Stationen

Freitag, 27. April 2018

Mene Tekel Upharsin

In ihrem Buch "Tote weiße Männer lieben“ beschreibt die "habilitierte Kulturwissenschaftlerin" Sophie Liebnitz – der Name ist ein Pseudonym; im besten Deutschland, das es je gab, kann es für die universitäre Karriere heikel werden, wenn man in falschen Verlagen falsche Texte publiziert – den vor allem in der angelsächsischen Welt um sich greifenden Rassismus gegen den DWEM, den "Dead White European Male". Anhand durchaus unglaublicher Einzelbeispiele enthüllt die Autorin das Grundmuster eines so schwachsinnigen wie gefährlichen linken Kulturkampfs – man könnte auch sagen: eines kulturfeindlichen Amoklaufs –, der über die Stationen Stigmatisierung, Verleumdung und Entrechtung offenbar zur totalen Entmachtung und kulturellen Auslöschung des weißen Mannes führen soll. Also jenes Geschöpfs, dessen Anteil an den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Hervorbringungen der Menschengattung sämtliche anderen Ethnien und ca. 67 Geschlechter zu Statisten degradiert, depraviert, ja diskriminiert.
Aber verhält es sich nicht genau andersherum, dass die argen weißen Kerle alle andere Welt unterdrücken und zuschanden machen? Ist Frau Liebnitz ein "Panikmacher" (P. Bahners)? Sehen wir zu. Die Autorin zitiert zunächst die DWEM-Definition des Oxford Dictionary: "Informal a writer, philosopher or other signifikant figure whose importance and talents may have been exaggerated by virtue of his belonging to a historical dominant gender and ethnic group." Die These lautet, dass Shakespeare, Mozart, Edison oder Planck wegen ihres Genders und ihrer ethnischen Herkunft möglichweise überschätzt werden. Allein in dieser Unterstellung, da würde mir Kamerad Nietzsche sicherlich zustimmen, steckt mehr Ressentiment als im gesamten Christentum. Ich komme darauf zurück.
Schauen wir auf einige der genannten Beispiele. Im Herbst 2017 bot das New York Hunter College, das zur University of New York gehört, eine Lehrveranstaltung "Abolition of Whiteness" ("Abschaffung des Weißseins") an – Sie denken sich bitte komplementär immer die Varianten "des Schwarzseins", "Judeseins", "Frauseins", "Moslemseins", "Queerseins" dazu. In der Beschreibung des Kurses, notiert die Autorin, "wird Weißsein direkt mit ‚white supremayy‘ und Gewalt gleichgesetzt." Ein College in Santa Fe (New Mexico) lud wiederum zu einem Studienkurs, der sich der "deprayity of whiteness" widmete, also der Verdorbenheit oder Verkommenheit des Weißseins.
Ebenfalls 2017 gab es eine Serie von Anschlägen auf Columbus-Denkmäler in den USA, denn der Genueser brachte ja den weißen Mann übers Meer. Bei der Schmähung des Entdeckers der Neuen Welt wollten es die Progressisten freilich nicht belassen. Die Säuberungswelle erreichte kurz darauf den Gründervater der USA, George Washington, denn der hatte Sklaven, wie das damals in seiner Klasse üblich war. Wenig später geriet sogar Abraham Lincoln, der trotz seiner Verdienste um die Sklavenbefreiung angeblich im Herzen ein Rassist geblieben war, in den Blick der Kulturrevolutionäre: In Chicago wurde einen Büste des Präsidenten verbrannt, andernorts beschmierte und beschädigte man Statuen von ihm.
Ja, und die reaktionären Südstaatler kamen erst recht an die Reihe! "Charlottesville mit der Universität von Virginia und seinen 50.000 Einwohnern ist zu einem Schauplatz der Auseinandersetzung um den Umgang mit Symbolen der Sklaverei sowie zum Spielplatz für eine ultrarechte Bewegung geworden", schrieb Spiegel online am 12. August 2017. "Die liberale Stadt hatte sich im April dafür entschieden, aus einem zentralen Park eine Statue von Robert E. Lee zu entfernen. Lee war der Befehlshaber der Truppen der Südstaaten, die im amerikanischen Bürgerkrieg für den Fortbestand der Sklaverei kämpften. Der fragliche Park wurde bereits von Lee Park in Emancipation Park umbenannt. Eine Petition eines afroamerikanischen Schülers hatte das Ganze ins Rollen gebracht." So handeln nur wirklich liberale Städte.
Als ein an Militärgeschichte leidlich Interessierter kann ich Ihnen versichern, dass Lee zu den größten militärischen Genies aller Zeiten zählt (schlimm), dass er ein Ehrenmann war und im Gegensatz zu den Nordstaaten-Schlächtern Sherman und Sheridan ein ritterlicher Krieger, der die Zivilbevölkerung schonte. Aber mit dem Fortschritt im Tornister hat es sich bekanntlich zu allen Zeiten am herzigsten gebrannt und gemordet.
Direkt nach den Protesten in Charlottesville gegen die Schleifung des Lee-Denkmals zerstörten gute Rassisten in North Carolina ein Kriegerdenkmal für Soldaten der ehemaligen Südstaaten. In Baltimore ließ die Stadtverwaltung ein Doppelmonument der Generäle Lee und Thomas "Stonewall" Jackson abreißen, wobei hier ein neues, eigentlich aber uraltes Zeichen des Triumphs gesetzt wurde: Die Denkmäler wurden nicht nur entfernt, sondern durch ein neues ersetzt, wie das die Sieger im Land der Besiegten zu allen Zeiten getan haben, um ihren Herrschaftsanspruch auch symbolisch auszudrücken. Anstelle der beiden weißen Offiziere steht nun eine schwarze Schwangere mit einem Kind auf dem Rücken dort, die wem auch immer mit der Faust droht. Sogenannte Aktivisten gaben ihr den Namen "Lady Liberty". Eine deutlichere Kampfansage sei nicht vorstellbar, notiert Liebnitz: "Der Freiheitsstatue, klassizistisch, weiß, steril und in ihrer Aussage universalistisch, wird eine expressive, schwarze, fruchtbare Figur entgegengesetzt, die durch ihre erhobene Faust signalisiert, für ihre Interessen und die ihres Nachwuchses aggressiv eintreten zu wollen."
Wechseln wir auf die britische Insel, wo derselbe wohlgesinnte Wahn waltet. Im King’s College zu London, Lehrstatt von zwölf späteren Nobelpreisträgern, füllte der Dean of education im Juli 2017 das Sommerloch mit der Forderung, man möge die Porträts der Gründerväter aus der Eingangshalle entfernen, weil es den Studenten nicht zuzumuten sei, von Bildern bärtiger weißer Männer aus den zwanziger Jahren umgeben zu sein (Bilder gewisser bärtiger Männer aus dem 7. bzw. 21. Jahrhundert sind aber in Zukunft bestimmt willkommen). Die Cambridger Altphilologin Mary Beard (sic!) summierte die dort Proträtierten bündig als "viktorianische Rassisten", deren Anblick speziell die farbigen Studenten verhöhne, wobei zu deren Inschutznahme gesagt sei, dass die Initiative nicht von ihnen ausging, so emanzipiert sind sie noch nicht. Der Ikonoklasmus auf der Insel befindet sich noch im Stadium des bloßen Forderns, kommt aber bei der Wahl des zu beseitigenden Personals dem überseeischen Vorbild schon recht nahe: Eine afrikanischstämmige Journalistin hat im Guardian dazu aufgerufen, die Statue Lord Nelsons, immerhin ein "white supremacist", am Trafalgar Square zu entfernen. Wenn man sich vor Augen führe, was der Sieger der Seeschlacht von Trafalgar für die Briten bedeute, kommentiert Liebnitz, "kann man die Provokationskraft und den Machtwillen ermessen, die in dieser Forderung stecken".
Zur Agenda der Weißenschmnähung gehört die sukzessive Umschreibung der Geschichte, die ja sowieso keiner mehr kennt, was die Angelegenheit erleichtert – ich erinnere an die reizende Story, dass türkische Gastarbeiter nach dem Zweiten Weltkrieg Westdeutschland wieder aufgebaut haben. Ein Lehrvideo der BBC zeigt einen schwarzen römischen Offizier, der den Bau des Hadrianswalls kontrolliert, um nach getaner Arbeit zu seiner weißen Frau heimzukehren und mit ihr gemeinsam dem Töchterchen zuzuschauen, wie es mit dem Spielzeugschwert hantiert, um dereinst den Wall gegen blütenweiße Briten zu verteidigen. Bereits 2009 hatte es in einem Robin-Hood-Film einen schwarzen Bruder Tuck gegeben. Die Geschichte umzuschreiben, gehörte stets zu den ersten Maßnahmen von Eroberern. "Was die UN ganz unverblümt als 'replacement migration' benannte, wiederhold sich hier auf symbolischer Ebene" (Liebnitz).
Die Scottish National Portrait Gallery in Edinburgh präsentierte im vergangenen Jahr eine Schau mit Porträts aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Eine Hip-Hop-Truppe der Stadt durfte in der Ausstellung ein Video drehen, in dem ein halbnackter, barfüßiger schwarzer Bursche aggressiv die Räume durchstreift, Boxbewegungen gegen die Gemälde ausführt und dazu rappt: "Bedeutet das, mich gibt es nicht? … Weil ich kein Gesicht wie meins, in Gold gerahmt, an den Wänden sehe? … Tote, weiße Kerle … eine lange Reihe inzüchtlerischer Brut, die bald aussterben wird. Aber ich bin hier. Mein bloßes Dasein, meine Nähe, mein Atem – alles beleidigt dich!" Nun, der letzten Bemerkung wird wohl niemand widersprechen. Der Hassausbruch gegen die britische Geschichte wurde auf bewährte weiße, aber nicht besonders weise Weise mit britischen Steuergeldern finanziert. Wenn die Brut wirklich ausgestorben ist, wird auch das vorbei sein, wenigstens das.
Ich sprach vorhin von Ressentiment in Reinform. Hier steht ein kulturloser, zu jeder Art Schöpfertum unfähiger, wegen seiner Hautfarbe mit Nachsicht zu behandelnder Fatzke vor Zeugnissen der westlichen Kunst und deutet schon mal an, was diese Genies eines Tages wahrscheinlich wirklich erledigen werden: deren Zerstörung. (Es sei denn, die Chinesen oder reiche Araber kaufen das alles; die kennen auch noch die angemessene Art, mit Leuten umzugehen, die ihnen ihren Besitz kaputtmachen wollen.) Es geht dem Buben nicht nur darum, die unerreichbaren Trauben als ihm viel zu sauer abzuwerten, er will das Verlangen nach Süße überhaupt diskreditieren. Womit wir beim für heute letzten Exempel wären. 2016 brachte eine Gruppe von Studenten der Universität Yale eine Petion ein, die eine fundamentale Änderung der Studienlektüre forderte. Die Kenntnis von Shakespeare, Milton und anderer toter weißer Männer sollte nicht mehr verbindlich sein für das Studium englischer Literatur, denn ein Studium "wo die literarischen Beiträge von Frauen, farbigen Menschen und Queers fehlen, beschädigt alle Studenten, egal welcher Identität“, notierte damals der Guardian. Dergleichen geschieht derzeit an vielen Universitäten im angelsächsischen Raum. Der Kanon ist entschieden zu weiß. Saul Bellows Bemerkung: "Wenn die Zulus einen Tolstoi haben, werden wir ihn lesen", ist als weißer Übelegenheitsdünkel überführt.
Wer jetzt vorschlägt, man könne doch das eine tun und das andere nicht lassen, hat das Prinzip nicht begriffen. Es geht nicht um Partizipation, sondern um Macht. Mit literarischer Qualität hat das nichts zu tun. Die Überlegenheit der toten weißen Männer in allen Künsten außer vielleicht Hip-Hop, Säbel- und Bauchtanz ist so enorm, dass es auch der diversifiziertesten Esel*In bei der Parallellektüre oder -betrachtung irgendwann aufginge; deshalb muss Shakespeare ganz weg. Mehr Ressentiment ist, wie gesagt, schwer möglich.
Dieselbe Unversöhnlichkeit und Kompromisslosigkeit herrscht auch bei der Bewertung historischer Persönlichkeiten und Ereignisse. Es wäre ja ein Leichtes, sowohl einen Columbus-Tag als auch, an einem anderen Datum, einen "Indigenious People Day" zu feiern, aber tatsächlich wurde in verschiedenen amerikanischen Städten, darunter L. A., der eine bloß durch den anderen ersetzt. Eine verbindliche, alle Bürger und Ethnien integrierende nationale Geschichtserzählung scheint nicht mehr möglich zu sein. Es geschieht, was der Historiker Arthur M. Schlesinger 1991 halb diagnostizierte und halb prophezeite: The Disuniting of America. Gruppen tragen ihre Interessen mit zunehmender Aggressivität in die Gesellschaft; das Gemeinsame ist kein Ziel mehr. Angeblich agieren die linken Aktivisten, die übrigens verblüffend oft weiß sind, als Agenten des Universalismus, aber diese Zauberlehrlinge erzeugen immer nur neue Partikularismen. Wobei sie versuchen werden, die DWEM-Denkmäler überall zu schleifen und durch Buntheitsmonumente zu ersetzen – und uns das Ergebnis als Universalismus zu verkaufen.

Mit dem Paradoxon, dass es angeblich Rassen gar nicht gibt, aber Rassenunterdrückung und Rassenunruhen dann doch – und natürlich die Rasse der Weißen, die dafür verantwortlich ist –, wollen wir uns nicht aufhalten; es geht hier nicht um Logik, sondern um Macht.
Liebnitz schreibt dazu: "Wenn Weiße ihre Dreadlocks abscheiden und sich von Hip-Hop fernhalten sollen" – was ich sehr befürworten thäte! –, "dann dürften schwarze Amerikaner nicht mehr in Jeans herumlaufen, sich dürften nicht Auto fahren, keine moderne Medizin in Anspruch nehmen, keinen Computer oder Fernseher benutzen und keine Menschenrechte beanspruchen – alles Dinge, die in weißen Kulturen entwickelt worden sind." Aber auch darauf versteht die antiweiße Fronde zu reagieren: Man behauptet einfach, dass alle Entwicklungen der Weißen aus der Unterdrückung und Ausplünderung der anderen resultieren; mithin sind vom attischen Tempel bis zur Raumstation sämtliche Werke der weißen Wölfe eigentlich von den anderen Ethnien geschaffen worden. Der linke alte weiße Mann glaubt, durch die eifrige Bezichtigung und Verdammung aller anderen weißen Männer seine bleiche Haut zu retten, aber sie werden ihn nicht verschonen.

Soweit zum Buch. Eine persönliche Schlussbemerkung will ich mir gestatten. Ich hatte mir unter dem Titel etwas anderes versprochen, nämlich eine Liebeserklärung. Ich will sie hier gern aussprechen. Alles, was ich liebe, haben tote (und ein paar noch lebende) weiße Männer geschaffen, ob nun die Matthäus-Passion oder die "Meistersinger", Schuberts B-Dur-Sonate oder Bruckners Achte, Chopins Nocturnes oder Rameaus "Piéces", ob die Hofzwerge des Velázquez, die Himmel Claude Lorrains oder die Fresken Giottos, ob "A la recherche du temps perdu" oder "Pnin", ob "Odyssee", "West-östlicher Divan" oder die Sonette des Großen Einzigen, ob Tschechows Erzählungen oder die Geschichten Jaakobs, ob Château Margaux und Château Lafite-Rothschild, ob Lindenoper oder Scala, ob die Kathedrale von Amiens, die Basilica dei Santi Giovanni e Paolo oder die Basilika San Francesco, ob "Clockwork orange" oder "Barry Lyndon", zu schweigen von Rennrad, Speisewagen, Füllfederhalter, Dreiteiler, Crockett & Jones-Schuhen und halterlosen Damenstrümpfen. Wenn nun ein paar spezielle Hochbegabte der Meinung sind, die Werke der toten weißen Männer aus den Universitäten – und wer weiß, wo überall noch – auszusondern, kann ich das nur glühend befürworten. Weg mit Goethe, weg mit Baudelaire, weg mit Beethoven, weg mit Michelangelo, weg mit Vermeer, dieses G'schwärl soll das nicht lesen, nicht sehen, nicht hören, nicht beschmutzen; mögen sie auch ästhetisch unter ihresgleichen bleiben, damit ist am Ende allen gedient ...   MK am 26. 4. 2018

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