Stationen

Sonntag, 11. Juli 2021

Wer an den lieben Gott glaubte, wusste wenigstens, dass er glaubte

Wir sind Gläubige. Immer noch. Dreihundert Jahre nach Beginn der Aufklärung kleben wir nach wie vor an gefühlten Gewissheiten, eingefahrenen Denkmustern und erlernten Normen. Vielleicht glauben wir mehrheitlich nicht mehr an Gott. Religionssoziologische Studien legen das nahe. Dafür aber glauben wir umso intensiver an ein ganzes Panoptikum neuer Götter: an den Universalismus, die Globalisierung, die Digitalisierung, an Integration und Inklusion, an die Zivilgesellschaft, an Lockdowns und Feinstaubwerte. Und auch die neuen Götter erweisen sich als eifersüchtig und wenig tolerant. Sie dulden keine anderen Götter neben sich.

Ein ernüchterndes Ergebnis. Dies umso mehr, als unseren Kindern in der Schule seit Jahrzehnten angeblich kritisches Denken beigebracht wird. Man hat schliesslich aus der Geschichte gelernt. Nicht nur in Deutschland. Also gibt man vor, den Nachwuchs zu intellektueller Eigenständigkeit zu erziehen, Fragen zu stellen und Autoritäten gegenüber skeptisch zu sein. Selten ist man grandioser gescheitert.

Denn noch immer wird unsere Gesellschaft von gefühlten Gewissheiten beherrscht, von intellektuellen Tabus und Überzeugungen, die man zu haben hat, möchte man nicht die soziale Ächtung riskieren. Insbesondere in den letzten zwanzig Jahren hat sich ein ganzes Tableau von Ansichten zu Themen wie Klimaschutz, Migration, Gender oder Minderheiten herausgebildet, die zusammen eine säkulare Glaubenslehre bilden. Wer sie kritisiert oder anzweifelt, gilt als Häretiker und latente Gefahr für die Gesellschaft.

Eine neue Betulichkeit feiert fröhliche Urständ, nur kommt sie bei weitem nicht so gemütlich daher wie der alte Biedermeier. Hinter der Fassade leutseliger Bürgerlichkeit und zur Schau gestellter Achtsamkeit ist man unverhohlen aggressiv. Die Inklusion, von der die vorgeblichen Menschenfreunde so gerne schwärmen, erweist sich als radikale Exklusion, als Ausgrenzung unliebsamer Gedanken und Milieus mit dem Ziel, ein neues, homogenes Gemeinwesen zu schaffen. Unsere Gesellschaft ist nicht nur ebenso gläubig und dogmatisch wie die mittelalterliche. Sie ist auch genauso engstirnig.

Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass das Projekt Aufklärung krachend gescheitert ist. Der Glaubenseifer hat in den letzten zweihundert Jahren kein bisschen nachgelassen. Nur die Glaubensinhalte haben sich gewandelt. Man glaubt nicht mehr an Gott, Himmelfahrt und Auferstehung, sondern an Diversität, Klimaprognosen und Inzidenzen.

Und auch die Neigung zur Toleranz hat über die Jahrhunderte keinesfalls zugenommen. Schon die Wiederkehr der totgeglaubten Figur des Leugners in neuem Gewand ist verräterisch. Galt einst der Gottesleugner als Verkörperung tiefster Verwerflichkeit, so erzeugen nun Klima- und Corona-Leugner allgemeine Empörung. Und wie schon vor der heiligen Inquisition wird man nicht nur durch Leugnen zum Leugner. Schon das Stellen kritischer Fragen reicht dafür aus.

Um all die Abweichler und Ungläubigen zu bekämpfen, bedarf es des modernen Exorzisten: des Experten, der im Zeichen der richtigen Gesinnung all jenen entgegentritt, die von der herrschenden Glaubenslehre abweichen. Seine Aufgabe: ketzerische Lehren und ihre Anhänger dem Fegefeuer der öffentlichen Meinung anheimzugeben. Mit Tatsachen allein ist dies jedoch nicht getan. Denn über Tatsachen kann man diskutieren.

Also verbindet der Experte seine empirischen Kenntnisse mit normativer Einschätzung. Wissenschaftliche und moralische Sprache beginnen ineinander zu verschwimmen. Die Grenze zwischen Fakten und Moral wird bewusst aufgehoben. Aus jeder Messreihe wird ein Vorwurf, aus jeder Beobachtung eine Anklage, aus jeder Studie eine Mahnung.
Datensätze zur Klimaentwicklung, zu einem Infektionsgeschehen oder zu sozialen Entwicklungen werden unter der Hand des Experten zum Tribunal. Und die gläubige Gesellschaft lauscht ihm schaudernd und ergriffen.

Der Experte ist der Prediger spätmoderner Gesellschaften. Egal ob bei Klima und Corona, Ernährung, Finanzen oder Partnerschaft: Er gibt der postreligiösen Gesellschaft Halt, Orientierung und damit eine Perspektive. Verlangte der Priester vergangener Jahrhunderte jedoch Beichte und Umkehr, so weiss der moderne Experte: Erlöst wird nur derjenige, der Grenzwerte einhält. Gleichgültig ob Feinstaub, CO2, Durchschnittstemperaturen, Infektionsinzidenzen, Kalorien, Kohlenhydrate oder Cholesterin: In allen Bereichen hat der Experte einen Grenzwert parat, der Seelenheil verspricht.

Diese Rhetorik ist deshalb so erfolgreich, weil sie die Terminologie einer technologisierten Gesellschaft benutzt. Der Versuch, das kritische Bewusstsein auszuschalten, bedient sich des Jargons der Aufklärung. Wer dem Experten und seinem moralischen Framing folgt, fühlt sich daher nicht als Gläubiger, sondern als Verfechter von Wissenschaftlichkeit und Rationalität.

Hinzu kommt, dass auch das angeblich autonome und emanzipierte Subjekt der Moderne Teil der Gemeinschaft sein will. Besonders ausgeprägt ist dieses Missverhältnis zwischen Selbstbild und Realität im Milieu der Kulturschaffenden, der Intellektuellen, der Künstler und Denker. Hier, wo man sich viel darauf einbildet, geistig unabhängig zu sein und angebliche Gewissheiten zu hinterfragen, ist es umso unverständlicher, wenn die Standardsätze des offiziell richtigen Meinens mit Hingabe reproduziert werden.

Der dabei zwangsläufig entstehenden kognitiven Dissonanz versucht man zu entkommen, indem man die eigene Mehrheitsmeinung in eine Aussenseiterposition umdeutet. In der Psychologie nennt man das Dissonanzreduktion: Die mit der geballten Deutungsmacht von elektronischen Medien, staatlichen Instituten und Stiftungen forcierte Weltinterpretation wird aus Sicht ihrer Apologeten zu einem von Querdenkern und Populisten bedrohten Minderheitenstandpunkt. Der eigene Opportunismus wird zum heroischen Widerstand.

Auch die Jugend als traditioneller Träger gesellschaftlicher Opposition ist in diese Simulation der Kritik eingebunden. Von der Kita an im Geiste von Gleichheit, Diversität und Nachhaltigkeit erzogen, sucht die Jugend der Spätmoderne überwiegend nicht die Konfrontation mit der etablierten Ideologie, sondern bekundet auf der Strasse, in NGO und sozialen Netzwerken ihre Gefolgschaft. Egal ob Klimawandel, Migration oder Genderpolitik: In keiner anderen Altersgruppe werden die einschlägigen Phrasen des Zeitgeistes unreflektierter nachgebetet als bei der sogenannten Generation Z. Die Jugend wird zur Avantgarde des Weiter-so.

«Mündigkeit ist vor allem Einsamkeitsfähigkeit», hat der deutsche Philosoph Odo Marquard einmal gesagt. Doch der Mensch der digitalisierten Spätmoderne ist nicht einsamkeitsfähig – und deshalb unmündig. Hineingeboren in eine sich immer weiter vereinzelnde Gesellschaft, die auf Kosten sozialer Bindungen immer mobiler und flexibler wird, versucht er verzweifelt dazuzugehören. Kritik, Opposition und Widerspruch gegen die herrschende Meinung vermeidet er ängstlich. Herausgerissen aus den sozialen Bindungen früherer Generationen, ist ihm die Angepasstheit an den moralpolitischen Zeitgeist die letzte Heimat. Sie will er auf keinen Fall verlieren.

Skeptizismus, die klassische Tugend des aufgeklärten Denkens, ist dem Heimatlosen suspekt. Kritik oder gar Zweifel will er sich nicht erlauben. Unsere spätmoderne Gesellschaft droht einer neuen Orthodoxie anheimzufallen. Der Anpassungsdruck nimmt weiter zu. Der Alltag wird tribunalisiert.

Doch ein Zurück in stabile soziale Verwurzelungen und feste, lebenslange Bindungen ist uns vorerst verbaut. Eine neue Kultur des Zweifels bedarf also des individuellen Mutes, gegebenenfalls allein und isoliert zu sein. Skeptizismus gedeiht nur auf dem Boden der Bereitschaft zu sozialer Distanz. Die Aufklärung wird durch Asoziale gerettet werden oder gar nicht.    NNZ

Alexander Grau ist Philosoph und Autor und lebt in München. 2019 ist im Claudius-Verlag sein Buch «Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität» erschienen. 

„Der Arzt sieht den Menschen in seiner ganzen Schwäche, der Advokat in seiner ganzen Schlechtigkeit und der Priester in seiner ganzen Dummheit.“ Schopenhauer

 

In Gendersprache hieße es jetzt so: „Arzt und Ärztin sehen den Menschen in seiner ganzen Schwäche, Advokat*innen in seiner ganzen Schlechtigkeit und Priester*innen in seiner ganzen Dummheit.“

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