Stationen

Freitag, 20. April 2018

Berührungspanik

Vorbemerkung von Götz Kubitschek: Camille Paglia ist "schockiert" von meiner verlegerischen Arroganz.
Ich habe "Frauen bleiben, Männer werden" in meinem Verlag herausgebracht. Die Journalistin Lilli Heinemann konfrontierte Paglia in einem Interview für die "Süddeutsche Zeitung" erstens mit der politischen Positionierung meines Verlags und mit der Tatsache, daß wir
  1. den Titel des Werks nicht wörtlich übersetzt,
  2. einige Kapitelüberschriften nicht wörtlich übersetzt,
  3. zwei von 35 Aufsätzen nicht übersetzt und
  4. Paglias Vorwort durch ein Vorwort von Ellen Kositza ersetzt haben.
Camille Paglia äußert nun, sie sei "schockiert und abgestoßen" von dem "totalitären Impuls", mit dem ich die "Verstümmelung" ihres geistigen Eigentums betrieben hätte. Jedoch: Camille Paglia hat nur auf das antworten können, was Frau Heinemann ihr vortrug. Sie hatte das Buch noch gar nicht in Händen, denn hätte sie bereits darin blättern können, wäre ihr folgendes nicht verborgen geblieben:
Noch nie hat ein deutscher Verlag sich eine solche Mühe gegeben mit einem Werk Camille Paglias: In über 400 Fußnoten werden den deutschen Lesern die amerikanischen Debatten, Befindlichkeiten, Persönlichkeiten und feministischen Stränge erläutert. Die Übersetzungen sind ohne jede Auslassung und so sorgfältig wie möglich von drei Mitarbeitern angefertigt worden - mit Diskussionen über schwierige Stellen und Schlüsselvokabeln.
Camille Paglia würdigt diesen Umstand im Interview mit der SZ: "Die Redakteure waren kultiviert und wohlvertraut mit meinen Ideen – das war die Ebene der Diskussion." Diese "Redakteure": Das sind Ellen Kositza, Martin Lichtmesz, Nils Wegner und Caroline Sommerfeld, und nach anfänglichem Zögern war Paglia sogar bereit ein sechsseitiges Interview für die "Sezession" zu geben (Heft hier einsehbar), weil sie sich von den Fragen herausgefordert sah.
Die beiden Aufsätze, die ich strich, machen 5 von 280 Seiten aus und haben zum einen amerikanische Soapoperas und zum anderen eine Bildbeschreibung aus dem Jahre 1996 zum Thema - der Erklärungsaufwand für deutsche Leser hätte die Textlänge dieser beiden Texte überstiegen.
Zu den Titeln: Über die Änderung des Haupttitels hat Ellen Kositza im unten dokumentierten Vorwort ganz zuletzt unsere Überlegungen ausgeführt. "Frauen bleiben, Männer werden" greift den Impuls des Originals sogar auf, zugleich beschreibend und auffordernd zu sein. Und ein Aufsatztitel wie "The Return of Carry Nation. Catharine McKinnon and Andrea Dworkin" wird eben zu "In Verbitterung vereint: eine Puritanerin und eine Heulsuse wollen Pornographie ausmerzen", weil ein deutscher Leser mit dem Namen "Carry Nation" rein gar nichts anfangen kann und sämtliche der neuen Titelbegriffe von Paglia selbst stammen.
Überhaupt Titeländerungen:
Anthony Doerr: Winklers Traum vom Wasser (About Grace);
Evelyn Waugh: Rückfällig (Basil Seal rides Again or The Rake's Regress);
Angus Wilson: Brüchiges Eis (Setting the World on Fire);
Peter Hoeg: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels (De Maske Egnede).
Daß ich Paglias eigenes Vorwort durch Kositzas ersetzte, kann man kritisieren: Im Grunde aber faßt Paglia nur zusammen, was in ihren Aufsätzen ausgeführt ist, und da schien mir eine empathische Einleitung für deutsche Leser sinnvoll.
Kurzum: Hier wurde nichts "verfälscht" oder "verzerrt" oder "verletzt" - mein einziger Fehler: dies in der Hektik vor der Buchmesse nicht noch einmal mit Paglia abgestimmt zu haben. Die Reaktion ihrer Agentur ist überzogen: das Buch vom Markt nehmen! Unser Vorschlag liegt dort nun vor: Paglias Vorwort als Heftchen nachdrucken und jedem Exemplar beilegen.
Die Sache ist die: Wenn wir zurückziehen müssen, wird Paglia in Deutschland nicht stattfinden. Auch das sagt sie im SZ-Interview selbst:
Keiner der führenden deutschen Verlage wollte mein Buch veröffentlichen. Genau da zeigt sich das Problem der politischen Korrektheit in Deutschland. Es ärgert mich, dass Menschen, selbst in Deutschland, Angst haben, abweichende Ideen von Feminismus zuzulassen und zu veröffentlichen. Ich bin eine liberale Demokratin, ich gebe meine Stimme den Grünen. Wenn die Ansichten einer Linken von anderen Linken unterdrückt werden, weil sie nicht konform sind, läuft etwas falsch.
In ihrem Vorwort beschreibt Kositza Paglia so und nicht anders. Wer wären wir, wenn es uns an Respekt vor einer solchen Denkerin mangelte! Hier Kositzas Vorwort, es trägt den Titel "Die Kampfhündin", auch das von der SZ-Journalistin beanstandet. Indes: In den 90ern kam kaum ein Text über Paglia ohne den Vergleich mit "akademischem Rottweiler" (aus einer amerikanischen Buchwerbung des Verlags: Camille Paglia has been called everything from "the intellectual pin-up of the '90s" to an academic Rottweiler to "the bravest and most original critic of our day") oder "Bulldogge" aus, Beispiel hier. Nein, wirklich, ich bin kein verlegerischer Bulldozer ...
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Die Kampfhündin
Vorwort von Ellen Kositza
Antifeminismus, ein wahrhaft böses Wort. Wen assoziieren wir als Vertreter einer solchen Position? Typen ohne Frauen, aber mit Männerphantasien. Burschenschafter. Stammtisch. Reaktionäre, Vorgestrige. Abgehängte Versager. Scheidungsopfer, männlich – zusammengefaßt die Vertreter alles dessen, was in sogenannten queeren Kreisen die »heteronormative Matrix« genannt wird, also auch diejenigen »Weibchen«, die ihr gutes Auskommen haben und unsolidarisch oder stutenbissig sind oder (aus welchen Gründen auch immer) nichts gegen ein Dasein »unter der Knute« haben.
Will sagen: »Antifeminismus« ist ein Terminus, der einer Keule gleicht. Es handelt sich wie bei fast allen -ismen meist um eine Fremdzuschreibung, um eine Zuweisung von außen. Die Bandbreite der auf diese Weise pauschal Etikettierten reicht von der braven Lebensrechts-Demonstrantin über Frauenquotenskeptiker hin zum Internet-Troll, der sein trauriges Dasein damit fristet, misogyne Ergüsse über »die Weiber« in die Welt zu posten.
Dabei trifft keine einzige dieser Zuschreibungen (in Attribute gefaßt: ängstlich-besorgt, borniert, haßzerfressen) auf die ausgerechnet lauteste, scheuloseste und prominenteste Stimme des Antifeminismus zu: Camille Paglia.
Paglia ist homosexuell, intellektuell, hellwach, avantgardistisch; mithin definitiv eine Frau »von morgen«. Sie selbst nennt sich nicht Antifeministin. Das hat mit der Generation zu tun, aus der sie stammt. In den sechziger Jahren, in denen Paglia aufwuchs, war »Feminismus« kein konformes Lippenbekenntnis, sondern ein provokantes Ansinnen: Paglia, 1947 im Bundesstaat New York als Tochter italienischer Einwanderer geboren, steht durchaus – und sehr strikt – für die sogenannten Frauenrechte ein, für die unbedingte Gleichheit aller vor dem Gesetz. »Unbedingt« heißt: Dann aber auch bitte ohne künstliche Schonräume. Sie bezeichnet sich in genau diesem Sinne als »Gleichheitsfeministin«.
Dieser Begriff dürfte im deutschen Sprachraum in die Irre führen. Hierzulande gilt der Gleichheitszweig, also der universalistische Feminismus, als die linke Abbiegung innerhalb der Zweiten (vulgo: achtundsechziger) Frauenbewegung. Der differentialistische Feminismus, der »Frauenfragen« hervorhob (wie es die erste, bürgerliche Frauenbewegung vor 150 Jahren getan hat) und den Unterschied der Geschlechter betonte, spielte hierzulande kaum eine Rolle, am allerwenigsten in akademischen Kreisen. Man kann heute kaum mehr von zwei Ästen des Feminismus reden, da der Gleichheitszweig mittlerweile stammesdick geworden ist.
Camille Paglia hingegen glaubt nicht daran, daß die Geschlechter wesenhaft gleich seien. Sie hält nichts von der zeitgenössischen Mär, daß eine kernhaft bösartige patriarchalische Gesellschaft den Geschlechtern Rollen zugeteilt habe, die starr und inadäquat seien und die es deshalb zu sprengen gelte. Genausowenig hält sie von der (eher im Esoterischen verorteten) Ansicht, daß »das Weib« inhärent sanft und »gut«, weil gebärend, bergend, nährend sei. Paglia hat erklärt, wie sie zu ihrer nüchternen Sichtweise gekommen ist:
In meinem ersten Buch Die Masken der Sexualität, einer erweiterten Fassung meiner Doktorarbeit, habe ich die Ansicht vertreten, daß die historische und mythologische Identifikation der Frau mit der Natur wahr sei – daß sie auf biologischen Fakten beruhe, die wir in unseren emanzipierten Zeiten für unangenehm halten mögen, die sich aber nicht wegwünschen oder auf dem heutigen Stand der Wissenschaft abändern lassen. Um diese hochkontroverse Position einzunehmen, brauchte es jedoch eine lange Abfolge von Beobachtungen, Forschungen und Überlegungen. Während meiner Jugend im Hinterland des Bundesstaats New York vertrat ich tatsächlich mit einigem Zorn den genau entgegengesetzten Standpunkt, den ich nach der ausgedehnten biologischen und anthropologischen Forschung für meine Dissertation schließlich aufgeben mußte.
Frauen, die nicht einstimmen ins feministische Grundrauschen, waren in Deutschland lange nahezu unsichtbar. Das galt selbst, als das Internetzeitalter definitiv angebrochen war. Lange Jahre sah es bei uns so aus: Antifeministische Mahnerinnen wie Christa Meves und Gabriele Kuby durften in ihren begrenzten christlichen Kreisen wirken. Sensible (im besten Sinne) Frauen wie Karin Struck und Eva Herman wurden gebrandmarkt, in krassen Szenen bei Talkshows ausgebootet und hernach der Lächerlichkeit preisgegeben. Alice Schwarzers frühe Kontrahentin Esther Vilar (die den Mann als den eigentliche Unterdrückten sah, Der dressierte Mann, 1971) sah sich aufgrund von ausufernder Hetze gar gezwungen, das Land zu verlassen.
Zwar hat es an all diese Frauen dem Vernehmen nach zahlreiche Solidaritätsnoten »aus dem Volk« gegeben, Zustimmungen aus dem Privaten. Mehr als strikt regierte Feuilletondebatten und einen gewissen kontradiktorischen Niederschlag auf Leserbriefseiten brachten aber selbst echte Eklats zwischen 1975 (Vilar gegen Schwarzer, auf YouTube leicht auffindbar) und 2006 (als die ehemals populäre Nachrichtensprecherin Eva Herman zu einem Rundumschlag gegen Postulate gegen den Feminismus ausholte) nicht.
Lange Zeit also mußte man Kampfschwimmerinnen gegen den (Gender-) Mainstream mit der Lupe suchen. Feminismus ist immer noch Leitkultur, Punkt. Die mangelnde mediale Präsenz kühner Feminismuskritikerinnen sorgt dafür, daß ihr Anliegen mit einer irgendwie abstoßenden, menschenfeindlichen Aura oder vom Ruch von Mottenkugeln jenseits des Haltbarkeitsdatums umgeben ist.
Mittlerweile jedoch hat sich die Sachlage leicht geändert. Erstens haben skeptische Frauen das Internet für sich entdeckt und kommen jenseits der Leitmedien zu Wort, zweitens haben die Klassensprecherinnen des Feminismus den Bogen noch einmal deutlich gekrümmt und dabei womöglich überspannt: Die virulente #metoo-Debatte bei gleichzeitigem Aussparen rasant ansteigender importierter Männergewalt könnte ein Kippunkt sein, auch die krakenarmgleich ausgreifenden Quotenregelungen dürfte Frauen und Lila Pudeln beizeiten auf die Füße fallen.
Mittlerweile, seit wenigen Jahren erst, gibt es also Grund zur Hoffnung! Nehmen wir nur Birgit Kelle, die in Talkshows feministischen Eiferern beiderlei Geschlechts Saures gibt, oder das Mannequin Anabel Schunke, die dergleichen durch ihre Netzbeiträge erledigt. In Frankreich haben sich prominente Frauen gegen den Männerhatzfuror der #metoo-Kampagne ausgesprochen, und in Übersee gibt es längst Galionsfiguren wie Ann Coulter, Christiane Hoff Sommers, Laura Ingraham oder als Vertreterinnen der jungen Generation Frauen wie Brittany Pettibone oder Lauren Southern, die dem Feminismus als Staatsdoktrin Paroli bieten.
»Die meisten Frauen haben keinen Mut zur Unbeliebtheit, deshalb glucken sie zusammen und praktizieren Gruppendenken. Ich schon. Ich brauche bloß Respekt. Ob man mich mag, ist mir egal«, sagt Camille Paglia. Keine Frage, Paglia, die mal als »Anti-Feministin«, mal als »Radikalfeministin« Apostrophierte, ist furchtlos. Sie ist damit eine Ausnahme: Medienpräsente Frauen machen sich im Durchschnitt stärker als Männer im politischen Mittelmaß breit und Akademikerinnen an den reichhaltigen Töpfen des Gender Budgets.
Nun wird das »Gruppendenken«, die Konformitätsneigung, die Paglia für typisch weiblich hält, in Deutschland viel rigider von Maßgaben der Medienindustrie befördert. In Paglias Heimat hingegen führen Frauen, die weit jenseits des linksliberalen Spektrums stehen, Kolumnen in den Leitmedien, sie sind gesuchte Interviewpartner und dürfen in politischen Fernsehformaten den streitbaren, respektierten Gegenpart geben.
Karrieren wie die von Ann Coulter oder Michelle Malkin sind hier bislang undenkbar. Wenn Anne Will und ihre publizistischen Schwestern mal »richtig kritisch« einhaken, dann tun sie es zur Verteidigung der Allgemeinplätze. Das allerdings ist eine Anerkennungsneurose und ein Treiben im Hauptstrom, für die (Massen-)Männer kaum weniger anfällig sind. Die Nebenkosten für ein Ausscheren sind bekanntlich hoch – schon gar im Beitragsservicedeutschland, wo der Staatsfunk jährlich knapp acht Milliarden Euro von seinen Bürgern einzieht, um mit Qualitätsjournalismus dieselben Bürger auf Linie zu halten.
Camille Paglia sagt, sie besitze das Parteibuch der »Liberals«, also der Demokraten. Und wenn! Seit achtundzwanzig Jahren ist sie mit weitgehend ununterbrochener Medienpräsenz das intellektuelle enfant terrible dieser Klientel.
Ihr Ruf als »akademischer Rottweiler« wurde beizeiten gefestigt: Ihr Betragen war bisweilen unverschämt, ihre Sprache unverblümt, ihre wissenschaftlichen Leistungen enorm. Die erweiterte Fassung ihrer Dissertation lag 1981 vor. Es sollte ein Jahrzehnt vergehen, bis sie einen Verlag für ihr Mammutwerk fand, von dem Paglia selbst mutmaßt, es sei das dickste Buch, das je von einer Frau geschrieben wurde. Sexual personae. Art and decadence from Nefrititi to Emily Dickinson umfaßt allein in der deutschen Ausgabe (Die Masken der Sexualität, 1992) knapp 900 Seiten. Sowohl dieses Opus magnum als auch der hübsche Extrakt (Sexualität und Gewalt. Oder: Natur und Kunst), den dtv Mitte der Neunziger publizierte, sind heute vergriffen.
Ich selbst war 1996 an einem Grabbeltisch bei Karstadt auf diese dtv-Ausgabe und damit auf Paglia gestoßen. Lektüren, die dem Leben eine Richtung geben: Hier war so eine! Von Stund an verstand ich mich als Paglianerin. Was ich je so geahnt hatte, was mich – wie wohl fast jede junge Frau – in punkto Geschlechterbeziehungen, Weiblichkeit, Männlichkeit, umtrieb: Hier war es in Worte gefaßt!
Gleich mit dem ersten Satz ihres Mammutwerks läutet Paglia, die streng katholisch sozialisierte Tochter, häretisch ein: »Am Anfang war Natur.« Nicht: »das Wort«, denn Worte neigen zur Lüge und Verbrämung. Ewig, sagt Paglia, sei der Unterschied zwischen Mann und Frau. Die Sexualität, bestimmt durch »dunkle pagane Mächte« und nur oberflächlich befriedet durch kulturelle Transformationen, markiere dabei die »heikle Schnittstelle zwischen Natur und Kultur«.
In den Masken läßt Paglia die Kultur- und Literaturgeschichte vom alten Ägypten bis ins 19. Jahrhundert unter den – für sie bestimmenden – Vorzeichen der Geschlechterdifferenz antreten. Kultur, so ihre These, entstehe im wesentlichen durch die Domestizierung von Sexualität. Die Geschichte sei geprägt durch das Ringen zwischen abendländische Wort- und heidnischer Bildkultur.
Von Nietzsches Interpretation beeinflußt sind die Gegensatzpaare, mit denen Paglia arbeitet und aus deren stetigem Ringen sie sämtliche Kulturleistungen ableitet: hier das Apollinische als genuin männliches (und westliches) Prinzip, als Klarheit, Sprache, Struktur und Erfindungsgabe zutagetretend – dort die dionysischen Kräfte, das Erdgebundene, irrationale, fließende, weibliche, der fruchtbare Urschlamm. Kunstschaffen und Transzendenz entstehe allein aus männlich-apollinischer Abwehr der chthonischen Verlockung. Der weibliche Körper, gleichgültig gegen den Geist, der ihn bewohnt, habe organisch nur eine Bestimmung: »die Schwangerschaft, deren Verhinderung uns ein Leben lang beschäftigen kann.« Die nicht unwesentliche Rolle der Frau als Kulturvermittlerin allerdings spart Paglia aus.
Es ist dabei keineswegs so, daß sie Nuancierungen der geschlechtlichen Dualität ausließe – sie kennt die Ausflüchte aus den Zwängen der Natur allzugut. Auch sie sind, auf ihre Weise, »natürlich«. Paglia hat einen Sinn für Ambivalenzen. Wie ginge es auch anders!
Nur, wer Ambiguitäten zuläßt, kann all dies – wie Paglia – in einer Person vereinen: Frauenrechtlerin sein und zugleich den zeitgenössischen Feminismus rundweg ablehnen; sich für das Recht auf Abtreibung aussprechen, aber zugleich Abtreibung für Mord halten und den Lebensrechtlern Anerkennung zollen, seit je die Linke wählen, aber Trump Anerkennung zollen; Homosexualität für eine Abirrung erklären und dabei selbst lesbisch zu leben.
Ihr eigenes »sexuelles Versagen« hat die Lesbierin Paglia eingeräumt. Doch gesteht diese »woman warrior«, diese »Kriegerin«, als die sie tituliert wurde, diese »narbenbedeckte Veteranin der Geschlechterkriege« (Paglia über Paglia) ein, daß ihr eigener juveniler Protest gegen die primäre Sozialisation (die Erziehung als Mädchen also) sie mit ähnlichem Furor »geradenwegs zur Biologie« zurückgeführt habe.
Niemand, auch nicht die »männlich« auftretende Frau, könne letztlich aus seiner, aus ihrer Haut. Die Geschlechterdifferenz sei zwingend: »Wir können dem Leben in diesen faschistischen Körpern nicht entfliehen.«. Der zivilisierte Mensch verheimliche sich gern, wie sehr er der Natur ausgeliefert ist. Ein »Schulterzucken der Natur« reiche, um dieses brüchige Gefüge einstürzen zu lassen und atavistische Verhaltensweisen zum Vorschein zu bringen.
Paglia ist eine Kritikerin Rousseaus und der Milieutheorie in dessen Folge ebenso. Die Dekonstruktivisten und Poststrukturalisten (»französischer Quatsch«, »intellektuelle Leichen«) haßt sie leidenschaftlich. Die breite Wirkung, die Derrida, Lacan, vor allem aber Foucault in akademischen Kreisen feierten, nennt Paglia ein krankes »Führer-Syndrom« und »die Sehnsucht vermeintlich freier, liberaler Denker nach einer Autorität.« Der moderne Feminismus gilt ihr als eine Hauptströmung, die den wirklichkeitsblinden Machbarkeitsglauben jener Vorväter beerbt hätte. Indem sie »sich bemühen, der Sexualität Machtverhältnisse auszutreiben, wenden sie sich gegen die Natur. Sexualität ist Macht.«
Paglia widmet sich dem unkorrumpierbaren Wirken der Natur (als »Schicksal«) und ihren Gesetzen; ihre Leidenschaft gilt der Kunst, der kreativen Schaffenskraft, dem, was ihr als männliches Prinzip gilt: »Wäre die Zivilisation den Frauen überlassen, säßen wir heute noch in Schilfhütten.« Daß sie regelmäßig der Misogynie bezichtigt wird, ficht sie nicht an. Sie beschreibt nur, was sie sieht. Vor Frauen, die sich selbst ermächtigen, zieht sie den Hut.
Gewohnt brachial aber zeigt sie jeglichem Machbarkeitsdenken in punkto »Rollentausch« die rote Karte: Keine Gesetzgebung, kein Beschwerdeausschuß könnten an den Grundtatsachen geschlechtlicher Bedingtheit rütteln.
Ist das so? Haben die neuen Sozialtechnologien der Sexualingenieure nicht Schluß gemacht mit Bildern von Hammer und Amboß, wie Paglia sie zeigt, von urmännlich und urweiblich? Ob der scheinbare Siegeszug der spätfeministischen Gender-Ideologie dauerhaft sein wird, ist in der Tat eine offene Frage.
Wieviele Ehen, wieviele Liebschaften und Selbstkonzepte an der praktischen Umsetzung der Gender-Doktrinen scheitern, darüber fehlen naturgemäß Statistiken. Keine Frage ist, daß mit der Zurückdrängung der Natur in allen Bereichen des Lebens auch das Weibliche an Bedeutung verliert.
»Geschlechtergerechtigkeit« über Vätermonate, Flirtgebote und Castingrichtlinien (#metoo!) et al. den Männern einzupflanzen zu wollen, ist ein utopischer Wahn. Paglia erlaubt sich den dezent-hämischen Hinweis auf das Liebesvorspiel der Täuberiche, die sich peinlich aufblähen, und der Tauben, die – nicht minder durchschaubar – zunächst so tun, als lasse sie das Werben kalt.
Paglia, die Frau, die Vergewaltigungen erklärbar machen wollte, Pornographie als urmännliches Bedürfnis versteht, Männlichkeit aufs engste mit Homosexualität verknüpft sieht, die Todesstrafe befürwortet und sich genauso umißverständlich für ein Recht auf Abtreibung einsetzt (das sie als Recht zu einem »Mord« und zugleich zynisch als ewiges »Recht des Stärkeren« bezeichnet), gilt sowohl Bürgerlichen als auch Feministinnen als unnahbares Schreckgespenst.
Was teils auf Gegenseitigkeit beruht: Emanzen sind für Paglia »trübsinnige Figuren«, häßlich, beschränkt und prüde, geschrumpfte Existenzen ohne Substanz, die mit »verkümmerten Bücherwürmern« das Bett teilen. In den USA reüssiert Camille Paglia bis heute als streitbarer Gast in Talkshows, klein, zierlich, augenrollend und – intellektuell stets eloquent – Wortkaskaden auftürmend.
Paglia, die angeblich gern blutige Steaks in rauhen Mengen verzehrt, ist mittlerweile 70 Jahre alt. Sie unterrichtet immer noch als Professorin für Medien- und Geisteswissenschaften in Philadelphia. Bewußt lebe sie in einem kleinen Vorort anstatt in den brodelnden Städten wie New York oder Washington, die keine guten Orten seien, um sich als Intellektuelle einen unabhängigen Status zu bewahren. Das Leben dort mit seinen sozialen Netzwerken, Parties und Empfängen, mache verletzlich und abhängig von der veröffentlichten Meinung. Großstadtleben schaffe Duckmäuser – sie kenne das aus eigener Anschauung.
Jene Camille Paglia, die die gesamte abendländische Geistesgeschichte griffbereit im Marschgepäck vorhält, scheut sich nicht vor den Niederungen des Trivialen. Nichts aus der Welt des Boulevard ist ihr fremd, Pop-Phänomene dechiffriert sie meisterhaft. Paglia sieht sich selbst als provozierende Vermittlerin zwischen der weltfremden linken, nach wie vor von Marxismus und Frankfurter Schule beeinflußten Welt der Universitäten einerseits und den Massenmedien andererseits. »Establishmentfeindliche Einzelgänger wie ich sind wieder in Mode«, schreibt sie selbstironisch. Das sei typisch amerikanisch: Sie dürfe den »Lonesome cowboy« geben, der »aus der Wüste kommt, um im Salon herumzuballern und die Ratten aus der Stadt zu jagen.«
Hillary Clinton (deren Einstellungen sie mit dem üblichen männerfeindlichen »Feminazi«-Gepäck beladen sah) erntete ebenso Paglias Kritik wie zuvor deren Mann Bill. Als eine der wenigen US-Intellektuellen befand sie Clinton nach seiner Sex-Affäre mit Monica Lewinsky als untragbar für ein repräsentatives politisches Amt.
Vor ein paar Jahren hatte Paglia als Verteidigerin der geschaßten konservativen Präsidentschaftskandidatin Sarah Palin von sich reden gemacht. Die Medienhetze gegen Palin verglich Paglia mit der Hysterie der Hexenprozesse. Die Demokraten verhöhnten die Religiosität der Republikaner, sie hätten mit ihrer eigenen, neuerdings so intoleranten, Ideologie jedoch eine säkulare Ersatzreligion geschaffen.
Mit Palin, die ihr Selbstbild eben nicht aus Gender studies kreiiert habe, würde endlich ein wahrhaft »muskulöser Feminismus« Zähne zeigen. Ihr, der konsequenten Abtreibungsgegnerin, sei es gelungen, die pseudohumanistische Inkonsequenz der Linksliberalen zu entlarven. Denn wie könne man gleichzeitig das Recht auf Abtreibungen befürworten und die Todesstrafe für barbarisch halten? Paglia: »Verdient nicht ein Verbrecher eher seine Auslöschung als ein Unschuldiger?«
Die vorliegende Aufsatzsammlung erstreckt sich auf einen Zeitraum von 28 Jahren. Sollte uns das Phänomen »Madonna« (die Künstlerin ist gerade 60 geworden) noch heute interessieren, die hierzulande ohnehin unbekannte Debatte über Anita Hill und Clarence Thomas, oder eine jahrzehntealte Einlassung zum Thema »Männersport«? Ja, ja, und abermals ja! Die Punkte, die Paglia anspricht, sind von zeitloser Relevanz. Wo es nicht unmittelbar deutlich wird, wurde hier der Aktualitätsbezug durch Fußnoten hergestellt. Man darf diese Anmerkungen durchaus als »Reader« zum Buch begreifen!
Ohnehin wird keiner dem Aufsatz über »Sex und Gewalt«, einer Auskopplung aus Camille Paglias Mammutwerk Masken der Sexualität den Rang eines echten Klassikers absprechen wollen. Es heißt ja, daß die Wellen sämtlicher Diskurse, die an der US-amerikanischen Ostküste stattfinden, mit zwei- oder dreijähriger Verspätung am europäischen Kontinent anbranden.
Nun ja: Gelegentlich dauert es weitaus länger, bis diese Gefechte hierzulande virulent werden. Man denke nur an die erst seit 2017 grassierende #metoo- Debatte. Den Kosmos an Übergriffigkeiten, die man als solche empfinden könnte, und an Gemengelagen, die zu derlei führen können, hat Paglia bereits vor Jahrzehnten antizipiert und skizziert und darüber gespottet, wie Beamtenseelen und -seelinnen eine sprudelnde Quelle, einen mäandernden Fluß durch Begradigung und Betonierung zu dressieren versuchen!
Paglia mit einer herkömmlichen deutschen Feminismuskritikerin zu vergleichen, hieße, einen Kampfhund neben einen gepflegten Labrador zu stellen. Wo hierzulande maßvolle Bedenkenträger argumentativ »ausholen«, kommt es am Ende bloß zu einer detaillierten Rechtfertigung oder einer bescheidenen Anklage. Wenn Paglia »ausholt«, dann kracht es! Ihr jüngstes Interview mit dem Psychologieprofessor Jordan Peterson (auf YouTube leicht zu finden) ist ein gutes Beispiel. Eine Million Leute bereits haben es sich angeschaut. Antifeminismus: läuft!
Frauen bleiben, Männer werden heißt im amerikanischen Original Free Women, Free Men – eine hübsche Doppelbedeutung. Man darf es einerseits normativ lesen: Freie Frauen, freie Männer. Andererseits hat es einen appellativen Hintersinn: Befreit die Frauen! Befreit die Männer! Nun: Wovon? Gewiß nicht von ihren angeblichen »Rollen«, die außerhalb gesellschaftlicher Zuschreibung liegen, nämlich in der Natur der Dinge. Befreit sie vom Schutt des Zeitgeistes, meint Paglias »Free«.
Die vorliegende deutsche Übersetzung des Titels (Frauen bleiben, Männer werden) nimmt diesen Impuls auf: Als Imperativ im Sinne von »Bleibt Frauen! Werdet Männer!« kann man diese Überschrift ebensogut lesen wie als Feststellung des unaufhebbaren Geschlechterunterschieds. Das wäre in Paglias Sinn: Den einen liegt die Rückbesinnung, den anderen das Sichstrecken in der Natur.
Ist das unfair? Wer sagt, daß es je um Fairneß ging?   Kositza

Auch Barbara Vinken kann die Empörung nicht nachvollziehen.

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