Stationen

Montag, 11. Juni 2018

Strukturwandel

Eines der wichtigsten Wochenereignisse bestand darin, dass die „Petition 2018“ trotz passiven Widerstands durch den müden Bundestagsserver das nötige Quorum von 50 000 Unterschriften schon einmal elektronisch erreichte (die Unterschriften per Brief sind noch ungezählt).

Damit gibt es einen weiteren bescheidenen Beleg für den Strukturwandel der Öffentlichkeit, der von Jürgen Habermas seinerzeit – also 1962 – so natürlich nicht vorausgeahnt wurde und selbstredend nie so gemeint war. Dieser Strukturwandel des digitalen Zeitalters erlaubt es nämlich jedem selbsternannten Hinz & Kunz, mit einem minimalen finanziellen und technischen Aufwand, ein eigenes Medium zu gründen wie die Acta Diurna, Tichys Einblick und Publico, und damit Hunderttausende zu erreichen, es erlaubt die Verbreitung erst eines Aufrufs und dann einer Petition in Nullkommanichts und vor allem, ohne die früheren Torwächter der Öffentlichkeit auch nur in cc setzen zu müssen. Ein Torwächter, diese Erfahrung mussten schon am 9. November 1989 viele Schicksalsgenossen machen, zieht seine Macht und Herrlichkeit nun mal daraus, dass jenseits seiner Torpfosten eine Sperranlage dräut. In dem Moment, in dem jeder einfach hinüberklettern respektive durchmarschieren kann beziehungsweise schon große Stücke aus dem Beton bricht, steht er da wie Max in der Sonne, die sein Passierscheinstempelkissen austrocknet.

Deshalb das überaus aufgeregte Zetern und Federn, sobald die Qualitätspresse etwas über die Erklärung 2018 schreibt oder sendet: Ihre Vertreter verstehen schon, was der Gong geschlagen hat, wenn es plötzlich eine politische Bewegung gibt, die nicht nur nie durch den Filter der traditionellen Medien gegangen ist, sondern sich einen feuchten Holunder um die traditionellen Medien überhaupt schert.
Neuerdings muss deshalb in jeder gewichtigen Wortmeldung ein neuer Topos vorkommen, oder wie es in Berlin Mitte heißt, ein Narrativ: das Dings, das Internet gefährdet die Demokratie. In der Süddeutschen Zeitung vom 15. Mai 2018 führt der ehemalige Regierungssprecher und Intendant des Bayerischen Rundfunks Ulrich Wilhelm diese Besorgnis en detail aus:
„Natürlich schwindet die Demokratie nicht über Nacht. Allerdings nimmt die Polarisierung zu: Immer mehr Teil-Öffentlichkeiten entstehen, die sich aufputschen mit Emotionen, und an ihre eigenen einfachen Lösungen glauben. Ohne die Parallele zu weit zu treiben: Weimar hatte zu wenig verbindende Öffentlichkeit und viel zersplitterte Medien, die identisch waren mit bestimmten Partei-Sichten.“
Die Theorie, dass die Weimarer Republik an zu viel Medienvielfalt zugrunde ging, ist im Rahmen der intellektuellen Möglichkeiten eines Ulrich Wilhelm nicht völlig unoriginell. Vor kurzem schrieb der unentwegt warnende Publizist Harald Welzer in der ZEIT vom 30. Mai von der „fast in jeder Hinsicht hervorragend funktionierenden Bundesrepublik der Gegenwart“, von der „Menschenfeindlichkeit“ der Erklärung 2018 und von „1933“, um dann die eigentlich wichtige Botschaft in einen Halbsatz zu packen, nämlich die von der „Demokratiegefährdung durch die Digitalisierung“.
Zudummerletzt soll hier noch die Berliner CDU-Vorsitzende Monika Grütters zitiert werden:
„Offensichtlich ermöglicht das Internet derzeit mehr Freiraum, als die Demokratie vertragen kann.“
Zumindest die gelenkte Demokratie. Deshalb gibt es ja ein vehementes Interesse an Heiko Maas’ Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Weißrussland. Sollte es demnächst von einem rechtspopulistischen Bundesverfassungsgericht gekippt werden, bekäme es immer noch Asyl in Minsk. Monika Grütters auch.
Publico feiert übrigens seit diesem Wochenende den zweimillionsten Seitenabruf seit seiner Gründung im November 2017. Viele der mehr als 400 000 Leser finanzieren die Seite auch so gut, dass selbst die Kosten für die Umsetzung der Datenschutzgrundverordnung ihre Schrecken verlieren. Dafür (für die Finanzierung) herzlichen Dank. Die Seite besitzt eine solide Firewall, sie ist in den USA gehostet, und ihre Reichweite wächst umgekehrt proportional zur Glaubwürdigkeit besorgter ARD- und CDU-Funktionäre. „Wat willste machen?“ (Lukas Podolski).

Nach der Ermordung von Susanna F. durch einen Verfolgungssimulanten aus dem Irak, der dann wirklich zum Flüchtling wurde, nach dieser Tat also erklärte ein Mitglied der AfD-Bundestagsfraktion den größten Teil seiner Redezeit zur Schweigeminute für das getötete Mädchen. Was die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth subito unterband. Nun meinten nicht wenige wohlgesinnte Leute in den sozialen Medien, die Schweigeminute sei unter Umgehung der Bundestagsgeschäftsordnung ins Parlament gedrückt worden; damit habe die AfD also gegen die Geschäftsordnung verstoßen. 
In einem Land, in dem die geltenden Einreiseregeln durchgesetzt würden, indem es undenkbar wäre, dass ein Messerfuchtler trotz erwiesener Gemeingefährlichkeit und abgelehntem Asylantrag weiter bleiben und dann nach einem kulturellen Clash samt Sippe unter falschem Namen ins Flugzeug steigen kann, um in das Land zu fliehen, in dem er angeblich bedroht ist, in einem Land, in dem ein Hinterherwackeln hinter der Lautsprecherparole „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ nie und nimmer zu einem Versorgungsposten als stellvertretende Bundestagspräsidentin führen würde, in einem solchen Land wäre der Hinweis auf die Formalie der Geschäftsordnung berechtigt. In einem anderen Land nicht. An dieser Stelle soll noch einmal Wiglaf Drostes Kurzcharakterisierung von C. Roth zitiert werden:
„Die Frau ist eine intellektuell befreite Zone. Ihr Auftritt verströmt die Ästhetik einer Butterfahrt mit anschließendem Heizdeckenverkauf. Alles, worüber sie spricht, macht sie zu einer angeblich ganz persönlichen Angelegenheit, Tränenfluss, brüchiges Timbre und großgestiges Um-die-Welt-besorgt-Sein-Gehampel inklusive. So geht ihr Spiel: Sie äußert sich hochbewegt jaulend, schlammig menschelnd und geistfrei edelkitschend, jede Kritik daran aber versucht sie plump mit dem Hinweis auf angebliche Unsachlichkeit auszuhebeln. Ich habe viel für Naivität im Sinne von Natürlichkeit übrig, aber so naiv, einer gewohnheitsmäßig aufgepeitschten Betroffenheitsnudel auf eine Sachebene zu helfen, bin ich dann doch nicht.
In den Achtzigerjahren wäre sie mit der Nummer durchgekommen, heute aber zieht der Ranz nur noch bei den ganz Schlichten. „Ihre Knie“ hätten „richtig nachgegeben“, weinte sie in die Zeitung hinein, um einen Augenblick später zu beklagen, dass sie als „emotionsgeleitet beschrieben“ werde. Geht es noch ausgepichter?
An Claudia Roth stimmt wahrhaft nichts. An dieser Person ist, mit dem von ihr zu Tode zitierten Rio Reiser gesprochen, ganz und gar alles Lüge. Habituell verinnerlicht hat sie das willfährige Hin-und-her-Switchen zwischen öffentlicher und privater Rolle. Die Bayreuther Wagner-Festpiele besuchte sie in so heillos aufgemaschelter Garderobe, dass im Umkreis von 30 Kilometern die Blindenhunde knurrten.
Dass ich von dieser existenziell durchlogenen Gebrauchtemotionshökerin garantiert kein öliges Grabgebinde nachgeworfen bekommen werde, hat nicht wenig Trost.
In dieser eiernden Lebenshaltung, die streng genommen keine ist, repräsentiert die grüne Sauerfrau ihre Partei perfekt. Doch heiter stimmt uns die Demokratie: Wer genau das will, kann genau das wählen.“

Ganz schnell noch ein Service für diejenigen, die den Sender von Ulrich Wilhelm und artverwandten Demokratieabgabenfunk nicht verfolgen: Auf den Nazitatort über völkische Aussteiger im Schwarzwald («Sonnenwende»), die auf den Weltuntergang wartenden Kryptonazis an der deutsch-polnischen Grenze («Demokratie stirbt in Finsternis») oder die zum Äußersten entschlossenen bayrischen Reichsbürger («Freies Land») folgte in dieser Woche der Polizeiruf „In Flammen“. Eine rechtspopulistische Politikerin wird umgebracht, aber die Täter sitzen, Überraschung, ganz woanders.
Zahlen müssen für diese Werke selbstredend fast alle, sofern sie nicht gerade zu den GEZ-Verweigerern gehören. Ein Durchsetzungsgesetz, das Bürger verpflichtet, dieses von Angstschweiß existenziell durchzogene Zeugs auch noch wegzugucken, ein solches Gesetz fehlt schmerzlich. Und kommt auch nicht mehr.
Wenn Claudia Roth, Monika Grütters und all die anderen ununterscheidbaren Stützen der  Gesellschaft einmal etwas über den Umschlag von Quantität in Qualität nachlesen und verstehen würden,  dann wüssten sie auch, warum.    Wendt



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.