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Sonntag, 4. Juli 2021

John Ioannidis: Abrechnung und Wille zur Versöhnung

Wie Sie vielleicht wissen, bin ich Fan von John Ioannidis. Seit Jahren beziehe ich mich in meinen Büchern auf seine Arbeit, und ich habe ihn vor drei Jahren auch persönlich nach einem Vortrag in Heidelberg kennen gelernt. Er selbst würde jedoch darüber schmunzeln, denn ein Star zu sein, ist nicht seine Motivation. Ihm geht es um wissenschaftliche Klarheit des Erkenntnisgewinns. Und das kompromisslos. Aber schon damals hat mich eingenommen, wie er seine klare und deutliche Kritik an den wissenschaftlichen Zuständen mit einer ganz besonderen Mischung aus Freundlichkeit und Humor verbindet. Vorgestern nun hat der österreichische Sender Servus TV ein 63 Minuten langes Interview mit John Ioannidis ausgestrahlt, in deutscher Simultanübersetzung.

Der Stanford-Professor wird angekündigt als der führende Epidemiologe, und das ist er für mich ohne Zweifel. Vor allem, weil ich ihn auch als unbestechlich einschätze. 

Solche Charaktereigenschaften sind essenziell, wenn man wissenschaftliche Meinungen sucht, die in einer unsicheren Situation Orientierung leisten können. So war es ein Beitrag von ihm, zusammen mit einem Statement des deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin, der die Ahnung für mich zur Gewissheit werden ließ, dass die Corona-Maßnahmen mehr Schaden anrichten werden, als es das Virus je können wird. Dies erst gab mir die Sicherheit, die Kritik im Umgang mit der Pandemie auch öffentlich zu äußern, als fast alle noch im Panikmodus waren, aus dem viele leider nicht mehr herausfinden.


In diesem Fernsehinterview läuft auch Servus TV zur Höchstform auf, und der Moderator Michael Fleischhacker ist ausgezeichnet vorbereitet. Er stellt die entscheidenden Fragen. Gleichzeitig gibt man John Ioannidis ausreichend Raum für gut überlegte Antworten.

Ein würdiger Rahmen, den die deutsche Medienlandschaft derzeit nicht zu leisten vermag, weil sogar die Wissenschaftsredaktionen der großen Zeitungen nicht mehr den Unterschied sehen zwischen wissenschaftlichem Diskurs und autoritärem Aktionismus, den Ioannidis im Interview beschreibt. So geben sich Zeitungen von der Süddeutschen bis hin zur Welt die Blöße, Ioannidis Attribute wie „schillernd“ oder „umstritten“ anzuhängen – und machen sich damit doch nur selbst lächerlich. So wird Wissenschaft zu einem Instrument der Politik, und wenn Wissenschaftler sich verführen lassen, Wahrheiten zu verkündigen und den Zweifel zu ignorieren, dann kann das nur schiefgehen, wie wir alle derzeit leidvoll erleben.


Eine Fehleranalyse wird zeigen, wie das Desaster entstehen konnte

Was sagt nun der Stanford-Professor? Für Achgut-Leser inhaltlich nichts Neues. Bei der Angabe der Infektionssterblichkeit (IFR) nennt er sogar die Zahl 0,05, was wohl seinem aktuellen Kenntnisstand entspricht. Bemerkenswert auch deshalb, weil Achgut derzeit gegen die Sperrung eines kleinen Videos klagen muss, in dem ich die IFR anhand einer früheren Publikation von ihm mit 0,23 Prozent angebe, was dort immer noch als Fake News gilt. Hier steht nicht nur YouTube eine harte Landung in der Realität bevor. Er beschreibt weiter die Kollateralschäden, ohne jedoch das Virus zu verharmlosen, vor dem er angemessenen Respekt zeigt. Insbesondere, weil es eine klare Risikogruppe betrifft, die jedoch nur schlecht geschützt wurde.

Das reichte jedoch, um ihn in die Diffamierungsmaschinerie zu ziehen, die sogar auf seine Familie zielte. Beim Thema Impfen sieht er derzeit die Nebenwirkungen nicht so dramatisch, um von einer Empfehlung abzurücken. Eine Aussage, die mich meine kritischere Position überdenken lässt. Aber Ioannidis wäre der Letzte, der mir meine Zweifel abspräche, und würde Gegenargumente abwägen. Denn für ihn ist es erlaubt, Fehler zu machen, auch eigene, sie sind gewissermaßen sogar unausweichlich, wenn man immer bessere Erkenntnisse und Lösungen finden möchte.


Das eigentlich Beeindruckende in diesem Interview ist jedoch etwas anderes: seine Bereitschaft zur Versöhnung und Verständigung. Das ist es, was wir bald brauchen werden, wenn die immense Unwucht von angerichtetem Schaden einerseits und dem unfassbaren Maß an autoritärer Überheblichkeit der Verursacher andererseits unsere Gesellschaft ins Schlingern bringen kann. Wenn der angestaute Zorn sich Bahn bricht, braucht es glaubwürdige Menschen wie ihn, die statt nach Rache nach Verständigung streben, damit wir als gesamte Gesellschaft aus den Fehlern lernen. Jedoch: Keine Sorge, das bedeutet nicht, dass die Fehleranalyse Unangenehmes unter den Tisch fallen lassen wird, sondern sie wird klar und deutlich aufzeigen, wie das Desaster entstehen konnte. Für beides steht Ioannidis: Klarheit und Menschenfreundlichkeit. Besser kann man Wissenschaft nicht repräsentieren.

Zitate von Ioannidis aus der Sendung


…über den Beginn der Pandemie:
„Im Februar und März 2020 war ich einer der schärfsten Befürworter von drakonischen Maßnahmen, also von harten Lockdowns, weil wir einfach nicht wussten, womit wir es zu tun hatten. Wir hatten sehr wenig Informationen über das Virus, seine Sterblichkeitsrate, seine Verbreitung und andere Eigenschaften. Wenn man wenig Gesichertes über eine Krankheit weiß, die nicht nur 14 sondern vielleicht 40 oder 50 Millionen Menschen innerhalb weniger Monate töten könnte, sind harte Lockdowns als Sofortmaßnahme natürlich sinnvoll. Dann muss man aber Informationen sammeln, um die Maßnahmen anzupassen, effizienter zu machen, die Kollateralschäden möglichst klein zu halten, die Gesundheit der Menschen und der Gesellschaft zu erhalten.“

…über die Wissenschaft:
„Ich kann sagen, ich habe mich in meiner Karriere unzählige Male geirrt, auch während der Pandemie. Aber ein Wissenschaftler ist jemand, der falsch liegen kann, der aber versucht, seine Irrtümer zu korrigieren. Das ist der Unterschied zum Dogma, wo wir alles wissen und kein Bedürfnis haben, das infrage zu stellen, Tests durchzuführen oder überhaupt eine gesunde Skepsis an den Tag zu legen.“

…über den Zeitdruck:
„Wir mussten dringend handeln. Bei vielem, was ich zur Pandemie gesagt habe, wurde genau das missverstanden, Manche haben mir nämlich vorgeworfen, dass ich dafür eingetreten bin, nicht zu handeln. Das Gegenteil ist der Fall. Ich war dafür, sehr energisch und sehr früh zu handeln, aber eben auch sehr schnell die beste Evidenz zu bekommen, damit wir unsere Reaktionen verbessern und adaptieren können und nicht mehr Verluste von Leben beklagen, als wir es mit besseren Daten hätten müssen. Es ist sehr bedauerlich, dass auf die Wissenschaft von Seiten der Medien und Sozialen Medien so ein großer Druck ausgeübt wurde – wahrscheinlich in bester Absicht.“

…über aktivistische Kollegen:
„Ich persönlich bin weder bei Facebook noch auf Twitter aktiv. … Ich muss mir das, was ich schreiben und veröffentlichen möchte, unzählige Male durchlesen, um Fehler zu minimieren. Ich möchte mich nicht öfter zum Narren machen als notwendig. Aber ich sehe, dass viele Wissenschaftler diese Grenze zum Aktivismus mühelos überschreiten. Ich hoffe, sie tun Gutes. Aber manchmal erreichen sie ein Maß an Selbstgerechtigkeit, Aggressivität und Aufdringlichkeit, dass sie damit der Wissenschaft sehr viel Schaden zufügen.“

…über Folgen des Lockdowns:
„Nehmen wir zum Beispiel das Thema Lockdowns. Ich würde nie behaupten, dass meine Modelle die Wahrheit zeigen und die vom Imperial College sind falsch. Es bringt am meisten, sich beide anzuschauen und die Notizen zu vergleichen. Es geht aber nicht um Modelle, um Fallzahlen, um Covid-19 per se. Wir brauchen einen ganzheitlichen Blick auf die Auswirkungen auf die Gesundheit, psychische Gesundheit, Bildung, Gesellschaft, andere, vernachlässigte Krankheiten, pflege, Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit, Menschen, die den Verstand verlieren, wenn wir damit noch lange weitermachen.“

„Für vulnerable Personen verheerend, für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung aber nicht“

…über die Gefährlichkeit des Virus:
„Es ist ein zerstörerisches Virus. Sie haben vorhin gesagt, es sei weniger gefährlich als gedacht. Da bin ich anderer Meinung. Für manche Menschen kann es verheerend sein. Es geht da um eine Minderheit in der Bevölkerung – aber für ältere Menschen, Menschen in Pflegeheimen, vulnerable Personen kann es verheerend sein. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist es das aber nicht. Das sollten wir berücksichtigen.“

…über Schulschließungen:
„Dass wir zum Beispiel unsere Schulen so lange geschlossen haben, war meiner Meinung nach ein großer Fehler. 90 Prozent der Schüler auf der ganzen Welt mussten ihre Ausbildung unterbrechen. Die Wohlhabenden hatten immer noch bessere Möglichkeiten, noch etwas Bildung zu erhalten, als die Benachteiligten. (…) Von dort (den Niederlanden) wissen wir, dass die Kinder während der Zeit der Schulschließungen nur sehr wenig gelernt haben, eigentlich fast nichts. Und die nicht wohlhabenden Kinder sind im Vergleich mit den wohlhabenden um 60 Prozent in ihrer Entwicklung zurückgefallen. Bei mir daheim in den USA gibt es Kinder, die auf das Schulessen angewiesen sind. Sie müssen in die Schule gehen, um Essen zu bekommen.“

„Es ist ein Virus der Ungleichheit. Es schlägt nicht immer gleich zu. Es gab Hotspots, manchmal auch an Orten, die in der Vergangenheit verschont geblieben sind. Wenn wir aber von unseren Fehlern und auch von den Erfolgen lernen, dann können wir solche Hotspots vermeiden. Wir kennen die Risikostratifizierung, wir wissen, dass 30 bis 80 Prozent der Todesfälle bei der ersten Welle auf Pflegeheime entfielen. Bei der zweiten Welle haben wir es etwas besser gemacht und hoffentlich gelernt, sie besser zu schützen, statt das Gegenteil zu tun, nämlich Menschen, die sich mit Covid-19 infiziert haben, in Pflegeheime zu schicken. Schlussendlich hatten wir mehr Infizierte in den Pflegeheimen als in der Allgemeinbevölkerung.“

„Kollateralschäden schwerwiegender als die Auswirkungen der Pandemie, des Virus selbst“

…über Kollateralschäden:
„Das, was wir bisher gesehen haben, deutet darauf hin, dass die Kollateralschäden fast jeden betreffen, verschiedene Menschen in verschiedenem Ausmaß. Meiner Erfahrung und Berechnung nach und nach dem, was ich in der Literatur gelesen habe, sind die Kollateralschäden mehr und schwerwiegender als die Auswirkungen der Pandemie, des Virus selbst. Das ist schwerwiegend, ich möchte das nicht kleinreden. Hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt bewegen sich unter die Armutsgrenze, eine große Zahl an Menschen ist arbeitslos, die Hungernden sind mehr geworden. Jedes Jahr sterben neun Millionen Menschen an Hunger, fünf Millionen sterben wegen eines schlecht funktionierenden Gesundheitssystems, das nun noch schlechter funktioniert, weil wir unsere Bemühungen in diese Richtung verändert haben. Wir haben so viele andere Probleme wie zum Beispiel die psychische Gesundheit. 50, 60, 70 Prozent der Bevölkerung sind mit psychischen Problemen wie Angst, Depressionen und großem Stress konfrontiert. Wie kann man das mit 0,05 Prozent der Bevölkerung vergleichen – der durchschnittlichen Sterberate bis jetzt. Vielleicht ist die Zahl zu niedrig, man kann das etwas erhöhen. Wie vergleicht man 0,05 Prozent mit 50 Prozent oder anderen hohen Auswirkungsraten auf der ganzen Welt?“

„Es ist nicht nur ein Virus, sondern die gesamte öffentliche Gesundheit, die gesamte Gesellschaft, die hier betroffen ist (…). Wir dürfen nicht alles vergessen, was uns menschlich macht, was uns als Gesellschaft, als Community, als Menschen wichtig sein sollte. Ich fürchte, dass das Gleichgewicht in dieser Berechnung völlig falsch ausgelegt wurde. Wir haben uns zu 99,9 Prozent auf Covid-19 als Virus konzentriert und nur 0,1 Prozent auf den Rest – obwohl dieser Rest viel mehr Einfluss auf das Endergebnis hat als das Virus selbst.“

…über den kommenden Herbst:
„Die Vorhersagen für den kommenden Herbst sind viel besser. Ein substanzieller Teil der Bevölkerung ist geimpft. Besonders in der Gruppe der vulnerablen und älteren Menschen, zumindest in Europa und den USA. Wir wissen noch nicht genau, ob die neuen Varianten durch diese Impfungen komplett abgedeckt werden. Bis jetzt funktioniert es. Die Varianten, die jetzt zirkulieren, scheinen gut abgedeckt. Ein großer Teil der Bevölkerung war schon infiziert. Also gibt’s eine Kombination aus Impf-bedingter und infektionsbedingter Immunität. Hoffentlich können wir die Irrtümer der Vergangenheit vermeiden. Hoffentlich wissen wir, wen wir schützen müssen.“

„Ich würde drakonische Maßnahmen vermeiden innerhalb des Lockdown-Pakets, Dinge wie Schulschließungen. Geschäftsschließungen. Ich sage nicht, dass man Maßnahmen vermeiden soll wie die Absage von Großveranstaltungen oder vernünftiges Social Distancing, wenn man das ohne größere Störungen schafft.“

„Ich bin gegen eine Impfpflicht“

…über Impfungen:
„Natürlich gibt es Probleme mit diesen nicht komplett zugelassenen Impfstoffen. Wir haben sie sehr schnell und sehr erfolgreich entwickelt. Ihre Nebenwirkungen müssen wir aber erst kennenlernen. Es gibt schon einige Nebenwirkungen, die aufgetaucht sind. Bislang ist es aber nichts, wo ich sagen würde: Stopp! Hören wir auf! Wir haben einen großen Fehler gemacht! (…) Das Impfen ist eine großartige Entwicklung. Für Kinder ist das Risiko wirklich minimal, so oder so. Der indirekte Effekt, wenn Kinder mit älteren Menschen zusammenleben: Da würde ich sagen, impfen wir die Alten, das ist das Erste, was man machen muss.“

„Es ist komplex, weil es möglich ist, dass manche Menschen, die ein hohes Risiko haben, auch keine gute Immunantwort beim Impfen haben. Dann fragt man sich: Sollte man versuchen, sie extra zu schützen, indem man andere in ihrem Umfeld impft? (…) Ich persönlich bin gegen eine Impfpflicht. Es gibt viel Diskussion darüber. Ich glaube, bei einem Produkt, das immer noch unter Notfallzulassung steht, statt voll lizenziert zu sein, ist es keine gute Idee, es verpflichtend zu machen. Ich bin für eine Strategie, die damit arbeitet, Leute zu informieren. Und ihnen sagt: So groß ist Ihr persönliches Risiko, so groß ist das Risiko anderer Leute in Ihrem Umfeld. Und hier ist das Impf-Risiko. Das wissen wir, das wissen wir nicht. Versuchen Sie, Ihre Entscheidung zu treffen.“

„Wir sollten ruhig bleiben und es vermeiden, auf Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, Druck auszuüben. Ich glaube, das würde negative Auswirkungen haben. Wenn wir die Impfraten wirklich erhöhen wollen, ist es die schlechteste Idee, eine Umgebung zu schaffen, wo sich die Leute unterdrückt fühlen. Dass sie das tun müssen, weil sie sonst ausgestoßen, beiseitegeschoben werden, eine Art Bürger zweiter Klasse. Das wäre sehr bedauerlich. Diese Art der Strategie gibt Impfgegnern Munition.“

…über die aktuelle Lage:
„Wahrscheinlich übertreiben wir unsere Reaktion. Besonders für den Sommer. Es ist aber sehr schwierig, die Leute aus der Angst herauszuholen, aus der Panik und aus der Umgebung, in der sie gewesen sind. Wir müssen den Menschen helfen, ihr Leben wieder zu leben.“

„Wir müssen unser Leben zurückgewinnen. Es ist eben nur ein neues Virus. Es ist nicht das Ende der Welt. Wir sollten es auch nicht zum Ende der Welt machen. Das ist nämlich das Risiko, wenn wir so weitermachen.“ Gunter Frank

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