen? Stalin war ein Fuchs, verschlagen, schlau und argwöhnisch. Hitler war ein Hasardeur, er spielte immer va banque, und er war besessen von der Idee, dass er zu seinen Lebzeiten alle seine Ziele erreichen müsse. In diesem singulär egozentrischen Weltbild spielte präventives Handeln so wenig eine Rolle wie das Denken in traditionellen staatlichen Einflusssphären. Der Fuchs hat den Hasardeur bekanntlich besiegt. Ob er im Sommer 1941 bereits angriffsbereit war, steht dahin. Wie weit er vorstoßen wollte, ebenfalls. Dass er angreifen wollte, wenn sein deutscher Zwillingsbruder in einem Krieg im Westen gebunden sein würde, steht außer Zweifel. Stalin war das russische Volk so egal wie Hitler das deutsche. Aber den Selbstmord betrachtete der rote Massenmörder nicht als Option. Va banque hätte er nie gespielt.

Über all das sollte man frei diskutieren können. Leider scheint sich Wladimir Putin entschieden zu haben, dem deutschen Tabu-Gatter ein russisches Gegenstück beizugesellen.     MK

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