Immer wenn Spendenaufrufe des Wikipedia-Gründers Jimmy Wales auf
seiner verdienstvollen Website aufpoppen, fordert meine Frau mich auf:
"Überweise mal was. Du nutzt Wikipedia doch dauernd.“ In der Tat, ich
habe für Wikis Dienste noch nie einen Cent gelöhnt. Das wird sich wohl
auch nicht so schnell ändern. Interessiert Sie der Grund? Ich muss dazu
etwas ausholen.
Also, bis zu meiner Pensionierung stand ich Jahrzehnte auf der
Payroll des „Stern“. Das war beileibe nicht so schlimm, wie es
heutzutage klingen mag. Im Gegenteil. Ich habe da einiges gelernt. Das
Magazin unterhielt – und unterhält noch immer – eine kopfstarke
Dokumentationsabteilung, die nach dem Skandal im Mai 1983
(„Hitler-Tagebücher“) aufgebaut wurde.
In dieser Abteilung wirken qualifizierte Menschen; viele haben einen
Hochschulabschluss. Sämtliche Artikel müssen, bevor sie zur Druckerei
gesendet wird, die „Dok“ überstehen. Die Dok prüft alles. Schreibweisen,
Entfernungen, Wetterbedingungen. Wenn man zum Beispiel schreibt,
während einer Reportage auf der Isla Robinsón Crusoe habe es heftig
geregnet, so wird das gecheckt. Die Kollegen rufen notfalls bei der
chilenischen Wetterwarte an.
Was eine Dok am meisten beschäftigt, sind belastbare Quellen für
Zitate, Zahlen und Zusammenhänge, die in den Artikeln untergebracht
sind. Die Prüfung dient der Abwehr von Leserprotesten,
Gegendarstellungen oder Schlimmerem. Natürlich kann es vor Gericht
trotzdem auch mal böse ausgehen. Aber eine gute Dok erstickt viele
Blamagen bereits im Keim.
Im letzten Jahrzehnt meiner Tätigkeit für den Stern geschah der
Aufstieg von Wikipedia. Immer öfter wurde das Online-Lexikon als Quelle
einer Wahrheit zitiert, welche die Weisheit der Masse
(„Schwarmintelligenz“) gepachtet zu haben schien. Meine Kollegen in der
Stern-Dok hatten immer ganz lange Zähne, wenn ich ihnen per Wikipedia
irgendwas belegen wollte. Anfangs hielt ich das für die typische
Abwehrreaktion einer Zunft, denen das immer populärer werdende
Internetlexikon scheinbar den Teppich der Herrschaftswisserei unter den
Füßen wegzuziehen drohte.
Bald aber wurde auch mir klar, dass Wikipedia mit Vorsicht zu
genießen ist. Okay, wenn man etwas über Vögel im Garten wissen will oder
über die Geschichte der Bremer Autoschmiede Borgward (mit d oder mit t
am Ende?) oder den Wortlaut eines Zitats nachlesen möchte, das Tucholsky
zugeschrieben wird, vielleicht aber von Kästner stammt – erst mal Wiki
fragen. Wann wurde Hermann Hesse geboren? Napoleon Bonaparte, wie lautet
sein wirklicher Name? Was ist ein Spannfutter? Die chromschöne Yamaha
SR 500, die ich gelegentlich reite - von wann bis wann wurde die gebaut?
Wikipedia weiß unheimlich viel. Es enthält auch eine Fehlermarge; das
ist klar.
Vor allem aber darf man Wikipedia niemals trauen, wenn es um
politisch Strittiges geht. Da ist die Plattform selten neutral oder
fair. Das Rückgrat der Wikipedia-Verfasser bilden (jedenfalls in
Deutschland) junge Männer aus der Mittelschicht. Darunter viele
linksgrün sozialisierte Wunschweltenbewohner. Wer zum Beispiel
„Vietnamkrieg“ anklickt, erhält ein Dossier, das die Machthaber in Hanoi
freudig unterschreiben würden.
Es liest sich wie ein Aufguss der Geschichtsklitterung, die den
Besuchern der Revolutionsmuseen von Hanoi und Saigon verabreicht wird.
Wo so getan wird, als seien die Amis die ursprünglichen Aggressoren im
Vietnamkonflikt gewesen. Und nicht die von Russen und Chinesen
hochgerüsteten nordvietnamesischen Kommunisten, die den Süden mit
Terrorkommandos (siehe unter „Dorfältesten-Ermordungen“) fluteten, lange
bevor die erste Bombe aus einem B 52-Schacht fiel.
Über die Massenflucht von Bauern aus dem Norden gen Süden des 1954
geteilten Landes, als die Kommunisten in ihrem Herrschaftsbereich die
Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durchpeitschten und 50.000
Menschen umbrachten, die sich widersetzten, schreibt Wikipedia: „Etwa
eine Million meist römisch-katholische Nordvietnamesen siedelten im
folgenden Jahr (gemeint ist 1955) nach Südvietnam um, unterstützt durch
Schiffe der US-Marine.“ Soso, sie „siedelten um.“ Vermutlich aus Jux und
Tollerei. Wie es bekanntlich schon die Indianer taten, als die Weißen
nach Amerika kamen.
Bei anderen Wiki-Stichworten liegen die Scheuklappen nicht gar so eng
an. Dass Ernesto „Che“ Guevara ein glühender Stalin-Verehrer war, der
nur zu gern einen Atomkrieg mit Amerika angezettelt hätte, dass diese
unauslöschliche Linken-Ikone vermeintliche Deserteure eigenhändig
erschoss und nach dem Sieg der Revolution in Kuba massenhaft
Erschießungen anordnete, dass Guevara später seine eigenen Genossen,
sobald sie nicht spurten, in Zwangsarbeitslager deportieren ließ, all
das verschweigt Wikipedia nicht.
Und doch liefert der sehr ausführliche Artikel kein Bild davon, was
dieser Che summa summarum wirklich war: nämlich ein (fast) kompletter
Versager.
Abgesehen von einigen Episoden während der kubanischen
Revolution misslang ihm alles, was er anging. Er versagte als
Wirtschaftsminister Kubas genau so krachend wie als späterer
Möchtegern-Revoluzzer in Afrika und Lateinamerika. Er verstand die
Menschen, die er „befreien“ wollte, weder mental noch beherrschte er
ihre Sprachen. Besaß keinen Schimmer von Geostrategie, brachte
organisatorisch nichts auf die Reihe. Ein jämmerlicher Rohrkrepierer des
Revolutionsexportgeschäfts. Bei Wikipedia dagegen erhält der Leser den
Eindruck, es habe sich beim Che um einen tragisch gescheiterten Robin
Hood gehandelt, der Großes hätte erreichen können.
Ganz anders der Wikipedia-Artikel über Thilo Satan Sarrazin. Das
Stück ist noch länger als jenes über Guevara und bemüht sich
nachzuweisen: Der Ex-Bundesbanker, Ex-Politiker und amtierende
Bestsellerautor hat in seinem verpfuschten Berufsleben falsch gemacht,
was nur irgend falsch zu machen war. Praktisch jede seiner
Entscheidungen war verheerend oder besaß ein Geschmäckle. Wollten
Arbeitgeber Sarrazin loswerden, so erdreistete sich dieser Kerl, auf
Auszahlung seines Vertrages zu bestehen. Etwas, das einem normalen
deutschen Arbeitnehmer und Gewerkschaftsmitglied nie in den Sinn käme.
Einmal streift der Artikel etwas verlegen die Tatsache, dass es in
Sarrazins Ära als Berliner Finanzsenator zum ersten Mal in der
Nachkriegsgeschichte der nichtsnutzigen Metropole einen
Haushaltsüberschuss gab. Hier und da kommen ein paar Sympathisanten des
Gottseibeiuns zu Wort, wie Henryk M. Broder oder Heinz Buschkowsky.
Selbstredend wird ihm auch ein ellenlanges Lob an den Kopf geworfen,
welches irgendein sächsischer NPD-Fuzzi seinen, Sarrazins, Thesen zollt.
Vier Fünftel der Zitate, die Wikipedia zum Stichwort Sarrazin bringt,
sind allerdings kritisch, hellempört oder wutschnaubend. Dass der Mann
ein Biologist, Rassist, Arbeitslosenhasser und Kopftuchmädchenschreck
ist, erschließt sich dem Leser somit aus der Lamäng. Ein
„Migrationsforscher“ namens Bade - also jemand vom harten Kern der
harten Wissenschaften – wird von Wikipedia mit seinem Verdikt
vorgestellt, S. sei ein „Brandstifter und Friedensbrecher“.
Der gesamte Wiki-Eintrag ist die Generalabrechnung mit einem
eiskalten Monster des Neoliberalismus. Warum aber werden
Wikipedia-Nutzer mit redundantem Kampfschriftgut versorgt? Es gibt doch
ungezählte Medienschaffende, die das Verhauen des Thilo S. rituell
besorgen, zuletzt wieder in „Spiegel“, „Zeit“ et al. Was die „lisbelnde,
stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ (so vor Jahren die „Berliner
Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“) wahrscheinlich auch noch
genießt.
Mein Entschluss, lieber nichts für Wikipedia zu spenden, bekam
neulich auch noch privates Unterfutter. Jemand machte mich darauf
aufmerksam, dass selbst einer wie ich es nunmehr zu einem
Wikipedia-Eintrag gebracht hat. Das ist schon mal grundverkehrt. Ich
erfülle nicht entfernt die sogenannten Relevanzkriterien für einen
Eintrag, die angeblich von den Wikipedia-Administratoren streng
gehandhabt werden, im Sinne einer „harten Tür“ zum Portal.
Nie habe ich ein erwähnenswertes Steuerverbrechen begangen noch je
ein Kind unter Lebensgefahr aus einem brennenden Haus gerettet. Ich habe
nicht für die DDR spioniert, wurde in meiner Zeit als Reporter nicht
entführt, gefoltert und am Ende von der Bundesregierung gegen eine
phantastische Summe freigekauft. Bekam niemals einen Journalistenpreis,
saß zu keinem Zeitpunkt mit Dieter Bohlen in einer Casting-Jury. Meine
Regionalkrimis werden für gewöhnlich nicht mit George Clooney in der
Hauptrolle verfilmt. Holocaust-Leugnung ist auch nicht so mein Ding.
Kurz, ich bin für den allergrößten Teil der Öffentlichkeit ein
Nobody. Entsprechend schmal ist der Wikipedia-Eintrag zu meiner Person.
Dass ich aber selbst in den paar dürren Zeilen fünf Sachfehler, eine
Ungenauigkeit, eine politische Tendenzbehauptung und einen Schreibfehler
gefunden habe, wirft ein fahles Licht auf Wikipedias
Schwarmintelligenzija. Liebes Online-Lexikon! So wird das nichts mit
uns. Lass mich da bitte raus. Lösch den kurzen Quark über meine Person.
Niemand wird sich beschweren.
Bring du, im Großen und Ganzen geschätztes Wikipedia, statt dessen
noch mehr Infos über Kultur und Technik, Flora und Fauna. Zum Beispiel
über den Seeadler. Er benötigt unsere Solidarität, denn er ist von
schießwütigen Windparkspekulanten bedroht. Einen Artikel über neue
wissenschaftliche Erkenntnisse der Katzenforschung fände ich auch nicht
schlecht. Wolfgang Röhl am 3. 5. 2016
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