Stationen

Donnerstag, 5. Mai 2016

Die menschliche Unzulänglichkeit

Das neue Buch „Wunschdenken“ von Thilo Sarrazin hat der Mainzer Historiker Andreas Rödder bei dessen Präsentation in Berlin kritisch gewürdigt. Sarrazin nannte die Entscheidung Angela Merkels zur Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge und Immigranten im vergangenen Jahr die „größte politische Torheit“ eines deutschen Regierungschefs seit dem Zweiten Weltkrieg.

Thilo Sarrazin hat sein neues Werk „Wunschdenken“ vor rund 60 Journalisten in Berlin vorgestellt. Der Untertitel des Buches lautet: „Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert“. Die Deutsche Verlagsanstalt (DVA), in der auch die bisherigen Bestseller Sarrazins erschienen sind, hatte dabei den Historiker Andreas Rödder von der Universität Mainz zu einer kritischen Würdigung des Buches eingeladen. Rödder war im Schattenkabinett von Julia Klöckner (CDU) Kandidat für das Amt des Kultusministers in Rheinland-Pfalz. 

Rezensent Rödder begann zuerst mit der Kritik. Gleich im ersten Kapitel Sarrazins mit der Überschrift „Weshalb einige Gesellschaften Erfolg haben und andere nicht“ heiße es: „Wir wissen heute, dass nicht nur die menschliche Intelligenz, sondern auch alle anderen psychischen Eigenschaften überwiegend erblich sind und fortlaufend durch die natürliche Selektion weiter geformt werden.“ Rödder erklärte, er sei zwar kein Experte für Genetik und Intelligenzforschung, doch Wissenschaftler genug, um die „Argumentation mit Wissenschaftlichkeit“ beurteilen zu können. „Ich weiß“, sagte er, „dass es für alles eine wissenschaftliche Studie und Statistiken gibt, aber leider ebenso für fast jedes Gegenteil.“ Seiner Kenntnis nach gebe es bezüglich der Erblichkeit von Intelligenz nicht „das“ unumstrittene Wissen. Schon bei Formeln wie „Wir wissen heute“ sei er skeptisch.
Die Argumentation Sarrazins in diesem Bereich sei für ihn nicht klar genug. „Geht es, wenn von Genetik und Intelligenz die Rede ist, um die individuelle Ebene oder die kollektive? Und wie verhält sich genetisch zu ethnisch?“ Wenn Sarrazin von „Rassen, Ethnien und sozialen Gruppen“ spreche, gehe ihm zu viel durcheinander. „Kann man tatsächlich sagen, Kultur und Genetik seien nicht voneinander zu trennen, ohne in einen ethnischen Determinismus zu verfallen?“, fragte Rödder. Sarrazin argumentiere hier mindestens zu knapp, Aussagen blieben „im Ungefähren, sie suggerieren und insinuieren“. Und: „Ich finde diese Argumentation an dieser Stelle nicht seriös, und das finde ich besonders schade, weil es von den eigentlichen Diskussionsgegenständen dieses Buches ablenkt.“ 

Man solle besser über die Steuerung von Zuwanderung sprechen, „nicht nach Evolution und Genetik, sondern nach Kompetenzen und Qualifikationen“.
Als „zentrale These“ des Buches bezeichnete Rödder Sarrazins Satz auf Seite 193: „Wesentliche Gründe für fehlerhaftes politisches Handeln resultieren durchweg aus Fremd- und Selbsttäuschung.“ Dies buchstabiert Sarrazin in mehreren Unterpunkten aus wie „Unwissenheit – Täuschungen über die Wirklichkeit“, „Anmaßung – Täuschung über die eigenen Handlungsmöglichkeiten“, „Bedenkenlosigkeit – Kollateralschäden politischen Handelns“, „Egoismus und Betrug“ sowie „Selbstbetrug“. Sarrazin kann alles mit genügend Beispielen aus der politischen Wirklichkeit Deutschlands illustrieren.
Rödder erklärte, im Unterschied zu Sarrazin halte er die Entscheidung Merkels vom 5. September 2015, den Flüchtlingen in Budapest die Einreise nach Deutschland zu gestatten, für eine große humanitäre Geste. „Das Problem“, meinte er, „lag darin, dass die Ausnahme von allen geltenden Regeln zum monatelangen Dauerzustand wurde.“ Der Herbst 2015 sei „paradigmatisch“ für deutsche Selbsttäuschungen und Wunschdenken gewesen, stimmte Rödder mit Sarrazin überein. Es sei die große Stärke des Buches, wie Sarrazin das Scheitern von Politik an Wunschdenken entlarve.
Sarrazin erklärte, die „undurchdachte und utopische“ Flüchtlings- und Einwanderungspolitik der Bundesregierung sei der „wohl größte Fehler der deutschen Nachkriegspolitik“. Der Erfolgsautor erinnerte auch daran, wie Merkel sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ als „nicht hilfreich“ bezeichnet und seine Entlassung aus dem Vorstand der Bundesbank betrieben hatte. „Ich konnte damals meine bürgerliche Ehre nur mit Mühe retten“, merkte er bitter an.

Die PAZ fragte Sarrazin, wie es wohl zu erklären sei, dass Merkel eine Asylpolitik betreibe, die auch ein beträchtliches Maß an importierter Kriminalität zur Folge habe. Ob Merkel dies aus Abgehobenheit nicht erkenne? Weil sie vermutlich etwa die sozialen Verhältnisse in Neukölln oder Berlin-Gesundbrunnen nicht wirklich kenne? Und ihr auch ihre Mitarbeiter vielleicht nicht die reale Lage vermittelten und so insgesamt ein Wunschdenken befördert werde, das die Probleme unterschätze? 

Sarrazin antwortete, über die Motive Merkels habe er nur Vermutungen, „die ich jetzt nicht vertiefen will, weil es reine Vermutungen wären“. „Was mich an Angela Merkel verstört“, fügte er hinzu, „ist, dass praktisch ihre hohe Intelligenz und auch Fachkunde und Fähigkeit, sich in ein Problem einzuarbeiten, solch eine Entscheidung hätte unmöglich machen müssen.“ Aus seiner politischen Erfahrung heraus könne er sagen, dass man „von außen“ ein „ganz falsches Bild von Politik“ habe. Meistens werde das Wissen überschätzt, das in eine Entscheidung einfließe. Man schreibe dem politischen Prozess „eine Ratio zu, die er gar nicht hat“. In seinem Leben als Beamter und Politiker sei er immer wieder erstaunt gewesen, „wie auch Entscheidungen von größter Tragweite nur auf der Basis von wenig Information und von wenig informierten Menschen eher zufällig“ zustande gekommen seien.    Michael Leh

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