Beim Schreiben über einen „psychoaktiven“ Gegenstand kann sich dieser dergestalt verselbständigen, daß nicht länger der Autor sein Thema beherrscht, sondern das Thema ihn, und wo er noch darüber zu schreiben scheint, wird er in Wahrheit davon geschrieben. Unversehens kann der Historiker zum Nationaldichter werden, der Ethnologe zum Schamanen, der Religionswissenschaftler zum Propheten. Ältere, vormoderne Organisationsformen des Wissens haben sich in solchen Fällen ihrer Unterwerfung durch die nüchtern-objektivierende Wissenschaft erfolgreich widersetzt – sich gewissermaßen an ihr gerächt, sofern es ohne Zustimmung des Autors geschah. Im Umkehrschluß könnte diese Beobachtung zur These verleiten, religiöse Schriftstellerei sei unter den Bedingungen der modernen Wissensproduktion überhaupt nur noch im Modus ihrer wissenschaftlichen Erforschung möglich, mit anderen Worten die eigentliche, noch relevante Fortschreibung religiöser Tradition finde nicht mehr in den offiziellen kirchlichen Institutionen und deren Verlautbarungen statt, sondern in der wissenschaftlichen und philosophischen Aufarbeitung der Traditionsbestände.1 In der Moderne wären die eigentlich Religiösen mithin die scheinbar Gottlosesten, und wer ab einem bestimmten Grad kritischer Auf- bzw. Abgeklärtheit weiterhin die „geistliche Nachfolge“ anstrebt, der könnte paradoxerweise nichts besseres tun, als sich unter die Regeln – hinter die Maske – des wissenschaftlich-reflektierten Geisteslebens zu begeben.
Mit Ausnahme vielleicht von C.G. Jungs Werk, das zwischen analytischer Wissenschaft und archaischer Psychagogie vexierbildhaft changiert, gibt es wohl kein besseres Beispiel für eine derartige Pseudomorphose – um einen Ausdruck Oswald Spenglers zu gebrauchen – als Leopold Zieglers frühes Hauptwerk „Gestaltwandel der Götter“. Man könnte das zuerst 1920 bei Samuel Fischer, in zweibändiger Ausführung dann 1922 bei Otto Reichl erschienene Buch2 sogar als den Prototyp oder das Gründungsdokument dieser paradoxen Strategie betrachten, indem es sie selbst implizit mitreflektiert und im wesentlichen nachzuweisen versucht, daß die vormals in den Religionen gebundenen geistig-seelischen Energien am stärksten fortleben im „Mythos Atheos der Wissenschaften“3, und daß eine zeitgemäße Religiosität nur noch eine solche ohne Dogma, ohne Institution, ohne Jenseitsglauben, ja ohne Gott sein könne. An der Oberfläche ein ideengeschichtliches, besser noch religionsphänomenologisches Werk – die Religionsphänomenologie war kurz zuvor mit Rudolf Ottos epochemachender Studie über „Das Heilige“ (1917) inauguriert worden – kündigt der „Gestaltwandel“ bereits mit der einleitenden Gleichnisrede im Zarathustra-Stil seine höheren Ambitionen an, und spätestens in der letzten und zentralen der sechs Betrachtungen, „Die Mysterien der Gottlosen“, wird klar, daß hier eine Art atheistischer Mystagoge am Werk ist. Ganz in diesem Sinn ist das Buch von den Zeitgenossen auch aufgenommen worden, so von dem Dichter und Kulturphilosophen Rudolf Pannwitz:
„Hier entsteht Religion, hier ist ein Schöpfer von zukünftiger Religion. Ungeheurer Unterschied gegen alle Anempfindungen und Sehnsüchte nach Religion: […] Das ist eine neue Frömmigkeit, genährt von der Not des Weltalters – einer neuen griechisch-übergriechisch „tragisch“ zu nennenden Epoche, getragen aber von dem Doppelhimmel des leuchtendsten und des flammendsten Azurs: Buddho-Nietzsche. […] Nun diskutiere man das Buch nicht, plagiiere es auch nicht, sondern esse es als Opfermahl.“4
Auch wenn diese Sätze einen Gipfelpunkt hymnischer Begeisterung für den „Gestaltwandel“ markieren, und Ziegler selbst sich vom exaltierten Pathos seines Lobredners alsbald distanziert hat,5 machen sie die geistige Atmosphäre explizit, auf die das Werk im Nachkriegsdeutschland traf, in der seine Gedankenwelt als säkulare Heilsbotschaft begrüßt werden konnte. Es zählte zu den meistgelesenen philosophischen Büchern der frühen zwanziger Jahre und damit zu den großen philosophischen Publikumserfolgen des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland. Für Leopold Ziegler, der sich mit dem „Gestaltwandel der Götter“ relativ spät dazu gesammelt hatte, eine „erste, wie noch unzulängliche! Summe meines menschlich-denkerischen Daseins zu ziehen“6, – zuvor hatte er „eigentlich immer nur bei Gelegenheit philosophiert“7, – bedeutete dieses Zusammentreffen der eigenen Intentionen mit den Tendenzen des Zeitgeistes ein singuläres Ereignis, einen nie mehr erreichten Höhepunkt seines Schaffens. Obwohl seine späteren Hauptwerke „Überlieferung“ (1936) und „Menschwerdung“ (1948), die wesentliche Prämissen des Frühwerks, in erster Linie die Gott-ist-tot-Diagnose, aufgeben, den „Gestaltwandel“ an Bedeutung deutlich überragen, konnten sie nicht mehr an dessen Breitenwirkung anknüpfen, so daß der Name Leopold Ziegler noch heute am engsten mit diesem Titel verbunden bleibt. [8]
II.
Der Inhalt des Buches und seine starke Wirkung auf die damaligen (vornehmlich außerakademischen) Leser sind nicht ohne den Kontext seiner Entstehungszeit in den letzten Weltkriegsjahren und seines Erscheinens unmittelbar nach dem verlorenen Krieg zu verstehen. Neben Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ (1918/1922) und Max Schelers „Vom Ewigen im Menschen“ (1921) gehört es zu den prominentesten Versuchen jener Krisenzeit, das unerschüttert Gültige und weiterhin Fortlebende der abendländischen Tradition unter dem Schutt der in Trümmer liegenden Fortschritts- und Humanitätsideale in (kultur)philoso¹phi¹scher Grundlagenreflexion ans Licht zu heben. „Die Krisis der Ideale“ war der erste unveröffentlichte Entwurf bezeichnenderweise betitelt.9 Das Dilemma dieses Unterfangens, daß nämlich das Bedürfnis nach verbindlichen Wahrheiten und Werten sowie der Wille, sie zu bewahren, drängender waren denn je, aber keine geistigen und institutionellen Traditionen mehr vorgefunden wurden, deren Glaubwürdigkeit dem millionenfachen sinnlosen Tod in den Materialschlachten des Weltkrieges standgehalten hätte, erzeugte eine mehr oder weniger paradoxe Mentalitätslage: die sogenannte „Konservative Revolution“. „Werte schaffen, die zu erhalten sich lohnt“, brachte Arthur Möller van denBruck den kleinsten gemeinsamen Nenner der ansonsten nur lose zusammenhängenden Geistesströmung auf den Punkt. Es handelt sich dabei um folgende Denkfigur: Man übernimmt zwar den revolutionären, konstruktivistischen Gestus der Moderne, benutzt ihn aber nicht, um ein philosophisches oder gesellschaftliches Erneuerungsprogramm nach modernen, aufklärerischen Prinzipien zu entwerfen, sondern um gleichsam ins Nichts hinein – nach dem Vorbild von Nietzsches „befehlenden Philosophen“ – eine neu-alte Tradition zu konstruieren, eine Tradition-Als-Ob.
Mit seinem Pathos der „Tat“, seinem Willen zur „Religion überhaupt“, mit seinem Aufruf an die fragile Gestalt des historischen, „gottlos“ gewordenen Menschen, die ganze Last der Transzendenz weiterhin und nunmehr freiwillig auf sich zu nehmen, um ein Werk der „Selbstvergöttlichung“ zu vollbringen, gehört auch Leopold Zieglers „Gestaltwandel der Götter“ in den Umkreis der „Konservativen Revolution“.10 Allerdings ist sein revolutionärer Gestus, verglichen etwa mit dem von Ernst Jünger oder Carl Schmitt, der denk¹bar mildeste und humanste, da es ihm, ganz abgesehen von seinem eingefleischten Antimilitarismus im Politischen,11 von vorne herein darum zu tun ist, einen zeitlosen Kern der Religion zu finden, der trotz und hinter allem Gestaltwandel der Götter unverwandelt erhalten bliebe, das heißt den revolutionären Bruch mit der Vergangenheit möglichst zu minimieren. Im zieglerschen „Dezisionismus“ ist die Entscheidung für das „alte Wahre“ eigentlich immer schon getroffen:
„Denn im Grund besteht kaum viel Zuversicht, daß künftighin etwas geschehe oder entstehe, was bisher überhaupt noch nie und nirgends geschehen oder gewesen war. […] Kindisch ist der Glaube an menschheitliche Zukünfte, die sämtliche menschheitliche Vergangenheiten auf den Kopf stellten und mit den Beinen strampeln ließen, und gereifte Geister, gereifte Seelen werden von allen künftigen Äonen höchstens nur vollere Verwirklichung erwarten, was immer eigentlich beabsichtigt, noch nie aber durchzusetzen war.“12
In dieser für Zieglers konservative Geistesart höchst charakteristischen Passage kündigt sich bereits sein späterer Denkweg an, der ihn in deutlicher Analogie übrigens zum Entwicklungsgang der Romantik von der modernen, tendenziell nihilistischen Ausgangslage immer tiefer in die Vision einer „integralen Tradition“ im Zeichen des christlichen Kreuzes hineinführen wird. Nachdem 1922 in „Der ewige Buddho“ zunächst noch ein weiterer Schritt in Richtung auf eine atheistische Religionsphilosophie erfolgte, verlor sich das anfängliche labile Gleichgewicht zwischen Tradition und Moderne in der Folgezeit immer mehr zugunsten der Tradition, so daß Ziegler im Alter seinen „Gestaltwandel“ ein „mir selbst tief unheimliches, mir selbst nie recht ,geheures‘ Buch“ nennen konnte.13
Will man sich aber Zieglers faszinierendem, noch immer sträflich brachliegendem Spätwerk mit Verständnis nähern, so wird man nicht umhinkönnen, den „Gestaltwandel der Götter“ als den Keimling seiner eigenen philosophischen Metamorphose zu studieren. Man wird daraus vor allem lernen, daß es einen modern-nihilistischen Sonderweg in die Tradition gibt, und sich die Frage stellen, ob die metaphysisch begründete Tradition womöglich nie etwas anderes war, als das Ergebnis einer von jeder Denkergeneration neu zu vollbringenden aktiven Projektion und Beschwörung – einer „Ahmung“ im zieglerschen Wortsinn.14
III.
Sehr zu Zieglers Verdruß, der von einer „fatalen contemporanéité“ sprach,15 wurde der „Gestaltwandel der Götter“ bei seinem Erscheinen oft in einem Atemzug mit Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ genannt – offenbar im richtigen Bewußtsein einer typologischen Verwandtschaft beider Bücher. Immerhin beansprucht auch Spengler im Untertitel, „Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“ vorzulegen, und sein Satz aus dem Vorwort „Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen“16 könnte ebensogut von Leopold Ziegler stammen – wobei allerdings seine Durchführung der goetheschen Methode und seine Antworten auf Nietzsche beträchtlich von Speng¹ler abweichen.17 Schon im Titel „Gestaltwandel der Götter“ spricht sich die erkenntnisleitende Prämisse aus, daß das von Goethe mit „anschauender Urteilskraft“ im Pflanzen- und Tierreich vorgefundene Prinzip „Metamorphose“ auf die höchsten menschlichen Kulturleistungen, namentlich auf die Religionen der Hochkulturen methodisch zu übertragen sei:
„Eine goethisch betreute und goethisch betriebene Typologie reichte […] grundsätzlich soweit wie das Leben selber und wäre in folge davon weder nach unten noch nach oben genau so sicher zu begrenzen. […] Eine morphologische Typologie, Anthropologie, Charakterologie, Soziologie, Physiognomik höchsten Stiles, wie sie dem Dichter der Menschlichen Komödie auf seine Weise vielleicht doch schon vorgeschwebt hatte, müßte es erlauben, die goethische Methode auf alle inneren und äußeren Gestalterfahrungen überhaupt anzuwenden und dadurch ins Unabsehbare zu verfruchtbaren.“18
Dieses Programm einer Kultur- und Religionsmorphologie – im „Gestaltwandel der Götter“ eher visionär entworfen als konsequent durchgeführt – beruht auf der (lebensphilosophischen) Voraussetzung, daß auch Kulturen und Religionen letztlich als historische, gewachsene, vergängliche Hervorbringungen des „Lebens“ zu verstehen sind – und „des Lebens Hochgeheimnis heißt unter allen Umständen Form-Wechsel, Gestalt-Wandel.“19 Unter dem physiognomischen Blick des Lebensphilosophen erscheinen die Glaubenslehren und selbst die philosophischen Systeme der Vergangenheit als ein Reigen auf- und verblühender Wahrheitsgewächse, die gleich allem organisch Entstandenen dem ehernen Gesetz des goetheschen Stirb und werde! unterworfen sind. Weder hat eines von ihnen einen privilegierten Zugang zur Wahrheit über das factum brutum hinaus, ihr den jeweils zeitgemäßen Ausdruck zu verleihen, noch können sie im idealistischen Sinn als Etappen auf dem Weg des Geistes zu sich selbst hin gelten. Gestaltwandel bedeutet permanentes Werden, aber keineswegs Fortschritt. „Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Jede Philosophie ist ein Ausdruck ihrer und nur ihrer Zeit“, heißt es bei Oswald Spengler in gewohnter Zuspitzung.20
Offenbar sind in dieser Konstellation zwei einander widersprechende Positionen auf paradoxe Weise miteinander verbunden, nämlich ein extremer Skeptizismus und Relativismus hinsichtlich aller historisch vorliegenden Wahrheitsangebote einerseits, andererseits ein nicht minder extremer epistemologischer Optimismus, man könne dem Gestaltwandel des Geistes durch die Zeiten in fast gottgleicher physiognomischer Schau auf den Grund blicken, will sagen den überzeitlichen Typus hinter allen zeitlichen Formen zu Gesicht bekommen. „Der Typus als Wirklichkeit dauert nicht, der Typus als Dauer wirklicht nicht, – das ist bündig und kurz das etwas aufreizende Ergebnis von Goethes großer neuer Wissenschaft“21, beschreibt Ziegler die unversöhnbare, identitätsphilosophisch nicht aufhebbare „Differenz“ innerhalb des morphologisch-physiognomischen Denkens.
Während nun Spenglers Augenmerk auf die „nichtdauernde Wirklichkeit“ innerhalb dieser Differenz gerichtet ist und er deshalb mit Recht seine Philosophie einen Skeptizismus nennen kann, der „das Weltbild der voraufgegangenen Kultur zersetzt“22, hält Ziegler im Gegenteil nach dem „Typus als Dauer“ Ausschau, da dieser allein einen „Sinn und Übersinn der Welt“ (so der Arbeitstitel des „Gestaltwandels der Götter“) zu verbürgen und die „Kultur“ vor dem Absturz in den heillosen Nihilismus der „Zivilisation“ zu retten vermag.23 An einer der Schlüsselstellen des Buches läßt sich beobachten, wie die „Philosophia Perennis“ von Zieglers späterer Schaffensphase sich aus dem lebensphilosophischen Zeitgeist bereits herauszuschälen beginnt, indem die goethesche Morphologie mit den alten spirituellen Weltalterlehren allmählich zusammenwächst, sich zu diesen gewissermaßen rück-metamorphosiert:
„Zeitlich aufeinandergeschichtete Wiederkünfte von Weltstufen und Weltaltern würden sich zeitlich hier zu Weltspiralen aneinanderringeln und in einem vielleicht später einmal durchaus enthüllbaren Wortsinn den Begriff von der Spiraltendenz, von der Zirkumnutation der Pflanzenteile ins Menschheitliche ungeheuer zu übertragen gestatten als eine […] Hypothesis der Erkenntnis alles organisch Daseienden überhaupt. In weiter oder enger gewundenen Spiralen wird dermaleinst vielleicht auf höher und höheren Ebenen Dieselbe und Einige Gestalt aller Gestalten zur Wahrnehmung gelangen können, einen Adspekt auf eine besondere Art charakterologischer oder physiognomischer Unsterblichkeit herrlich eröffnend […]. Und von hier aus könnte dann […] ein Tropfen jenes einhaltenderen, atemholenderen, gelasseneren, feiertäglicheren Zeitmaßes balsamisch lind, bindend und sänftigend ins fiebrige Getriebe ci-devant Europas fallen und endlich, endlich unserer Geschichte ein Gut retten, das sie bis heute in verhängnisvollen Graden hatte durchweg missen lassen, – Dauer!..“24
Dieselbe und Einige Gestalt aller Gestalten – sie wird Ziegler später den „allgemeinen Menschen“ nennen: „dauernder Typus“ und Träger von natürlicher und kultureller Evolution gleichermaßen, in den Mythen aller Völker und Zeiten bildhaft gespiegelt, im christlichen Gedanken der „Menschwerdung“ zu höchstem – wenngleich keineswegs ausschließlichem – Ausdruck gekommen und selbst im abstraktesten Formelwerk der modernen Naturwissenschaft noch das eigentliche Subjekt-Objekt der Erkenntnis. Und die weiter oder enger gewundenen Weltspiralen, die das fiebrige Getriebe der modernen Fortschrittszeit in sich „aufheben“ und außer Kraft setzen – in ihnen ist die „Verwindung“ der Moderne schon vorweggenommen, wie sie Ziegler dann in einer Art Parallelunternehmen zu Martin Heideggers Verwindung der Metaphysik herausarbeiten wird.
IV.
Der „Gestaltwandel der Götter“, gleich im Erscheinungsjahr 1920 mit dem Nietzsche-Preis ausgezeichnet, denkt im anspruchsvollen Sinn des Wortes „nach Nietzsche“. „Ziegler ist einer der zwei oder drei Deutschen, für die Nietzsche wirklich gelebt hat“, schreibt Pannwitz.25 Daran ist jedenfalls so viel wahr, daß Zieglers Buch innerhalb der ersten großen Rezeptionswelle Nietzsches in Deutschland zu den ambitioniertesten – und, nicht ganz unwesentlich: faschistisch unkompromittierten – Versuchen gehört, sich von den Hammerschlägen aus Sils Maria auf produktive Weise erschüttern zu lassen. Die Fragestellungen, die Ziegler „von Nietzsche hat“, in deren Horizont sein „Gestaltwandel“ sich einschreibt, sind wohl nirgends deutlicher und eindrucksvoller formuliert als im Aphorismus Nr. 125 der „Fröhlichen Wissenschaft“, betitelt: „Der tolle Mensch“. Dessen berühmte Worte über den Tod Gottes, seine Ermordung durch „uns alle“, gilt es, versuchsweise wie zum ersten Mal lesen:
„Aber wie haben wir dies gemacht? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts,vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“26
Dem „ungeheuren Ereignis“, das Nietzsche hier durch den Mund des tollen Menschen verkünden läßt und von dem er sagt, es sei „noch nicht zu den Ohren der Menschen gedrungen“27, leiht Ziegler als ein religiös überaus musikalischer Hörer sein Ohr. „Ich habe gehorcht“ wird sein selbstverfügter Grabspruch lauten. Den Autorenmotiven und überhaupt dem generativen Quellgrund des „Gestaltwandels“ kommt man um so näher, je besser man die Unerhörtheit und Ungeheuerlichkeit des Gottesmordes existentiell noch einmal nachzuvollziehen vermag. Nun war der Atheismus schon zu Nietzsches Zeit keine skandalöse Neuigkeit mehr, vielmehr war er bereits mit dem Szientismus und Positivismus zur herrschenden „Weltanschauung“ des neunzehnten Jahrhunderts geworden; die große Wirkung Nietzsches beruhte in dieser ersten Rezeptionsphase darauf, daß er die atheistische Botschaft mit prophetischer Geste verkündete, daß er die geistigen und seelischen Kosten des Gottesverlustes erstmals überzeugend vorrechnete, dabei aber gleichwohl nicht zum Dysangelisten wurde, sondern mit der Wendung zum Übermenschen die fortbestehenden Erlösungssehnsüchte – quasi-evangelisch – auf ein neues Ziel fokussierte.28
Eben diese paraprophetische, kryptoreligiöse Seite Nietzsches – von Spengler als dessen „Romantik“ abgetan – nimmt Ziegler auf. In ihm regt sich frühzeitig – oder ein letztes Mal, wer will das entscheiden (zwischen diesem Nicht-mehr und Noch-nicht sah sich Ziegler zeitlebens eingespannt) – der Impuls, den drohenden Substanzverlust der menschlichen Seele, die des Gottespols als ihres notwendigen Pendants verlustig gegangen ist, „in zwölfter Stunde“ noch einmal abzuwenden. Um zu verstehen, was in Zieglers Augen in diesen Jahren der Entscheidung auf dem Spiel steht, braucht man nur die folgenden Fragen von Nietzsches „tollem Menschen“ in ihrem ganzen Pathos ernst zu nehmen:
„Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser können wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?“29
Für Ziegler besteht kein Zweifel, daß insbesondere die letzte Frage bejaht werden muß; es klingt wie eine direkte Antwort darauf, wenn er schreibt:
„Die Götter sind tot, Gott selber ist tot. So leben denn die Götter, die Mensch-Gebildeten; so lebe denn Gott, der Mensch-Gott!…“30
Hierin spricht sich auch am bündigsten die zieglersche Modifikation an Nietzsches Therapievorschlag für das dekadente, entgötterte und entheiligte Europa aus, die im wesentlichen auf eine Milderung der Heilmittel hinausläuft („balsamisch lind“), anders gesagt auf eine Humanisierung oder Re-Traditionalisierung des eben nur bedingt „guten Europäers“ Nietzsche. Der Mensch-Gott ist zwar verwandt, aber nicht gleich dem Übermenschen! Die aufklärerische, insbesondere feuerbachsche Deutung Gottes als eines in die Transzendenz projizierten „Wunschwesens“ teilt Ziegler, aber nicht Emanzipation von allen traditionellen Bindungen sind aus seiner Sicht dem Menschen mit diesem Mehr- und Besser-Wissen aufgetragen, sondern die Verpflichtung, sich seiner naiveren, seelisch indessen so viel substanzreicheren Vergangenheit würdig zu erweisen. Denn, so Ziegler in dem Aufsatz „Entgöttlichung der Welt“ von 1928:
„Verjährt, endgültig verjährt ist […] der Größenwahn aufgeklärter Zeiten, homo sapiens könne auf vorgerückter Stufe vernünftiger Gesittung auf jene Deifikationstendenz verzichten, da sich doch umgekehrt menschheitlicher Hoch- und Tiefstand streng nach dem Aufwand bemißt, den wir unsern Göttern widmen, – was wir überhaupt nur taugen, bestimmt sich genau nach der Fähigkeit und Willfährigkeit, unbewußt die eigene Seelenfülle auf den Gott zu übertragen, um sie ihm dann bewußt, gesteigert und vervielfacht wieder zu entleihen.“31
V.
Spätestens an dieser Stelle ist ein Hochplateau der Problemstellung erreicht, das den „Gestaltwandel der Götter“ auch heute noch ein zeitgenössisches Werk sein läßt. Das Buch ist ein Kommentar zu jenem wahrheitsgeschichtlichen Moment, da der Mensch sich als der Erbe des toten Gottes bewußt wird und sich damit einem nie dagewesenen Freiheitsschub, einer beispielloser Machtfülle und einem beispiellosen Entscheidungsdruck, ausgesetzt sieht. Kraft der Möglichkeit gentechnischer „Übermenschenzüchtung“ hat diese Situation inzwischen eine technisch praktische Zuspitzung erfahren und damit eine ganz neue Qualität erlangt. Wer begreifen will, welches schon längst installierte Programm in der sich abzeichnenden technischen Autoplastik des Menschen zu Anwendung und Sichtbarkeit gelangt, tut gut daran, die Religionen als die Vor- und Frühstadien dieser Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen. Zwar ist das Motiv, daß der Mensch der Urheber seiner Götter sei, schon aus der griechischen Sophistik bekannt, aber erst in jüngster Zeit wird die Aneignung der in die Transzendenz ausgelagerten „göttlichen“ Attribute als das Arbeitspensum eines beginnenden neuen Weltalters erkennbar.32
Welche gewaltige Verantwortung dem Menschen zufällt, wenn er dergestalt darangeht, sich zu „übernehmen“ (man höre den Doppelsinn des Wortes), machen Zieglers theologische Anachronismen gerade durch ihren Verfremdungseffekt deutlich:
„Diese Kreatur Mensch, wie nichtswürdig, wie elend es bis dahin auch um sie bestellt sein mag, es bleibt ihr dennoch gar nichts übrig, als eines Tags die ungeheuerliche Last für Gottes Verwirklichung auf Erden […] unweigerlich sich auf die schwachen Schultern zu bürden: Atlas aus freien Stücken, dem die strahlende Wucht des globus coelestis nicht zu schwer dünkt.“33
Offenkundig steht der „Gestaltwandel der Götter“ selbst ganz im Zeichen dieser geistigen Athletik, die die Umverteilung der ontologischen Begründungslasten von Gott auf den Menschen zum Ziel hat. Indem Ziegler die traditionellen (europäischen) Stadien des Sprechens und Denkens über Gott – angefangen von den Epochen griechischer Religiosität (Erste Betrachtung) über die Entstehung und Entfaltung des Christentums (Zweite und Dritte Betrachtung) bis hin zur deutschen Reformation (Vierte Betrachtung) und schließlich zur atheistischen „Wissenschaftsreligion“ (Fünfte Betrachtung) – als Formen der menschlichen Selbstverständigung und Selbsterkundung transparent zu machen versucht, beteiligt er sich an der Aufgabe, das auf den Mensch-Gott ausgegebene Vivat wahr werden zu lassen. Erworben, um es zu besitzen, hat der Mensch sein göttliches Erbe erst, wenn er die alten Gedanken noch einmal denkt, die alten Geschichten noch einmal sich erzählt, diesmal aber so, daß er selbst und nicht mehr Gott oder die Götter als eigentliches Subjekt dieser Gedanken, als eigentlicher Held dieser Geschichten aufscheint. Im Rahmen des kontemplativen Denkstils abendländischer Philosophie, dem Ziegler als später Erbe angehört, ist diese Übersetzungsarbeit selbst schon die „Tat“, das Eine, das not tut: Opferung des alten Gottes, damit der Mensch-Gott lebe. Überflüssig zu sagen, daß eine (gen)technische „Menschgott-Verwirklichung“, wie sie heute als Möglichkeit im Raum steht, beim Humanisten Ziegler auf heftige Ablehnung gestoßen wäre.
Ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit treten dann vor allem jene traditionell unter Häresieverdacht stehenden religiösen Strömungen, die dem Menschen seit jeher ein besonderes Intimverhältnis zu Gott nachsagen und seiner Mitwisserschaft um göttliche Geheimnisse keine Grenzen gesetzt sehen, also namentlich die Mystik und deren theosophisch-spekulative Umrahmungen. Die Mystiker erscheinen nun als die ins mysterium deofactionis Eingeweihten, die es sozusagen immer schon gewußt haben, das heißt die in einer naiven und zugleich hochbewußten Rede das Geheimnis der Gottesgeburt in der menschlichen Seele aussprachen. „Weisheit“ war der traditionelle Name für dieses Eingeweihtenwissen, das im Rückblick nur um Haaresbreite von der modernen anthropologischen Religionskritik entfernt liegt – so grundverschieden beider Selbstverständnis und Motive selbstredend auch sind. So kommt es auch, daß Ziegler vom Buch Zohar der Kabbala sagen kann, es scheine sein „ganzes Mysterium der Gottlosen auf eine großartige Weise vorwegzunehmen.“34 Die herausragendste Gestalt in der Ahnenreihe dieser gottlos Frommen ist jedoch – außer Buddha, dem Ziegler ein eigenes Buch widmen wird35, und zumindest im Westen – Meister Eckhart:
„Und wenn in unserer Zeit ein Jakob, der wie kein Zweiter mit seinem Engel rang, das scheinbar frechste, in Wahrheit aber frömmste Wort gesprochen hat: gäbe es Götter, ihr Freunde, wie hielten wirs aus, nicht Gott zu sein.., wohlan! der ketzerische deutsche Meister hat es nicht ausgehalten, von seiner Ewigkeit nicht den richtigen Gebrauch zu machen, und hat derart vor sechshundert Jahren dem lästerlichen Frager von gestern und von morgen die schuldige Antwort in aller Deutlichkeit gegeben. Du bist Gott, ich bin Gott, sobald du und ich auf den Grund unserer Seelen tauchen und den Gegenwurf der Dinglichkeit und Mannigfaltigkeit verabscheiden. Wahrhaftig und gewiß: du bist Gott und ich bin Gott, und wir beide sind Schöpfer, Erlöser, Wesenheit, Ewigkeit, Heil, Gnade, Dauer, höchstes Gut und Ziel zumal, falls wir nur fortschreiten wollen zur ,nächsten Armut‘, zur Entwirklichung dieser Welt und zur Entselbstung dieses unseres Selbst…“36
Der frechste und zugleich frömmste Jakob unserer Zeit ist natürlich Nietzsche, und an dieser Stelle wird nun vollends deutlich, wieso ihm Ziegler die „freche“ Verfluchung des Christentums im Namen des Übermenschen als verkappte Frömmigkeit auslegen muß. In Wahrheit ist nämlich mit der mystischen Selbstvergottung der Seele, wie von Meister Eckhart und anderen Mystikern beschrieben, ein unüberbietbares Übermenschentum gesetzt, dessen archetypischer Prägekraft auch Nietzsches angeblich so unheiliger Übermensch nicht entkommt. Geht man diesem neu und revolutionär wirkendenKonzept auf den Grund, so stößt man auf das Bild des „ewigen Menschen“, dessen Realisierung „in dieser Welt“ traditionell das Kennzeichen des Heiligen war. Die Antwort auf den „lästerlichen Frager“ eines jeden möglichen „morgen“ ist also längst im gestern gegeben, es kommt nur darauf an, sie in die heutige Sprache zu übersetzen…37
VI.
Es macht Leopold Zieglers Anschlußfähigkeit für moderne Geister aus, – Anschlußnotwendigkeit sogar für jeden Versuch, das Verhältnis zwischen Tradition und Moderne nach dem Ende der „postmodernen“ Konjunktur neu zu bedenken –, daß er nicht einfach für eine Rückkehr zur Tradition oder ein Festhalten an ihrem Weisheitsschatz plädierte, sondern von der Intuition geleitet war, Religion müsse, um auch künftig mehr als nur subkulturelle Relevanz zu besitzen, durch die Feuerprobe der Modernität in all ihren Facetten hindurchgehen.38 Mit seinem Eintreten für eine postnihilistische Religiosität, für eine Religion des Trotzdem und des Als-Ob, positioniert er sich offenbar zwischen zwei gleichermaßen inakzeptablen Alternativen. Einerseits gilt es, die Herrschaft des „letzten Menschen“ zu verhindern, dessen Banal-Atheismus und Verweigerung jeglichen Opfers ruinöse Auswirkungen auf Seele und Kultur hat,39 andererseits darf es die neu-alte Religiosität aber keinesfalls zu billig geben, darf sie kein erschöpftes Zurücksinken in die Arme der Mutter Kirche sein, wie es nach dem Krieg auch und gerade unter Intellektuellen üblich wurde:
„Nur keine Frömmigkeit aus Schwäche, nur kein Glaube aus Ekel, nur kein Gott aus dem horror vacui, nur kein Kultus des Unsinnigen aus Ungenügen am Sinnhaften, nur keine Metaphysik aus Übelkeit an der Physik, nur keine Theologie aus Mutlosigkeit über die Kosmologie, nur kein Dogma aus Verzweiflung an der Kritik, nur keine Übergabe an den Okkultismus aus der Unvermeidlichkeit eines gewissen Irrationalismus. Lieber noch ein tapferer Nihilismus als die Fußfälle der Zerbrechenden und Gebrochenen; […]“40
Ziegler belegt hier mit seinem Bannfluch, was Oswald Spengler die „zweite Religiosität“ genannt hat. Gemeint ist ein verlogener und substanzloser Aufguß vergangener Glaubensinhalte, die keine wirkliche Verbindlichkeit mehr besitzen, ein postmoderner Religionssupermarkt ante literam. Während Spengler Religion im Stadium der fortgeschrittenen Zivilisation, nur noch in diesem äußerst defizienten Modus für denkbar hält – „der wirkliche Glaube ist noch immer der an Atome und Zahlen, aber es bedarf des gebildeten Hokuspokus, um auf die Länge ertragen zu werden“41 – kann Zieglers gesamtes Lebenswerk als eine Wette darauf gelten, daß eine „zweite Religiosität“ möglich ist, die mit der ersten zwar nicht identisch sein wird, sie aber ohne Verluste beerben kann.
Was Spengler nicht gebührend beachtet: auch der Glaube an „Atome und Zahlen“ ist ein Glaube, und zwar ebenso an „Götter“, wie es Wotan und Jahve waren, ein Glaube an Götter in gewandelter Gestalt. Anders als für Horkheimer und Adorno, die in kritischer Absicht den dialektischen Umschlag von Aufklärung in Mythologie betonen, sichert für Ziegler solch mythische Grundierung des modernen Geistes die Kontinuität der Tradition und gibt damit Anlaß zur Hoffnung, nicht zur Kritik. Naturwissenschaft ist ursprünglich ein „Mythos Atheos“ und damit weit davon entfernt, den mythischen Anfängen des menschlichen Geistes enthoben zu sein:
„Vielmehr es loht und lodert des Lebendigen Gottes feuriger Atem nicht minder erregend in und hinter den abgezogensten, ja erkünsteltsten und erfundensten Begrifflichkeiten unserer paradigmatischen Wissenschaft, die sich Mechanik nennt und sich das Ganze der Welt als einen durchgängigen Mechanismus gefügig gemacht zu haben behauptet. […] Just diese Kapitel, das erste und das letzte also der ,Welt als Maschine‘,“ heißt es in spätem Rückblick auf den „Gestaltwandel der Götter“ weiter, „schienen mir unabdingbar zu einer Theologie des lebendigen Gottes zu gehören.“ [42]
Heute würde Ziegler den „Atem des lebendigen Gottes“ viel eher noch im kybernetisch-systemtheoretischen Paradigma wiederfinden, worin Mechanizismus und Organizismus mittlerweile „aufgehoben“ sind.43 Eine positivistische Wissenschaftsreligion à la Comte ist damit allerdings nicht gemeint. Zieglers menschenrühmende Theorie hält zu den Ernüchterungs-, wie zu den prometheischen Ermächtigungsdiskursen der Moderne gleichermaßen Distanz. Freimütig bekennt er, daß „der Gedanke der Weltheiligung im Gestaltwandel nachmals auf das homerische Zeitalter historisch projiziert“ wurde44 und legt damit seine auf die Gegenwart zielende Wiedervergöttlichungsabsicht offen. Verklärung geht ihm vor Erklärung. Deshalb und insbesondere mit Blick auf den Ausdruck „Bocksgesang“, der im ersten Kapitel für „Tragödie“ steht, ist man versucht, den „Gestaltwandel“ als einen einzigen „anschwellenden Bocksgesang“ zu lesen. Rund siebzig Jahre vor Botho Strauß spricht auch aus ihm die Überzeugung, daß es „verhängnisvoll ist, keinen Sinn für Verhängnis mehr zu besitzen, unfähig zu sein, Formen des Tragischen zu verstehen“.45 Und wie für Strauß gibt es schon für Ziegler kein „Zurück“ zur tragischen Weltsicht, es sei denn in der paradoxen Form einer freien Einwilligung ins (mensch-göttliche) „Verhängnis“.46
VII.
Anachronistisch, aber nicht unpassend könnte man die positiv gewendete „zweite Religiosität“ Zieglers eine „Religion zweiter Ordnung“ nennen. Der Ausdruck „zweite Ordnung“ bezeichnet in der Systemtheorie ein strukturelles Mehr an Reflexion, das durch die Umstellung von Was-Fragen auf Wie-Fragen zustande kommt, wobei die erste Ordnung – hier: die „naive“ Religiosität – in der zweiten nicht verlorengeht, sondern der Substanz nach voll erhalten bleibt. Ist dieser zusätzliche Reflexionsschritt einmal getan, dann kommt das einer Vertreibung aus dem Paradies der naiven religiösen Dogmen und Rituale gleich; das religiöse Leben kann sich fortan nur noch autologisch, das heißt als (autopoietische) Selbstbeschreibung entfalten. Mit Niklas Luhmann gelesen, ist Zieglers gottlose Frömmigkeit das klassische und überzeugende Beispiel einer Paradoxieentfaltung: Der „Gestaltwandel“ ist ein religiöses Buch, obwohl, ja weil er die Religionen für unmöglich und beendet erklärt.
Bei der Frage nach dem Wie des religiösen Lebens stößt Ziegler in der letzten und insgesamt profilgebenden Betrachtung, „Die Mysterien der Gottlosen“, auf eine unausrottbare „Tendenz zur Religion“ im Menschen,47 die fortbesteht, auch wenn alle konkreten Religionen ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, ja die gerade dann in ihrer reinsten Form erst ans Licht kommt. „Ce qui seul est éternel dans les religions, c’est la tendence qui les aproduits“48, zitiert er in jenen Jahren des öfteren Jean Marie Guyau, den „französischen Nietzsche“. Als eine anthropologische Grundkonstante ist diese „Tendenz zur Religion“ sozusagen das formale religionenbildende Schema, das nach der historischen Liquidierung aller religiösen Inhalte als solches wahrnehmbar geworden ist. Und wie die Rezeption des „Gestaltwandels“ gezeigt hat: Die Offenlegung dieser Form wird nun ihrerseits zum religiösen Inhalt.
In dreifacher Weise ist dieses formale Schema, das Ziegler das „Mysterium der Tat“ nennt – der kleinste gemeinsame Nenner aller Religionen – näher bestimmt: „als Verschuldung und Entsühnung nämlich, als Opfer und Wiedergeburt, als Schöpfung und Erlösung…“49 Ohne auf die von Nietzsche inspirierten Umdeutungen dieser klassischen Kategorien durch Ziegler hier noch eingehen zu können, wird allein aus ihrer Aufzählung soviel klar: Es ist die Gestalt und seelische Substanz des hochkulturellen und „hochreligiösen“ Menschen, des Menschen des metaphysischen Weltalters, die Ziegler bewahrt sehen möchte. Zur Entstehungszeit des „Gestaltwandels“ waren dessen Auflösungserscheinungen bereits unübersehbar geworden, und heute erleben wir endgültig die Heraufkunft eines Menschentums, das – keiner Tradition mehr verpflichtet, bar aller seelischen Spannkräfte, nur noch am eigenen Lifestyle-Design interessiert – nach alteuropäischen Maßstäben kaum mehr Mensch genannt zu werden verdient. Mögen die Dogmen und Weltbilder der alten Religionen, in einer naiveren Zeit entstanden, heute auch nicht mehr glaubwürdig sein: Zu den psychischen und sozialen Formkräften, die durch sie in Gang gesetzt wurden und die am Menschen jahrhundertelang gearbeitet haben, ist nach Ziegler keine würdige Alternative in Sicht.
Der „Gestaltwandel der Götter“ zieht aus dieser Situation eine extreme, der Komplexität der Lage jedoch angemessene Konsequenz: Er läßt in einem Re-entry der Form in die Form das religiöse Opfer in sich selbst wieder eintreten und fordert als zeitgemäßen Akt die Opferung aller traditionellen Götter und Religionen.50 Man erkennt aber leicht die Labilität dieser Position, denn unweigerlich drängt sich die Frage auf, wie die lange Zeit nach diesem heroischen Selbstopfer, in der es ja weiterhin Religion geben soll, sich gestalten soll. So ist es denn kein Wunder, daß Ziegler schon gegen Ende der zwanziger Jahre – zum Befremden vieler seiner Leser übrigens – sich vom „Gestaltwandel“ abwendet und dessen formalisierte Religiosität nach und nach wieder mit den traditionellen, vornehmlich christlichen Inhalten füllt. Kein Wunder ist dies auch deshalb, weil mit der Idee des Gottesopfers bereits ein genuin christliches Motiv angeschlagen war, dessen Potenzierung zum Opfer der Religion und damit zum Atheismus als Vollendung des Christentums betrachtet werden kann.
Vom Standpunkt des frühen Ziegler sieht es beinahe so aus, als habe der spätere der eigenen Radikalität nicht standgehalten und genau jenen Fußfall vor dem Kreuz vollbracht, den er im „Gestaltwandel“ noch so heftig ablehnte. Der Denkweg dieses wiederzuentdeckenden Autors gleicht aber nur oberflächlich gesehen einem allmählichen Vergessen der eigenen Anfänge; bei tieferem Nachvollzug erweist er sich als Einübung in eine „Nichtvergessenheit“ (so Zieglers Übersetzung von aletheia, Wahrheit), die den lebensphilosophischen Zeitgeist nur als Eingangstor zu den Schächten einer prä- und womöglich transmodernen nichtlinearen Tiefenzeit benutzte. Sie gilt es nicht zu vergessen, will man dem gegenwärtigen Weltalterwechsel denkend beikommen und sich ihm handelnd gewachsen zeigen.51
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Fußnoten
1 Am
Beispiel Gnosis wird dieses Argument durchgespielt bei Manfred Sommer,
Gnosisforschung als Endgestalt der Gnosis, in: Peter Sloterdijk / Thomas
Macho (Hg.): Weltrevolution der Seele, o.O. 1991, S. 350 – 352.
2 Die Reichl-Ausgabe liegt hier im photomechanischen Nachdruck vor.
3 So der Titel der fünften Betrachtung des „Gestaltwandels“.
4 Rudolf
Pannwitz, Leopold Zieglers „Gestaltwandel der Götter“, in: Dienst an der
Welt. Zur Einführung in die Philosophie Leopold Zieglers, Darmstadt
1925, S. 56ff.
5 Vgl. vor allem Zieglers Briefe an Hermann Graf Keyserling, Badische Landesbibliothek Karlsruhe, unveröffentlichter Nachlaß.
6 Leopold Ziegler, Mein Leben, in: Dienst an der Welt, a.a.O., S. 202.
7 Ebenda.
8 Leopold Ziegler hielt sich
die Wortschöpfung „Gestaltwandel“ als Eindeutschung von „Metamorphose“
zugute. Den Begriff in die deutsche Sprache mit eingebürgert zu haben,
dürfte die stärkste Nachwirkung Zieglers im Geistesleben ausmachen.
fn9. Ein Teil davon wurde in die Endfassung eingearbeitet.
fn9. Ein Teil davon wurde in die Endfassung eingearbeitet.
10 Armin
Mohler führt in seinem Standardwerk Leopold Ziegler unter „Philosophen
im Umkreis der Konservativen Revolution“ und zwar im Unterparagraphen
„Überragende Denker mit anderem Ausgangspunkt“ (dort zusammen mit Max
Weber und Ludwig Klages) an. Vgl. Armin Mohler, Die konservative
Revolution in Deutschland 1918 – 1933, Darmstadt 1972, S. 307f.
11 Vgl. Mein Leben, a.a.O., S. 149f.
12 Gestaltwandel der Götter (GdG), Bd.II, S. 896f.
13 Vgl. Zum Geschick meiner Schriften, in: Leopold Ziegler, Spätlese eigener Hand, München 1953, S. 31.
14 Vgl. das Kapitel „Wunsch und Ahmung“ in: Leopold Ziegler, Überlieferung, Sankt Augustin 1999.
15 Mein Leben, a.a.O., S. 203.
16 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1997, S. IX.
17 Eine
scharfe Abrechnung Zieglers mit Spengler findet sich in: Leopold
Ziegler, Das heilige Reich der Deutschen, Darmstadt 1925, Band I, S.
417ff.
18 GdG, Bd.II, S. 669ff.
19 GdG, Bd.II, S. 655.
20 Oswald Spengler, a.a.O., S. 57.
21 Das heilige Reich der Deutschen, Band I, S. 423.
22 Oswald Spengler, a.a.O., S. 64.
23 In
seinem Jugendwerk Das Wesen der Kultur, Jena 1903, hat Ziegler sehr früh
mit der nachmals inflationär gebrauchten Unterscheidung Kultur /
Zivilisation operiert und selbstredend für erstere Partei ergriffen.
24 GdG, Bd.II, S. 672f.
25 A.a.O., S. 57.
26 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1982, S. 138.
27 Ebenda, S. 139.
28 Auf
Nietzsches „Evangelistentum“ verweist erneut und ausführlich: Peter
Sloterdijk, Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches
fünftes „Evangelium“, Frankfurt a.M. 2000.
29 Friedrich Nietzsche, a.a.O., S. 138 (Hervorhebung M.J.).
30 GdG, Bd.II, S. 818.
31 Leopold
Ziegler, Der europäische Geist / Die neue Wissenschaft. Zwei vergessene
Schriften, Zug 1995, S. 117. Dieses „Lob der Übertragung“ hat zuletzt
unter geänderten Prämissen Peter Sloterdijk in der Vorbemerkung zu
seiner Sphären-Trilogie wiederholt. Man müsse, heißt es dort, „darauf
bestehen, daß Übertragung die Formquelle von Schöpferischen Vorgängen
ist, die den Exodus der Menschen ins Offene beflügeln.“ Sphären I.
Blasen, Frankfurt a.M. 1998, S.14.
32 Der
Zufall – oder der genius loci – will es, daß die avancierteste Fassung
dieses philosophischen Projekts erneut aus Karlsruhe kommt: „Der
vorliegende Rechenschaftsbericht vom Aufgang und Gestaltwandel der
Sphären ist unseres Wissens der erste Versuch, nach dem Scheitern von
Oswald Spenglers sogenannter Morphologie der Weltgeschichte wieder einen
Formbegriff wieder eine höchstrangige Stellung in einer
anthropologischen und kulturtheoretischen Untersuchung zuzuweisen“
schreibt Peter Sloterdijk in der Einleitung zu Sphären I. Blasen, a.a.O.
S. 78.
33 Mein Leben, a.a.O., S. 220.
34 Mein Leben, a.a.O., S. 221.
35 Der ewige Buddho. Ein Tempelschriftwerk in vier Unterweisungen, Darmstadt 1922.
36 GdG, Bd.I, S. 367f.
37 Ernst
Benz, protestantischer Theologe und Freund Zieglers, hat in dem Aufsatz
„Der dreifache Aspekt des Übermenschen“ (1960) überzeugend nachgewiesen,
„daß der Begriff ,Übermensch‘ nicht eine genuin antichristliche,
sondern eine genuin christliche Prägung ist, die unmittelbar aus dem
christlichen Menschenbild der Urkirche entwickelt ist, eine Wortbildung,
die jahrhundertelang im Bereich der Sprache der christlichen Mystik
nicht nur zur Bezeichnung Christi, sondern gerade auch des christlichen
Charismatikers, des Heiligen oder des Erlösten verwandt wurde“. Ernst
Benz, Urbild und Abbild. Der Mensch und die mythische Welt. Gesammelte
Eranos Beiträge, Leiden 1974, S. 338.
38 Dem
kommt das nach-postmoderne Denken heute entgegen, das die Religion in
ihrem irreduziblen Eigensinn wiederentdeckt. Vgl. z.B.: Alain Badiou,
Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 1997 ; Slavoj Zizek,
Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu
verteidigen, Berlin 2000; Jacques Derrida / Gianni Vattimo, Die
Religion, Frankfurt a.M. 2001.
39 Zum
Thema Opfer vgl. Dietmar Kamper, Signatura Crucis. Leopold Zieglers
integrale Anthropologie des Opfers, in ders.: Ästhetik der Abwesenheit.
Die Entfernung der Körper, München 1999, S. 80-92.
40 GdG, Bd.II, S. 777.
41 Oswald Spengler, a.a.O., S. 941.
42 Zum Geschick meiner Schriften, a.a.O., S.30.
43 Die
Kapitel Die Welt als Maschine (Bd.II, S. 473ff) und Die Welt als
Organismus (Bd.II, S. 624ff) arbeiten diesen Gegensatz – am historischen
Vorabend seiner Überwindung – noch einmal scharf heraus.
44 Mein Leben, a.a.O., S. 205.
45 Botho
Strauß, Anschwellender Bocksgesang, in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht
(Hrsg.), Die Selbstbewußte Nation, Frankfurt a.M. 1994, S. 26.
46 Botho
Strauß am 29.11.1996 brieflich an Dietmar Kamper: „Leopold Ziegler
gehört auf die Liste der Autoren, die wiederzuentdecken sind.“, zitiert
in: Dietmar Kamper, a.a.O., S. 80.
47 Vgl. unten, Bd.II, S. 789 ff.
48 GdG, Bd.II, S. 787.
49 GdG, Bd.II, S. 826.
50 Auch
dies hat Nietzsche vorausgedacht: „Für das Nichts Gott opfern – dieses
paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem Geschlechte,
welches jetzt eben heraufkommt, aufgespart: wir alle kennen schon etwas
davon.-“ Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Frankfurt a.M.
1984, S. 64
51 Vgl.
dazu vom Verfasser: Nichtvergessenheit. Leopold Ziegler und die Frage
nach der Wahrheit, Ort und Zeitpunkt des Erscheinens noch unbestimmt.
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