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Mittwoch, 25. April 2018

Titus Gebel

Erwähnt man im Gespräch, dass die politische Ordnung Liechtensteins möglicherweise als Vorbild für Deutschland dienen könne, erntet man in der Regel Hohn und Spott. Bohrt man etwas tiefer, um die Kenntnisse über Liechtenstein abzufragen, ergeben sich in der Regel: wenig bis gar keine.
Das Fürstentum Liechtenstein hat keine gemeinsame Grenze mit Deutschland, es ist zwischen der Schweiz und Österreich als Binnenstaat sozusagen eingeklemmt. Das Staatsgebiet umfasst nur 160 Quadratkilometer, damit ist Liechtenstein der sechstkleinste Staat der Welt. Das Land hat 37.000 Einwohner, davon 34 Prozent (meist deutschsprachige) Ausländer. Hauptstadt ist Vaduz, die alleinige Amtssprache ist Deutsch. Ein souveräner Staat ist Liechtenstein seit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806.
Das Fürstentum hat keine eigene Währung, sondern benutzt den Schweizer Franken und bildet mit der Schweiz auch eine Zollunion. Liechtenstein ist aber, anders als die Schweiz, nach entsprechender Volksabstimmung Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geworden, es gibt Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenfreizügigkeit unter den Mitgliedsstaaten (das sind alle EU-Staaten, Norwegen, Island und Liechtenstein). Die Personenfreizügigkeit konnte von Liechtenstein allerdings auf 64 neue Aufenthaltsgenehmigungen pro Jahr eingeschränkt werden.
Entgegen landläufiger Meinung ist das Fürstentum kein Operettenstaat, der vom Briefmarkenverkauf und windigen Finanzgeschäften lebt. Es handelt sich vielmehr um ein hochindustrialisiertes Land mit stark diversifizierter Wirtschaft, dessen Hauptwertschöpfungszweig die verarbeitende Industrie darstellt, insbesondere der Maschinenbau. Zahlreiche Schweizer, Österreicher und Deutsche pendeln ins Fürstentum zum Broterwerb.
Trotz seiner Kleinheit kann Liechtenstein mit Weltmarktführern aufwarten, bekannt sind etwa Hilti (Bohrmaschinen) oder Ivoclar (Medizintechnik). Etwa 40 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Industriesektor, damit gehört Liechtenstein zu den am stärksten industrialisierten Ländern der Welt! Zum Vergleich: in der Finanzindustrie arbeiten weniger als 10 Prozent der Beschäftigten. Mit einem Unternehmen pro neun Einwohner weist Liechtenstein vermutlich die höchste Unternehmerdichte der Welt auf.

2003 erfolgte eine bedeutende Verfassungsreform

Im Jahre 2003 wurde per Volksabstimmung nach zehnjähriger Diskussion eine bedeutende Verfassungsreform angenommen, welche die Rechte der Bürger, der Gemeinden und des Monarchen zulasten von Parlament und Regierung gestärkt haben. Die Gründe dafür sind instruktiv, da sie grundlegende Probleme von Parlamentarismus und Demokratie beleuchten. Seit den 1990er Jahre hatte sich in Liechtenstein eine Verfassungswirklichkeit ausgebildet, in der die Politiker und Parteien, welche die Parlamentsmehrheit und die Regierung stellten, zunehmend Befugnisse an sich zogen, die in der Verfassung entweder klar dem Fürsten zugewiesen oder deren Zuweisung unklar war. Teilweise wurden sogar Gesetze ohne die verfassungsmäßig notwendige Unterschrift des Fürsten veröffentlicht.
Fürst Hans-Adam II. war damit nicht einverstanden. Er begründete seinen letztlich erfolgreichen Verfassungsänderungsvorschlag damit, dass beide Souveräne, das Volk und der Fürst, aus praktischen Gründen die Staatsaufgaben an kleinere Gruppen delegieren müssten (Politiker, Parteien, Verwaltung), die in der Praxis dann eine überproportionale Bedeutung bekämen, sich in „Oligarchien“ verwandelten. Diese aber versuchten, ihre eigenen Interessen auf Kosten der Interessen aller anderen zu vergrößern. Aufgrund innerer Interessenkonflikte wären sie zunehmend weniger in der Lage, wichtige, aber unpopuläre Entscheidungen treffen.
Es sei Aufgabe des Monarchen, darüber zu wachen, dass die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen durch diese Oligarchie nicht geschwächt und Staatsinteresse vor Parteiinteresse gestellt werde. Langfristig werde der Monarch diese Aufgabe nur wahrnehmen können, wenn er wisse, dass die Mehrheit des Volkes ihn dabei unterstütze. Volk und Monarchie als die schwächeren Elemente seien die natürlichen Verbündeten gegenüber dem stärksten Element im Staat, der Oligarchie.
Er wies gleichzeitig darauf hin, dass er gegebenenfalls auch gegen eine Volksmehrheit sein Veto einlegen müsse. Zu berücksichtigen sei, dass die Mehrheit nicht immer Recht habe und es Aufgabe des Fürsten sei, die Rechte der Minderheiten und der Schwachen zu schützen sowie das langfristige Wohl von Volk und Land zu verteidigen. Sollte dies aber vom Volk nicht gewollt sein, dann solle gemäß dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts das Volk das letzte Wort haben, ohne Rücksicht auf die Wünsche des Fürsten und in der Lage sein, diesem sein Misstrauen auszusprechen oder die Monarchie ganz abzuschaffen.

Eine der innovativsten Landesverfassungen der Welt

Liechtenstein ist daher keine konstitutionelle Monarchie im herkömmlichen Sinne. Vielmehr handelt es sich um ein weltweit einmaliges Mischsystem zwischen direkter Demokratie und parlamentarisch-konstitutioneller Erbmonarchie. Volk und Fürst haben neben dem Parlament relevante eigene Kontroll- und Mitgestaltungsrechte, die nicht dem Einfluss der Parteien unterliegen; auch die Gemeinden dürfen eigene Gesetzesinitiativen einbringen. Um der Gefahr einer schrankenlosen Mehrheitsherrschaft durch die direkte Demokratie zu begegnen, hat das liechtensteinische System zwei Sicherheitsventile eingebaut: zum einen das Vetorecht des Fürsten auch gegen Ergebnisse von Volksabstimmungen, zum anderen das Sezessionsrecht jeder einzelnen Gemeinde.
Ein Missbrauch des Vetorechts durch den Fürsten wiederum wird durch die Möglichkeit der Bürger zum Misstrauensvotum gegen ihn oder zur Abschaffung der Monarchie insgesamt (!) verhindert. In seinem Werk Der Staat im dritten Jahrtausend weist Fürst Hans-Adam II. darauf hin, dass für eine derartige Konstruktion keine Monarchie erforderlich sei. Ein direkt vom Volk gewählter Präsident könne dieselbe Aufgabe wie der Fürst in Liechtenstein übernehmen.
Die aktuelle Landesverfassung von Liechtenstein ist somit eine der innovativsten der Welt, was die Machtbegrenzung in der Demokratie angeht, und das ist der alles entscheidende Punkt.
Liechtenstein ist tatsächlich das einzige Land der Welt, dass seinen Gemeinden kraft Verfassung die Sezession und damit die Selbstbestimmung erlaubt. Eigentlich ist dies ein urdemokratischer Vorgang. Die Mehrheit eines Gebietes entscheidet per Volksabstimmung, unabhängig zu werden oder einem anderen Gemeinwesen anzugehören. Wären Sezessionen bis hinunter zur Gemeindeebene grundsätzlich zulässig, wie das in Liechtenstein der Fall ist, hätte die Regierung einen Anreiz, die Interessen der Regionen von vornherein stärker zu beachten.
Hans-Adam II. hat erkannt, dass die Gewährung von Selbstbestimmungs- und damit Sezessionsrechten die Qualität staatlichen Handelns kraft Wettbewerb genauso erhöhen kann, wie dies im Produkt- und Dienstleistungsmarkt der Fall ist. Die Staaten müssen dann friedlich miteinander in Wettbewerb treten, um Ihren Kunden den bestmöglichen Service zum niedrigsten Preis anzubieten. Hans-Adam II. wörtlich:
Der Umwandlungsprozess des Staates vom Halbgott in ein Dienstleistungsunternehmen wird nur möglich sein, wenn man von der indirekten auf die direkte Demokratie übergeht und mit dem Selbstbestimmungsrecht auf Gemeindeebene das Monopol des Staates aufbricht.“

Kleinstaat bedeutet nicht automatisch Abschottung

In Deutschland hätten sich bei gleicher Rechtslage vermutlich nicht nur die Exklave Büsingen, sondern diverse süddeutsche Gemeinden längst der Schweiz angeschlossen. Das hätte wiederum die Politik erheblich vorsichtiger bei ihren Maßnahmen gemacht, denn andernfalls drohte ja ein weiterer Verlust von Staatsgebiet und Staatsbürgern (= Macht).   
Wir sollten daher darüber nachdenken, ob eine Welt aus tausend Liechtensteins nicht eine bessere Welt wäre. Die meisten Entscheidungen würden auf lokaler Ebene und dezentral getroffen, gravierende Fehlentscheidungen hätten begrenzte Auswirkungen, es gäbe zahlreiche Anschauungsbeispiele, welche Dinge funktionieren und welche nicht. Allein aufgrund der Vielzahl von Gemeinwesen würde ein fruchtbarer Wettbewerb um „Kunden“ herrschen anstelle eines Staatenkartells, das die Bürger einerseits möglichst weitgehend melken und andererseits von allen Entscheidungen ausschließen will.
Gerade Europas Erfolgsrezept war immer die Vielfalt und der damit verbundene Wettbewerb. Das muss nicht Schwäche bedeuten. Selbst Stadtstaaten wie Venedig und Genua oder größenmäßig eher marginale Staaten wie Portugal und die Niederlande konnten zu ihren Hochzeiten große politische und wirtschaftliche Macht entfalten. Die Schaffung übergeordneter Institutionen, wie eine gemeinsame Freihandels- oder Wirtschaftszone oder eine gemeinsame Verteidigung, ist immer möglich und insbesondere bei wesensverwandten Gemeinwesen auch naheliegend. Man denke etwa an den Städtebund der Hanse oder auch den Deutschen Bund, einem Bündnis 39 souveräner Staaten, der gemeinsame politische und militärische Institutionen unterhielt. Kleinstaaten bedeutet nicht automatisch Abschottung oder Provinzdenken, aber in jedem Fall Selbstverwaltung und Subsidiarität. Und das eröffnet Möglichkeiten, die woanders fehlen.
Verglichen mit Deutschland ist gerade das kleine Liechtenstein ein Musterbeispiel für Systemrobustheit oder Antifragilität. Ein antifragiles System ist eines, das weniger Ausschläge aufweist, dafür über einen weit längeren Zeitraum stabil und letztlich erfolgreicher ist. Den Gegensatz dazu bilden fragile Systeme, die eine Zeit lang gut aussehen, dann aber in regelmäßigen Abständen katastrophal zusammenbrechen.
Bis zum Jahr 1866 waren Liechtenstein und das heutige Deutschland im erwähnten Deutschen Bund vereint. Ähnlich wie derzeit der intellektuelle Mainstream einen europäischen Bundesstaat anstrebt, war seinerzeit die Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates das Maß aller Dinge. Als nach der Schlacht von Königgrätz klar wurde, dass Preußen, welches den Fortbestand des Deutschen Bundes ablehnte, das Zentrum dieses neuen Staates sein würde, wurde von den Mitgliedsstaaten seine Aufhebung beschlossen. Ein einziges Mitglied stimmte damals dagegen: Liechtenstein.
Was in der Folge mit Deutschland geschah, ist bekannt: Einigungskriege, Kolonialismus, Erster Weltkrieg, zwei Millionen eigene Kriegstote, Verlust eines Viertels des Staatsgebietes, Revolution, Hyperinflation, Währungsreform mit Verlust nahezu aller Ersparnisse, nationalsozialistische Diktatur, Zweiter Weltkrieg, Holocaust mit Auslöschung der jüdischen Mitbürger und ihrer Kultur, sechseinhalb Millionen eigene Kriegstote, Verlust eines weiteren Drittels des Staatsgebietes, fast alle Städte zerbombt, Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen, Teilung des Landes in Besatzungszonen, erneute Währungsreform mit Verlust nahezu aller Ersparnisse, sozialistische Diktatur im Ostteil, dort Revolution und erneute Währungsreform. Insgesamt gab es sage und schreibe vier Systemzusammenbrüche seit 1870. Demgegenüber in Liechtenstein: null.
Heute verfügt das Fürstentum Liechtenstein über ein weit höheres Pro-Kopf-Einkommen als die Bundesrepublik Deutschland, ist ein stabiles Land ohne nennenswerte Kriminalität und ohne Staatsschulden. All dies wurde erreicht ohne einen einzigen Krieg, ohne eine einzige Revolution und ohne einen einzigen Anschluss an ein großes und mächtiges Gemeinwesen.
Titus Gebel ist Unternehmer und promovierter Jurist. Er gründete unter anderem die Deutsche Rohstoff AG. Er möchte mit Freien Privatstädten ein völlig neues Produkt auf dem „Markt des Zusammenlebens“ schaffen, das bei Erfolg Ausstrahlungswirkung haben wird. Zusammen mit Partnern arbeitet er derzeit daran, die erste Freie Privatstadt der Welt zu verwirklichen. 
Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem Buch „Freie Privatstädte – mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt“, in dem er unter anderem Stadtstaaten aus Vergangenheit und Gegenwart untersucht.

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