Stationen

Sonntag, 15. April 2018

Wie verlässlich sind Studien zur Integration?

Früher war die Forschung eine Autorität. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien wurden in der Regel von der Bevölkerung akzeptiert, und die Medien hatten die Aufgabe, die Wissenschaft für das Volk durch Vereinfachung zugänglicher zu machen. Nur Wissenschaftler, die ähnliche Qualifikationen wie die Verfasser einer Studie hatten, waren imstande, deren Ergebnisse anzufechten oder zu korrigieren. Heute entwickelt sich die Wissenschaft immer mehr zu einer Glaubenssache, vor allem wenn es um drei Themen geht: Islam, Migration und Klimawandel. Je nachdem, was man selbst glaubt oder erwartet, werden Studien herangezogen, die die eigene Sicht bestätigen.
Diese „confirmation bias“ prägt seit Jahren auch die Integrationsdebatte. Und durch das Aufkommen der neuen Medien, bei denen man sich ausschließlich in „Echokammern“ bewegen kann, die die eigene Meinung unterstützen, hat sich das noch einmal verstärkt. Als Laie findet man sich kaum zurecht in diesem Dickicht aus Studien, die mal dem eigenen Bauchgefühl oder den persönlichen Erfahrungen entsprechen, mal etwas ganz anderes präsentieren.
Die Medien spielen längst nicht mehr nur die Rolle des Vermittlers, sondern oft die des Schiedsrichters. Sie ordnen ein und bewerten und scheuen sich auch nicht, den moralischen Zeigefinger zu erheben. Dazu kommt – ich erwähnte es bereits in der Einleitung –, dass viele Studien zum Thema Integration einander widersprechen. Während die eine davon ausgeht, dass die Mehrheit der Muslime die Scharia höher schätzt als das Grundgesetz, behauptet die andere, Muslime seien mehrheitlich Verfassungspatrioten.
So kommt eine Studie der Universität Münster aus dem Jahr 2016 mit dem Titel „Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland“ zu dem Ergebnis, dass fast ein Drittel der hier lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln der Aussage zustimmen, Muslime sollten die Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohamed anstreben. Der Aussage „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe“ stimmen sogar 47 Prozent der Befragten zu. 36 Prozent sind darüber hinaus überzeugt, dass nur der Islam in der Lage sei, die Probleme unserer Zeit zu lösen.
Nach Aussage der Münsteraner Forscher haben jene Befragten, die allen drei Aussagen zustimmten, ein „umfassendes und verfestigtes islamisch-fundamentalistisches Weltbild“. Ihr Anteil liegt bei 13 Prozent. 86 Prozent der Mitglieder der zweiten und dritten Generation denken laut Studie, man solle selbstbewusst zur eigenen Herkunft stehen; eine Aussage, der unter den Befragten der ersten Generation interessanterweise nur 67 Prozent zustimmten.

Ein Erfolg, dem die Statistiken widersprechen

Auf der anderen Seite kommt jene Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2017 zu dem Ergebnis, dass 96 Prozent der hier lebenden Muslime eine tiefe Verbundenheit zu Deutschland verspürten. Sie würden sich hier nicht nur wohlfühlen, sondern seien auch auf dem Arbeitsmarkt integriert. Rund 60 Prozent würden in Vollzeit arbeiten, 20 Prozent in Teilzeit, die Erwerblosenquote gleiche sich jener der „Biodeutschen“ an. Damit stehe Deutschland – verglichen mit der Schweiz, Österreich, Frankreich und Großbritannien – hinsichtlich der gelungenen Arbeitsmarktintegration an der Spitze.
Das wäre ein großer Erfolg, würden nicht die neuesten verfügbaren Statistiken der Bundesagentur für Arbeit wieder anderes vermelden. Demnach war im Dezember 2016 der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund unter den Arbeitslosen mit 43 Prozent überproportional hoch. Unter den 4,3 Millionen „erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ – dazu zählen zum Beispiel auch Hartz-IV-Aufstocker – liegt der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund noch höher, nämlich bei 52,6 Prozent. Zur Einordnung: Der Bevölkerungsanteil der Muslime insgesamt liegt bei lediglich rund sechs Prozent.
Die Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Ergebnissen dieser Studien und die eingangs erwähnte Kritik an ihnen (etwa die Konzentration auf nur einen Aspekt, wie etwa den Arbeitsmarkt, und die Ausklammerung wichtiger Bereiche wie Fragen zu Fundamentalismus, Sexualität, Gleichberechtigung etc.) zeigen ein grundlegendes Problem der Empirie, vor allem wenn es um emotionale Themen geht. Und kaum etwas ist emotional aufgeladener als Integration.

Das Schicksal der Fragebögen

Als ich vor 15 Jahren eine Studie über die Radikalisierung von jungen Muslimen in der Fremde machen wollte, begann ich damit, Fragebögen an arabische Studenten und Kinder der zweiten Generation von Migranten in Deutschland und Frankreich zu verteilen. Auf den Bögen standen Fragen zum Grad der Religiosität, zu westlichen Werten, der Scharia, Geschlechterrollen, Diskriminierung, Dschihad und Kalifat. Beim Sichten der Antworten wurde mir klar, dass sie die Realität nicht wirklich abbildeten. Erstens hatten längst nicht alle, denen ich die Fragebögen geschickt hatte, darauf geantwortet. Nicht weil sie keine Zeit gehabt hätten, sondern weil sie die Motive meiner Studie infrage stellten.
Ihre Skepsis galt allen Forschern, die zum Thema Islam arbeiteten. Es war kurz nach dem 11. September, und unter den Muslimen herrschte große Verunsicherung. Einige hatten Angst, dass die Studie in Wirklichkeit im Auftrag der Geheimdienste durchgeführt würde und dass sie in einen Konflikt mit der Justiz geraten könnten, wenn sie ihre wahre Einstellung offenbaren würden. Zweitens hatten jene, die man tatsächlich als Fanatiker hätte bezeichnen können, kein Interesse daran, ihre Ansichten zu artikulieren und zu Papier zu bringen. Und so blieben drittens am Ende die weltoffenen Muslime, die nichts zu verbergen hatten, und diejenigen, die die Fragen eher „vorsichtig“ beantworteten. Mit anderen Worten: Das, was nicht gesagt worden war, war deutlich mehr als das, was ich schließlich in Händen hielt.
Ich hätte dennoch die Fragebögen nach den üblichen Standards der Feldforschung auswerten und die Studie veröffentlichen können, und sie wäre wissenschaftlich einwandfrei gewesen. Die Studie hätte das durch den Anschlag auf das World Trade Center reichlich angekratzte Image der Muslime in Deutschland vielleicht ein wenig verbessert, aber die wahre Stimmungslage hätte sie nicht abgebildet. Zu viel war nicht gesagt worden.
Also entschied ich mich, in Zukunft auf Fragebögen zu verzichten und stattdessen das Gespräch direkt zu suchen. Das ist mitunter etwas mühsam, denn es dauert, ein Vertrauensverhältnis zu den Interviewpartnern zu entwickeln und in ihre Gedankenwelt vorzudringen. Viele wussten zu Beginn unserer Gespräche oft nicht, wo sie stehen. Erst im Laufe der Zeit haben sie ihre Position definieren oder präzisieren können. Das merkte ich auch daran, dass ich bei den erneuten Treffen „alte“ Fragen noch einmal stellte. Bei vielen entdeckte ich Unterschiede zwischen den früheren und den späteren Aussagen. Die späteren Aussagen waren häufig weniger konform oder erwartbar, sie offenbarten eher eine kritische Haltung, teils auch eine radikalere.

Am Anfang stehen Lobeshymnen

Auch für dieses Buch führte ich zahlreiche Interviews nicht nur mit Migranten, sondern auch mit Flüchtlingen aus dem Irak und aus Syrien. Da sie aus Polizeistaaten kommen, in denen die Menschen ständig von den Geheimdiensten beobachtet werden, hatten viele von ihnen Angst, dass ihre Aussagen Einfluss auf ihr Asylverfahren haben könnten. Deshalb begannen sie unsere Gespräche oft mit einer Lobeshymne auf Deutschland, die Kanzlerin und die großen Errungenschaften der Demokratie und der Freiheit. Erst als ihnen klar wurde, dass sie keine Repressalien zu befürchten haben und ich ihre Äußerungen nur für mein Buch verwenden würde, wurden sie mutiger und erzählten offener von ihren Schwierigkeiten und ihren Einstellungen. Auch hier gab es eine Entwicklung von Gespräch zu Gespräch. Einer, der im ersten Interview sagte, er sei einzig wegen der Demokratie nach Deutschland gekommen, sagte einige Wochen später im Gruppengespräch: „Ehrlich gesagt, wenn es für mich in Deutschland keine Sozialhilfe gibt, werde ich schon morgen nach Aleppo zurückkehren.“   Hamed Abdel-Samad



Der Mensch ist nicht statisch. Er bewegt sich und verändert sich ständig, passt sich an neue Gegebenheiten an. Die klassische Wissenschaft arbeitet mit fixen Kategorien und Methoden, wie sie in den Naturwissenschaften ganz selbstverständlich sind. Empfindungen und Geisteshaltungen kann man aber nicht so leicht erfassen und kategorisieren. Es sind immer nur Momentaufnahmen, Schnappschüsse, nicht das eine allumfassende Bild. Vor allem dann nicht, wenn es um hochemotionale Themen geht, bei denen es eine klare Asymmetrie zwischen dem Fragenden und dem Befragten gibt. Führt man sich die gegenseitige Skepsis und Polarisierung vor Augen, die den Diskurs um Migration, Integration und Islam momentan prägen, so kann fast jede Frage als eine Provokation oder eine Unterstellung verstanden werden. Es ist kein Wunder, dass viele Migranten, die zu Studienzwecken befragt werden, mit Ablehnung reagieren oder telefonische bzw. schriftliche Fragen taktisch beantworten. Hinzu kommt, dass man mit der Art und der Reihenfolge der Fragestellung Einfluss auf das Ergebnis nehmen kann: Wenn ich will, dass der Befragte etwas Positives über den Dschihad sagt, stelle ich die ersten Fragen zu den Kreuzzügen, dem Kolonialismus oder der dramatischen Lage der Muslime in Palästina, Syrien oder Burma. Im Anschluss daran muss ich die Dschihad-Frage zum Beispiel so formulieren: „Würden Sie in den Dschihad ziehen, um den unterdrückten Muslimen weltweit zu helfen?“ Dann ist mir eine hohe Zustimmungsquote garantiert. Will ich eine niedrige Zustimmungsquote erreichen, dann muss ich zunächst Fragen stellen zu den Gräueltaten und den unschuldigen Opfern des IS-Terrors.
Nach dem gleichen Prinzip kann man mit Fragen über westliche Werte verfahren. Wenn ich jemanden frage, ob er/sie sich diskriminiert fühlt oder ob er/sie das Gefühl hat, dass die Deutschen die islamischen Werte nicht akzeptieren, ist es sehr wahrscheinlich, dass eine Mehrheit dem zustimmen würde. Wenn ich ihn/sie aber unverblümt frage, ob er/sie die deutschen Werte akzeptiert, ist der Befragte fast genötigt, diese Frage zu bejahen. Denn wie kann man sich über etwas beschweren – dass die Deutschen seine Werte nicht akzeptieren –, wenn man umgekehrt die Werte der Deutschen nicht akzeptiert?

Präzisere Fragen bringen ganz andere Antworten

Ein etwas anderes Bild wird man erhalten, wenn man die Frage nach den Werten präzisiert und beispielsweise nach dem Umgang der Deutschen mit Alkohol, Sexualität und Homosexualität fragt. Die Zustimmungsrate wird fallen. Gleiches wird man feststellen, wenn man wissen will, ob der Befragte die persönliche Freiheit und die Meinungsfreiheit als ein hohes Gut erachtet oder nicht. Die meisten Muslime dürften diese Frage mit „Ja“ beantworten. Fragt man aber, ob die eigene Tochter einen Freund oder Sex vor der Ehe haben darf (persönliche Freiheit) oder ob man den Propheten Mohamed kritisieren oder zum Gegenstand von Satire machen darf (Meinungsfreiheit), werden die Zustimmungsraten in den Keller rauschen.
Sie sehen schon, es ist nicht so einfach, wenn es darum geht, mit Hilfe von empirischen Studien das Gelingen oder Scheitern von Integration zu messen. Um ein umfassendes Bild zu erhalten, ist es aus meiner Sicht notwendig, andere Parameter mit einzubeziehen. Welche das sein sollen, auf diese Frage hat die Sozialwissenschaft klare Antworten. In Berlin bin ich mit Naika Foroutan verabredet, der stellvertretenden Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Sie erklärt mir, dass Integration in den Sozialwissenschaften üblicherweise auf vier Ebenen gemessen wird:
1. Auf der strukturellen Ebene, die aus Bildungs-, Arbeitsmarktdaten und weiteren strukturellen Daten etwa zur Gesundheit besteht.
2. Auf der kulturellen Ebene, die sogenannte Signifikanten umfasst wie Fragen zum Kopftuch, zur Teilnahme am Sport- und Schwimmunterricht oder zur Sprachkompetenz.
3. Auf der sozialen Ebene, wo sich Integration zum Beispiel durch die Anzahl von Freundschaften, Vereinsmitgliedschaften und weiteren Außenkontakten wie das Verhältnis zu Nachbarn bemessen lässt.
4. Und schließlich auf der identifikativen Ebene, mit der die emotionale Verbundenheit mit bzw. die Zugehörigkeitsgefühle zu einem Land bewertet werden.

Überall nur Fortschritte und Erfolge?

Seit dem Jahr 2006 werden diese Integrationsdaten explizit für Muslime zusammengetragen. Foroutan ist der Meinung, dass mit Ausnahme der emotionalen Verbundenheit auf allen Feldern empirisch Fortschritte und Erfolge nachgewiesen worden seien. Allerdings halte sich die Überzeugung, dass die Integration von Migranten, vor allem von Muslimen, stagnieren oder gar zurückgehen würde, hartnäckig. Für Foroutan ist das ein Beleg dafür, „dass es bei der Integrationsdebatte nicht allein um Integration geht. Sondern auch um gängige Narrative, die sich aus der etablierten Vorstellung speisen, Muslime gehörten nicht zu Deutschland. Als sichtbare Minderheit gehören sie somit trotz Staatsbürgerschaft – mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft – nicht zum nationalen Narrativ, sondern werden als religiöse Minderheit außerhalb des Kollektivs platziert.“
Diese Sichtweise sieht sie durch die Erhebung ihrer Studie „Deutschland postmigrantisch“ bestätigt. Trotz einer generellen Modernisierung in der Wahrnehmung werde Deutschsein vonseiten der Mehrheitsgesellschaft nach wie vor als etwas Exklusives gesehen: So denken 37 Prozent der Deutschen nach wie vor, dass deutsche Vorfahren wichtig seien, um als deutsch zu gelten. Das bedeutet, dass Menschen, die in Deutschland geboren wurden, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, Deutsch sprechen und sich deutsch fühlen, trotzdem nicht als deutsch angesehen werden, wenn ihre Eltern oder Großeltern als Migranten nach Deutschland kamen.
Lange unterhalte ich mich mit Foroutan über die Voraussetzungen einer gelungenen Integration und darüber, was zuerst kommen sollte: die Annahme der Kultur und der Werte des „Gastlandes“ oder die strukturelle Integration im Bildungs- und Arbeitssektor. Die Assimilationstheoretiker würden von einem liberalen Denken ausgehen, das die Eigenverantwortung betont. „Erst musst du dich kulturell und sozial integrieren, dann hast du Zugang zu den Strukturen.“ Das heißt, erst musst du die Sprache beherrschen, die Kultur und Werte der Aufnahmegesellschaft annehmen, dann hast du auch bessere Chancen in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt. Das ist theoretisch nachvollziehbar. Aber für Foroutan reicht das nicht. „Du kannst dich mit dem Land so stark identifizieren, wie du willst, aber wenn du keine Arbeit hast, bist du nicht gut integriert,“ meint sie. Denn nicht alle sind Selbstmotivatoren, die alleine den Weg in die Strukturen finden. Nicht alle sind neugierig und gehen auf andere zu. „Aber wenn sie dann Arbeit finden, bekommen sie die Möglichkeit, mit anderen zu interagieren und zu kommunizieren. Sie lernen dadurch neue Freunde kennen, was ihnen wiederum das Erlernen der Sprache erleichtert. Mit anderen Worten: Über die Struktur kommst du zur Kultur.“

Konzentration auf das Positive

Für die Migrationsforscherin spielt es letztlich keine Rolle, auf welchem Weg man das Ziel erreicht. Hauptsache, man geht los. An der Debatte stört sie, dass sie sich zu sehr auf die negativen Beispiele konzentriert: „Berlin-Neukölln und Duisburg-Marxloh sind nicht prototypisch für Deutschland. Rheinland-Pfalz ist prototypisch. Und in Frankfurt, Nürnberg und Augsburg leben prozentual gesehen mehr Migranten als in Berlin. Gleiches gilt für München und Stuttgart, doch dort wird anders über das Thema Integration gesprochen, weil schlicht ein größeres Angebot an Arbeitsplätzen vorhanden ist.“
Es stimmt natürlich, dass da, wo es bessere Aufstiegschancen und mehr Arbeitsplätze gibt, die Aussicht auf Integration besser ist. Dennoch sind Stuttgart, München, Nürnberg und Augsburg ebenso wenig wie Rheinland-Pfalz sorgenfrei, wenn es um die Integration von Muslimen geht. Ein Arbeitsplatz löst ein Problem, aber, wie wir noch sehen werden, gibt es eine Vielzahl, die zu bewältigen ist.
Foroutan will sich mehr auf das Positive konzentrieren. Nicht nur bei den Migranten, sondern auch bei den Deutschen. „Das Land und seine Bewohner entwickeln sich. Und Krisen mobilisieren Kräfte, die man vorher nicht auf dem Schirm hatte. Anfang September 2015 dominierten die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof die Medien. Geflüchtete Menschen wurden unter Applaus begrüßt, es zeigte sich eine überwältigende Willkommensbereitschaft. Aus Ungarn angereist, wurden die Flüchtlinge mit Lebensmitteln, Wasser und Babywindeln von Münchner Bürgerinnen und Bürgern empfangen – es gab emotional überwältigende Aktionen von helfenden Menschen, die viele in ihrem Deutschlandbild überraschte. Und wer hätte gedacht, dass konservative Rentner neben Antifa-Leuten stehen würden und gemeinsam arbeiteten?“
Die Migrationsforscherin verbreitet einen ansteckenden Optimismus, wenn es um die Zukunft von Integration geht. Sie glaubt, dass die positiven Strukturdaten sich auch weiterhin positiv entwickeln werden. Auch das Bewusstsein in der Gesellschaft, dass diskriminierende Strukturen im Endeffekt der Gesamtgesellschaft schaden, wird ihrer Meinung nach zunehmen. „Früher hat man von Schülern mit Migrationshintergrund automatisch weniger erwartet in der Annahme, die Eltern seien nicht bildungsorientiert, und ohne deren Unterstützung könnten die Kinder das sowieso nicht schaffen. Dahinter steckt nicht unbedingt Diskriminierung, sondern eine Fehleinschätzung, mit der auch Kinder ohne Migrationshintergrund, aber aus sozial schwachen Schichten, zu kämpfen haben. Das sind systematische Verzerrungseffekte, die nicht ohne Folgen bleiben. Diese Kinder erreichen tatsächlich schlechtere Ergebnisse, weil sie nicht rechtzeitig gefördert wurden.“
Das, was für viele ein Horrorszenario ist, ist für Foroutan eine Chance. „In Frankfurt am Main haben 70 Prozent aller Kinder einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend. In vielen Stadtteilen in Berlin und Nordrhein-Westfalen ist es ähnlich. Das hat natürlich Auswirkungen, nicht nur auf die Schulen.“ Jeder, der nicht gerade im Bereich Integration forscht, wird sich angesichts solcher Zahlen fragen, wer sich denn dann noch wohin integrieren soll. Oder ob die „Biodeutschen“ aus diesen Städten verschwinden werden und Migranten das Geschehen und die Kultur dort bestimmen werden. Man muss ja nicht gleich von der drohenden „Umvolkung“ sprechen, wie es manche Rechtsausleger tun, doch ich kann mir vorstellen, dass diese Zahlen Angst machen können.   Hamed Abdel-Samad




Auszug aus dem Buch Integration. Ein Protokoll des Scheiterns von Hamed Abdel-Samad.

Hamed Abdel-Samad, geboren 1972 bei Kairo, studierte Englisch, Französisch, Japanisch und Politik. Er arbeitete für die UNESCO, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Abdel-Samad ist Mitglied der Deutschen Islam Konferenz und zählt zu den profiliertesten islamischen Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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