Im Jahr 2001 nahm ich mein Jurastudium in München auf. Im Öffentlichen Recht durfte ich Vorlesungen bei zwei illustren Staatsrechtslehrern hören: Prof. Udo di Fabio und Hans-Jürgen Papier. Beide damals Richter am Bundesverfassungsgericht, letzterer sogar Präsident. Beiden Hochschullehrern zuzuhören war für sich genommen eine interessante Erfahrung, denn die Temperamente hätten kaum unterschiedlicher sein können. Hier di Fabio: Ein glühender mitreißender Redner, ein Anwalt der Freiheit und Vernunft, jede Vorlesung war voll. Grundrechte zum Anfassen. Dort der eher monoton vortragende Papier, Vorlesung: “Einführung in das Verwaltungsrecht”. Eine etwas weniger aufregende Materie. Die Vorlesung war schnell leer.
Gut 20 Jahre später ist mit Corona der Ernstfall auch für den Verfassungsstaat eingetreten. Und die Rollen tauschten sich um. Von di Fabio hörte man wenig Staatskritisches, der Luhmann-Schüler blieb ganz Positivist und Funktionalist. Kuscheln mit dem Covid-Narrativ. Gänzlich anders Papier: Der eher bedächtige Professor mauserte sich zum Löwen des Rechtsstaats und stellte sich als prominentester Kritiker des eigenen Gerichts nochmal ins Licht der Öffentlichkeit. Dazu muss man wissen: Kollegenschelte ist unter hohen Richtern quasi nicht existent, sofern man sich überhaupt in der Öffentlichkeit äußert. Papier wirft seine gesamte Reputation als Ex-Verfassungsgerichtspräsident in einer für den Verfassungsstaat höchst gefährlichen Situation in die Waagschale. Im Ernstfall muss man immer wieder mit den Unerwarteten rechnen. Papier ist für mich ein solcher Unerwarteter.
Die Selbstabschaffung des Rechtsstaats
Vor kurzem fand eine Diskussionsveranstaltung des konservativen Thinktanks Denkfabrik21 statt. Auf dem Podium saßen neben Hans-Jürgen Papier auch die Schriftstellerin und Landesverfassungsrichterin Juli Zeh, die Strafrechtlerin Jessica Hamed und der bekannte SZ-Journalist und ehemalige Richter Heribert Prantl. Den Ton setzte Papier in seinem Eröffnungsvortrag, der deutlicher kaum hätte ausfallen können. In Stichpunkten:
Das Bundesverfassungsgericht hat die Anforderungen des Rechtsstaats nicht hinreichend beachtet und durchgesetzt.
Es hätte bei der Bewertung der Maßnahmen stärker differenzieren müssen. Es hätte frühzeitig den staatlichen Stellen aufgeben müssen „durch intensive Sachverhaltsaufklärung und Datenermittlung eine rechtzeitige und aussagekräftige Evaluation zu ermöglichen“. Diese Evaluation ist bis heute nicht erfolgt.
Erwägungen, dass es „keine roten Linien“ (Scholz) mehr gebe, sind zurückzuweisen.
Eine Notstandsverfassung, die zur zeitweiligen Außerkraftsetzung der verfassungsmäßigen Grundrechte in Krisenzeiten führt, gibt es nicht.
Mit anderen Worten: Die staatlichen Stellen hielten eine unklare Datenbasis aufrecht und verhinderten die Schaffung einer echten evidenzbasierten Faktenlage. Diese Unklarheiten wurden durch die Gerichte nicht beseitigt, während sie die negativen Folgen dieses Zustands zugleich dem Grundrechtsträger auferlegten.
So kam es in Summe zu einer großen Rechtsschutzverweigerung durch die Gerichte. Es war, als hätte es eine stille Absprache staatlicher Stellen zur Aushöhlung der Grundrechte gegeben.
Die Runde ist sich hier ziemlich einig: Die Richterschaft hat in der Summe versagt. Diejenigen, die es nicht taten und beispielsweise bei der Maskenpflicht anders entschieden, werden exemplarisch gerade mit Verfahren wegen Rechtsbeugung überzogen. Besondere Kritik erfuhr das Urteil des Bundesverfassungsgericht zur „Bundesnotbremse“, über welches ich hier damals geschrieben habe und mich im Nachgang fragen musste, ob Corona das Bundesverfassungsgericht eingeschläfert hatte:
„Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist das Ende evidenzbasierter Rechtsprechung. Es ist ein Beispiel für Narrativrettungsargumentation. Warum? Zwar sagt das Gericht, dass umfassende Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen nur bei größter Gefahr verhängt werden dürfen. Aber die Grundlagen dieser Gefahr, die Statik dieser Konstruktion selbst, lässt es unangetastet. Das Bundesverfassungsgericht ist eine Bundes-Narrativ-Bestätigungs-Instanz geworden. Es entpackt keinen einzigen der Begriffe, mit dem die Politik seit 20 Monaten jongliert. Das aber wäre seine Pflicht als Kontrollinstanz. So kommt unten eben raus, was man oben hineingegeben hat.
Die «Inzidenz der Neuinfektionen» von 100 als Basis der Notbremse zum Beispiel ist eine statistische Wundertüte: Aus 0,1% positiver PCR-Tests, die schon als diagnostisches Mittel nicht zugelassen sind, und deren CT-Werte dem RKI nicht mal bekannt sind, wird auf hochgradig gefährliche infektiöse Menschen geschlossen, welche eine Gefahr für andere darstellen, weshalb aber nun allen anderen Gesunden Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen aufgezwungen werden.
Statistische Vergleichsgruppen? Fehlanzeige. Nachprüfung der Kausalität von Covid-19 als Todesfallgrund durch Obduktionen? Fehlanzeige. Eine Suche nach milderen Mitteln, sei es durch Rechtsvergleichung oder unabhängige Studien? Fehlanzeige. Wie passt die statistische Untersterblichkeit im Jahre 2020 zum Narrativ einer gefährlichen Pandemie? Fehlanzeige. Abwägung von Gesundheitsgefahr mit Gefahren durch Kollateralschäden? Fehlanzeige. Keine der medizinischen und rechtlichen Ungereimtheiten, die schon vor gut einem Jahr deutlich wurden, wird wirklich aufgelöst, geschweige denn diskutiert.
Diesem Urteil gingen zudem zahlreiche Nichtannahmebeschlüsse voraus. Das Gericht verweigerte grundlos eine juristische Prüfung, es arbeitete aktiv einer juristischen Aufklärung der Lage entgegen. Nicht einmal ein abweichendes Votum eines Richters gab es während Corona. Man signalisierte Einigkeit im totalen Blindflug: Ein höchst peinlicher Aussetzer des höchsten Gerichts, welcher dieses nachhaltig beschädigt hat. Heribert Prantl sagt es deutlich:
“Dass acht Richterinnen und Richter dieses Urteil unterschreiben, ist ein Armutszeugnis für das Bundesverfassungsgericht.” Milosz Matuschek
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Das Schlimmste ist, dass mich diese himmelschreiende Verantwortungslosigkeit nicht überrascht. Das Gute daran: Ich war darauf gefasst.
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