Eines muß man diesem Papst lassen: Mit dem Jahr der Barmherzigkeit
hat er einen geistlichen Scoop gelandet. Nichts braucht die Welt
dringender als Mitmenschlichkeit, Mitgefühl, tätiges Erbarmen, Liebe.
Mehr als 150 Konflikte zählen die Friedensforscher, an den meisten
und blutigsten sind Islamisten beteiligt. Allein das mag den Unterschied
zwischen den Religionen erhellen. Aber selbst in Europa ist die
Dividende der „Wende“ von Anfang der neunziger Jahre längst
aufgebraucht. Die Asylkrise reißt alte Gegensätze auf, Identitäten
werden in Frage gestellt. Angst vor Wohlstandsverlusten geht um, auch
die Wunden der Finanzkrise sind noch nicht vernarbt.
Die Mittelschicht schmilzt, Verteilungskämpfe stehen ins Haus. Für
all das braucht es eine Menge Solidarität, aber auch Gerechtigkeitssinn.
Denn die neu aufkommende Griechenlandkrise und das lange noch nicht
gelöste Flüchtlings- und Immigrationsproblem sind mit Barmherzigkeit
allein nicht zu meistern. Europa, die Welt braucht beides: Gerechtigkeit
und Barmherzigkeit.
Mit dem Appell an mehr Humanität in Europa, die der Papst bei der
Verleihung des Karlspreises von den Europäern zum wiederholten Mal
einforderte, bewegt sich Franziskus ganz auf der Linie seiner Vorgänger.
Benedikt XVI. schrieb eine Enzyklika in diesem Sinn – „Deus caritas
est“ –, Johannes Paul II. hinterließ als Vermächtnis seines Pontifikats
den Appell zur Versöhnung – Frucht der Barmherzigkeit – und Paul VI.
rief dazu auf, eine „Zivilisation der Liebe“ zu errichten. Natürlich hat
jeder auf seine Weise recht, und dennoch klingen die Mahnungen und
Erklärungen irgendwie hohl. Das liegt weniger an den Päpsten als an den
Zuständen in den Kirchen und in der Politik.
Es fängt an im Vatikan. Selten war die Stimmung hinter den dicken
Mauern so geprägt von Unsicherheit. Dieser Papst ist unberechenbar,
niemand weiß, wer wirklich Einfluß auf ihn hat. Die deutschen Kardinäle
sicher am wenigsten. Papst Franziskus ist spontan und ein Mann
pastoraler Praxis. Er kennt das Leben, und sei es aus unzähligen
Beichtgesprächen. Das hat er den meisten Kardinälen voraus. Die denken,
gerade in Deutschland, in politischen Kategorien, und das sind
Kategorien der Macht, manchmal sogar der Kumpelei mit Politikern.
Franziskus aber will keine politische Kirche, er will eine barmherzige.
Das ist es, was letztlich im Angesicht der Ewigkeit zählt.
Nun haben die Kirchen eine durchaus zeitliche Komponente, der Geist
der Liebe ist kein freischwebendes Gefühl. Er muß in Einklang mit der
Gerechtigkeit gebracht werden, auch und gerade in Demokratien. Der
Appell zum Teilen richtet sich an den einzelnen, Politiker aber müssen
das Gemeinwohl im Auge haben. Deshalb lebt die Demokratie zwar von
Werten, von ethischen Orientierungsmaßstäben, aber sie kann sie nicht
per ordre du mufti verfügen. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat mit seinem
berühmten Diktum darauf hingewiesen. Die Erkenntnis von der Bedeutung
persönlich gelebter und geschaffener, aber für die Allgemeinheit
unverzichtbarer Werte ist de facto ein Plädoyer für eine Einhegung der
Gleichheit.
Schon Montesquieu, Ahnherr der Gewaltenteilung, wies im Buch 8 seines
Werks „Vom Geist der Gesetze“ darauf hin: „Das Prinzip der Demokratie
wird nicht nur korrumpiert, wenn man den Geist der Gleichheit verliert,
sondern auch, wenn man einen extremen Geist der Gleichheit übernimmt.“
Wie soll nun der Geist der Nächstenliebe im politischen Raum Gestalt
gewinnen?
Franziskus’ Vorgänger Benedikt gab dazu eine Art Gebrauchsanweisung:
„Gerechtigkeit ist Ziel und inneres Maß aller Politik“, schrieb er, aber
Gerechtigkeit allein reiche nicht. „Zu einer besseren Welt trägt man
nur bei, indem man selbst jetzt das Gute tut … Das Programm des Christen
ist das sehende Herz. Dieses Herz sieht, wo Liebe not tut und handelt
danach.“ Überläßt man die Solidarität nur dem Staat, führt das in den
sozialistischen Versorgungsstaat, der „letztlich zu einer bürokratischen
Instanz (wird), die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende
Mensch, jeder Mensch, braucht: die liebevolle, persönliche Zuwendung.“
Liebe von Person zu Person, Zuwendung nicht amtlich oder politisch
oktroyiert – das ist der Kern der Botschaft der Barmherzigkeit, und das
ist auch die Kernkompetenz des christlichen Glaubens, das Wahrzeichen
der Christen. „Seht, wie sie einander lieben“, hieß es in den ersten
Jahrhunderten. Sie halfen Sklaven, sie trieben nicht ab, sie
entwickelten Gemeinsinn. Natürlich gab es im Lauf der Geschichte und
gibt es auch heute gute und schlechte Christen, aber das Maß war immer
das gleiche: die Liebe. Sie ist nach einem Wort von Thomas von Aquin das
„Urgeschenk“, der Geist, der diesen Glauben beseelt. Das ist übrigens
der Geist, der den wesentlichen Unterschied zum Islam, der Religion der
Unterwerfung, ausmacht.
Den Glauben an die Liebe wachzuhalten hat Wirkung für die
Gesellschaft. Die Kirchen haben durchaus die Aufgabe, den moralischen
Grundwasserspiegel der Menschheit zu halten und nicht nur zu Pfingsten
darauf hinzuweisen, daß es eine Wahrheit jenseits von Mainstream und
Mehrheiten gibt, etwa bei den Themen Abtreibung, Gender und
Frühsexualisierung oder Familie. Aus der Familie erwächst der Friede für
die Menschheit, meinte etwa Johannes Paul II.
Da sind klare Worte nicht nur von Päpsten gefragt. In diesem Sinn
wäre den Kirchen in Deutschland durchaus mehr Geist, ja mehr Mut zu
wünschen. Jürgen Liminski
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