Der neue Roman
von Monika Maron, „Munin oder Chaos im Kopf“, ist der bisher
entschiedenste Versuch in der deutschsprachigen Literatur, die
Auswirkungen der Masseneinwanderung und die Ausbreitung des Islam zu
erfassen. Zwar hatte der Schweizer Jonas Lüscher im Buch „Frühling der
Barbaren“ vor fünf Jahren erzählt, wie eine europäische
Hochzeitsgesellschaft, die in der tunesischen Wüste ein rauschendes Fest
feiert und durch einen Finanzcrash plötzlich mittellos wird, sich vom
Strudel archaischer Gewalt mitreißen läßt.
Doch war das eine Novelle, die ein
unerhörtes Ereignis vor exotischer Kulisse schilderte, so daß der Leser
sie sich vom Leibe halten konnte als ein düsteres Märchen aus
Tausendundeiner Nacht. Marons Roman dagegen erzählt von einem Alltag in
Berlin, in dem nichts Besonderes passiert und sich unter der Hand
trotzdem Dramatisches vollzieht.
Sie meint in der Stadt eine „nervöse, leicht explosive Stimmung“ zu verspüren.
Die Ich-Erzählerin Mina Wolf ist eine
geschiedene Journalistin von Ende 40, die in einer ruhigen Berliner
Wohnstraße lebt und eine Vorliebe für Gin Tonic hegt. Eine
Konstellation, die man so oder ähnlich aus anderen Büchern Marons kennt.
Für den Auftrag einer westfälischen Kommune, die Einleitung für die
Festschrift zum Jubiläum des Dreißigjährigen Krieges zu verfassen, fühlt
sie sich kaum gerüstet, doch aus pekuniären Gründen kommt er ihr
gelegen.
Die Konzentration darauf fällt ihr
schwer. Sie meint in der Stadt eine „nervöse, leicht explosive Stimmung“
zu verspüren, ist sich aber unsicher, ob die Wahrnehmung lediglich
ihrer Einbildung entspringt. Objektiv sind jedenfalls die Nachrichten
über Terroranschläge; über die angeblich stetig wachsende Zahl
menschlicher Geschlechter; über die Hunderte Milliarden Schulden, die
Gläubiger zurückhaben wollen. Objektiv sind auch die ständigen
Belehrungen, warum man seine Gewohnheiten zugunsten muslimischer
Neubürger zurückzunehmen hätte. Angesichts solcher chaotischen
Normalität erscheint dem Leser das „Chaos im Kopf“ der Erzählerin ganz
normal.
Der Frühling bringt keine
Stimmungsaufhellung. Die Vorfreude auf die Zwergmargeriten auf dem
Balkon wird durch eine walkürenhafte Frau auf der anderen Straßenseite
zunichte gemacht, die jeden Tag in der Pose einer Operndiva den Balkon
betritt und die beschauliche Straße mit ihrem grausam schlechten Gesang
terrorisiert. Später schaltet sie zusätzlich einen Musikrekorder ein.
Aus Kummer nimmt die Sängerin im Wissen um ihre Unantastbarkeit laute Rache an der Welt
Als geistig Behinderte ist sie
strafunmündig und steht unter dem besonderen Schutz des Gesetzes. Daher
ist es unmöglich, sie wegen Ruhestörung zu belangen oder ihr die Wohnung
zu kündigen. Die Erzählerin vermutet eine tragische Lebensgeschichte
als Grund der Krankheit: Als Kind sei sie mit Lob und großen Erwartungen
bedacht worden, hatte von einer Künstlerkarriere im Opernhaus geträumt
und es mangels Talent nur zur Garderobenfrau gebracht. Aus Kummer über
den verfehlten Lebenstraum dem Wahn verfallen, nimmt sie nun im Wissen
um ihre Unantastbarkeit laute Rache an der Welt. Die Erzählerin aber, um
arbeiten zu können, ist gezwungen, den Tag-Nacht-Rhythmus zu
vertauschen.
Zweimal wird auf die Herkunft ihres
Namens verwiesen: Mina ist ein Schlagerstar aus den 1950er/60er Jahren.
Berühmt wurde sie mit dem Lied: „Heißer Sand und ein verlorenes Land /
Und ein Leben in Gefahr. / Heißer Sand und die Erinnerung daran, / daß
es einmal schöner war.“ Die Eltern hatten 1960 in Süditalien eine
Urlaubswoche verbracht, ein Jahr vor dem Mauerbau. Der Name der Tochter
sollte die Erinnerung daran aufbewahren.
Wer jedoch den Schlager auf Youtube
abruft, wird bemerken, daß er keineswegs von südländischer
Unbeschwertheit handelt: Es geht um eine arrangierte Verlobung und eine
unglückliche Liebe, um den Mord am zugedachten Ehemann und die Flucht
des Geliebten in die Fremdenlegion, um sein Schicksal im Algerienkrieg
sowie um eine junge Frau, die als Hafenhure endet und sich den „Boys“ –
mutmaßlich den GIs – in die Arme wirft. Kein gutes Omen!
Der „molekulare Bürgerkrieg“ nimmt Fahrt auf
Unterdessen wird die Stimmung immer
gereizter. Die falsche Diva wirft mit Blumentöpfen nach ihren genervten
Kritikern, im Straßenbild mehren sich die „abweisenden Gesichter der
kopftuchtragenden Frauen“, und die Erzählerin stellt sich vor, „wie die
Stadt aussehen würde, wenn sie alle erwachsen wären und selbst wieder
Kinder hätten“. Die Medien berichten über Enthauptungen durch
Islamisten.
Auf einer Bürgerversammlung wird beraten,
wie mit der Sängerin zu verfahren sei. Ein Taxifahrer, der durch den
Gesang um seinen Tagesschlaf gebracht wird, schimpft: „In diesem Land
muß man inzwischen verrückt sein, zu doof oder zu faul zum Arbeiten,
nicht Deutsch können, drogenabhängig oder kriminell sein, damit sich
jemand mit dir beschäftigt.“ Der Besitzer einer Luxuskarosse
widerspricht ihm: Die Leute würden ihren Zorn über alles, was sie nicht
ändern könnten, auf die behinderte Frau konzentrieren, und das sei
„schäbig“!
Die Altbaubewohner klatschen Beifall, die
Bewohner der billigen Nachkriegsbauten verstummen und geben ihrem Unmut
Ausdruck, indem sie Deutschlandfahnen hissen. Autoreifen werden
zerstochen, Fahrzeuge gehen in Flammen auf. Eine junge Frau wird durch
Bewohner eines neuen Flüchtlingsheims beinahe vergewaltigt, ihr Hund
wird getötet. Der „molekulare Bürgerkrieg“ (Hans-Magnus Enzensberger)
nimmt Fahrt auf.
Die Bewohner der Straße sind Objekte, keine Handelnden mehr
Mina bändigt ihr inneres Chaos, indem sie
die Gegenwart im Modus der Vergangenheit betrachtet.
Die Beschäftigung mit dem Dreißigjährigen Krieg führt sie zu der Überzeugung, selber in einer „Vorkriegszeit“ mit der Aussicht auf neue Religionskriege zu leben. Intensiv beschäftigt sie das Tagebuch eines Peter Hagendorf, eines schreibkundigen Söldners, der für die katholische Sache focht und seine Erlebnisse 24 Jahre lang akribisch notierte. Sie kennt auch Gunnar Heinsohns „Söhne und Weltmacht“ und hat das Gefühl, daß mit den jungen Einwanderern auch der Krieg, dem sie entflohen sind, nach Deutschland gekommen sei und zieht eine direkte Linie zu den neuen Barbaren: „Peter, Mohamed, Hussein.“
Die Beschäftigung mit dem Dreißigjährigen Krieg führt sie zu der Überzeugung, selber in einer „Vorkriegszeit“ mit der Aussicht auf neue Religionskriege zu leben. Intensiv beschäftigt sie das Tagebuch eines Peter Hagendorf, eines schreibkundigen Söldners, der für die katholische Sache focht und seine Erlebnisse 24 Jahre lang akribisch notierte. Sie kennt auch Gunnar Heinsohns „Söhne und Weltmacht“ und hat das Gefühl, daß mit den jungen Einwanderern auch der Krieg, dem sie entflohen sind, nach Deutschland gekommen sei und zieht eine direkte Linie zu den neuen Barbaren: „Peter, Mohamed, Hussein.“
Ihr wichtigster Gesprächspartner ist
Munin, eine einbeinige Krähe, die ihr zugeflogen ist, benannt nach einem
der beiden Vögel auf den Schultern von Odin, dem altgermanischen Gott
der Weisheit. Munin besitzt das Weltwissen, das Transzendenzgefühl, das
Gefühl für historische Kontinuitäten und Erfahrungsmuster, das den
Menschen verlorengegangen ist. Ein Dialog der beiden findet sich gegen
Ende des Buches: „Das Paradies ist nichts als eine Sehnsucht, sage ich.
Oder eine Erinnerung, sagte Munin, an die Zeit, als ihr noch dazugehört
habt.“ Die Bewohner der Straße sind Objekte, keine Handelnden mehr.
Sie schlägt eine Schneise, die auf die Lichtung kollektiver Selbsterkenntnis weist
Der Lärmterror endet abrupt und auf
spektakuläre Weise. Minas Manuskript wird vom Bürgermeister abgelehnt,
weil es zu pessimistisch und düster sei, aber es wird honoriert. Die
Zukunft ist offen und unheimlich.
Monika Marons Roman ist nicht perfekt.
Mehrere Kritiker haben darauf hingewiesen, daß Bemerkungen zu den
Zeitläuften keine Verbindung zur Handlung haben und wie Schnipsel aus
Leitartikeln wirken. Doch solche Einwände betreffen bloß Sekundäres. Die
Autorin stellt auch in diesem Buch ihre erzählerische Kraft unter
Beweis, die sich mit der thematischen Wucht verbindet. So schlägt sie
eine Schneise, die auf die Lichtung kollektiver Selbsterkenntnis weist.
Andere Autoren müssen sich entscheiden, ob sie Maron folgen oder sich im
Dickicht der Illusionen und politischen Mythen verfangen wollen. Thorsten Hinz
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