Sonntag, 15. Mai 2016
Sommer in Breslau
Offenbar bedurfte es erst eines Anlasses wie der Erklärung Breslaus zur Europäischen Kulturhauptstadt 2016, damit wieder eine vernünftige Zuganbindung von Berlin in Richtung Niederschlesien angeboten wird. Zumindest für den kommenden Sommer wird Berlin und Breslau jetzt ein sogenannter „Kulturzug“ verbinden. Bis zum 30. September fährt dieser an den Wochenenden und an Feiertagen von der Spree in die schlesische Metropole und zurück. Zwischenstationen macht der Zug in Cottbus, Forst sowie in Sorau [Zary], Sagan [Zagan] und Liegnitz [Legnica]. Mit an Bord des Zuges ist eine Bibliothek. Angekündigt ist, dass es regelmäßig auf der Fahrt Lesungen und andere Kulturangebote geben soll.
Der von den Ländern Berlin, Brandenburg und der Stadt Breslau mitfinanzierte Fahrpreis für die viereinhalbstündige Reise beträgt nur 19 Euro pro Strecke. Die Beteiligung der niederschlesischen Metropole hat einen guten Grund: Breslau ist bemüht, sich weltoffen zu zeigen, um als Touristenstadt attraktiver zu werden. Ein Meilenstein dabei könnte durchaus das laufende Jahr werden. Breslau ist neben dem spanischen San Sebastián Europäische Kulturhauptstadt 2016, geplant sind bis Ende des Jahres 1000 einzelne Veranstaltungen.
Der Kulturzug soll für Berlin und Brandenburg in diesem Frühjahr nicht die einzige neue Bahnverbindung in Richtung Osten sein. Auch Thorn [Torun] an der Weichsel, dessen Altstadt von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde, soll von Berlin aus künftig wieder per Direktverbindung erreichbar sein. Abzuwarten bleibt, ob es sich bei den neuen Angeboten nach Breslau und Thorn um einen grundlegenden Einstellungswechsel bei der Bahn handelt. Medienberichten zufolge geht die Initiative für den „Kulturzug“ auf die beteiligten Länder zurück und nicht auf die Deutsche Bahn.
Generell kann das Angebot des Bahnkonzerns zu Zielen im historischen Ostdeutschland bislang nicht sonderlich überzeugen. Mehrere Direktverbindungen, wie zum Beispiel der Eurocity „Wawel“ von Berlin nach Breslau, alle Nachtzugverbindungen und auch mehrere Regionalzüge wurden im Laufe der vergangenen Jahre eingestellt.
Als symptomatisch kann gelten, was bei der Modernisierung der Zugverbindung von Berlin nach Stettin zu beobachten ist. Daran, dass die Stettiner schnell und bequem per Bahn zum Theaterbesuch oder Einkauf nach Berlin fahren können, wie aus der Vorkriegszeit berichtet wird, ist nicht mehr zu denken. Die Züge sind inzwischen gut zwei Stunden unterwegs – selbst Dampfloks schafften die Strecke früher in gut 30 Minuten weniger. Ausgebremst wird die Verbindung vor allem durch ein Nadelöhr: Die an sich zweigleisige elektrifizierte Strecke ist auf dem Streckenabschnitt zwischen dem brandenburgischen Passow bis Stettin-Scheune [Szczecin-Gumience] auf einer Länge von 40 Kilometern nur eingleisig und nicht elektrifiziert. Diese Infrastrukturlücke schränkt den Nutzen der insgesamt 138 Kilometer langen Trasse massiv ein.
Verhandlungen zu einem Staatsvertrag über die Modernisierung der Bahnstrecke Angermünde-Stettin zogen sich erst acht Jahre hin, bis 2012 endlich ein unterschriftsreifer Text vorlag. Weitergekommen ist die Modernisierung der Trasse damit allerdings noch immer nicht. Bei den 2013 angelaufenen Verhandlungen zwischen Bund und Deutscher Bahn über den Umfang des Ausbaus erschien es lange so, als wenn der Bahnkonzern eine Sparvariante durchsetzen wolle. Man könne nicht überdimensioniert planen, es werde nur gebaut, wo Züge auch genutzt würden, so ein Bahnsprecher im vergangenen Jahr.
Für Brandenburgs Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (SPD), der zugleich Polen-Koordinator der Bundesregierung ist, war dies unter anderem ein Grund, zum ersten deutsch-polnischen Bahngipfel am 11. September 2015 nach Potsdam einzuladen. Dort kündigte Bahnchef Rüdiger Grube immerhin an, dass die Strecke Berlin–Stettin zweigleisig ausgebaut und durchgängig elektrifiziert werden soll. Allerdings ist erneut Geduld gefordert: Die Fertigstellung ist erst zum Jahr 2020 angekündigt.
Verschenkt ist mit solcherart Verkehrspolitik ein immenses wirtschaftliches Potenzial für die Region Berlin-Brandenburg. Allein im Großraum Stettin leben mehr als 700000 Menschen. Für die Stettiner sind die Flughäfen Berlin-Tegel und Schönefeld meist die beste Option, wenn es um Fernreisen geht. Durch eine zögerliche, oftmals sogar ignorante Verkehrspolitik wurde mittlerweile ein Vierteljahrhundert an Chancen verschenkt. Viele exotische Ziele sind von Berlin aus mit dem Flugzeug schnell und bequem erreichbar, eine Zugfahrt nach Kolberg oder Grünberg gleicht dagegen oftmals immer noch einer kleinen Weltreise.
Ins Bild passend, wird es sich auch beim „Kulturzug“ nach Breslau zunächst einmal um ein zeitlich befristetes Projekt handeln. „Von ihm soll aber ein deutliches Signal für eine verlässliche Fernverbindung nach Breslau und weiter nach Schlesien ausgehen“, so Woidke. Angekündigt ist, dass der märkische Ministerpräsident in den kommenden Wochen in Gesprächen mit deutschen und polnischen Verantwortlichen bessere Verbindungen voranbringen will. Norman Hanert
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