Das größte Rätsel bleiben die von der Landbevölkerung lebenden und raubenden Soldaten, die nicht einmal zur Erntezeit auf die heimischen Höfe zurückkehren. Kaum weniger dunkel wirkt die lange Dauer des Krieges, obwohl angesichts stetig hoher Verluste doch eine schnelle Erschöpfung hätte eintreten müssen. Schließlich macht fassungslos, dass Deutschlands Bevölkerung mindestens um ein Viertel, wenn nicht gar um ein Drittel von 18 auf 12 Millionen Menschen abstürzt. Das wird zwar wortreich beklagt, bleibt aber so undurchschaubar, dass selbst Oxfords Peter H. Wilson, nach 1.168 Seiten seines Opus Der Dreißigjährige Krieg, nur konstatieren kann, dass „der Krieg im Grunde unnötig war.“ (Junge Freiheit, 18. Mai 2018, S. 3)
Für Herfried Münkler lässt sich, nach 976 Seiten eines Werkes mit gleichem Titel, immer noch „nicht entscheiden, ob es in diesem Krieg wesentlich um Religions- oder um Machtfragen ging“. Erschütternd bleibe in jedem Fall, dass „sich die Zahl der Kriegstoten zu einer demografischen Katastrophe“ ausgewachsen habe.
Auch Kriegstote beginnen als Neugeborene. Gibt es womöglich zu ihnen ungewöhnliche Befunde, die Licht auf die Millionen Opfer werfen können? Einschlägig dafür ist die so genannte Europäische Bevölkerungsexplosion, deren Grund nicht gut verstanden, deren Beginn aber in das Jahrzehnt um 1490 datiert wird. Gibt es beispielsweise in England zwischen 1416 und 1440 auf 769 sterbende Väter 620 nachwachsende Söhne, so kommen zwischen 1491 und 1505 auf 673 Verstorbene 1359 junge Männer. (J. Hatcher, Plague, Population and the English Economy 1348-1530, London 1977, S. 27). Im Heiligen Römischen Reich schnellt die Bevölkerung zwischen 1500 und 1618 von rund 12.5 auf 18 Millionen.
In diesem Anstieg stecken die mysteriösen Soldaten, die über „Sieg oder Heldentod“ (Thomas Hobbes) etwas werden, also aus dem Kriegsgebiet leben oder sterben müssen, weil sie als nichterbende Brüder auf den väterlichen Höfen kein Auskommen mehr finden.
Wann die Bereitschaft zum Heroismus erlischt
Das Reich steht nach den 30 Jahren demografisch nicht schlechter da als zu Beginn der Bevölkerungsexplosion und kann noch bis ins 20. Jahrhundert Verluste absorbieren. Schon 1700 prunkt es mit 21 und 1750 gar mit 23 Millionen Menschen. Ähnlich geht es in ganz Europa voran. Damit steht das Personal für den Siebenjährigen Krieg (1754-1763) zu Verfügung, der mit allem Recht als wahrer erster Weltkrieg bezeichnet wird, weil er nicht nur in Europa, sondern auch in Indien, der Karibik und Nordamerika ausgefochten wird. Unsere Gelehrten hätten das sehen können, wenn sie die Bevölkerungsentwicklung nicht nur durch den Krieg, sondern auch davor und danach angeschaut hätten.Auf einer Langtrendkurve hinterlässt der Dreißigjährige Krieg also nur eine schnell ausgewetzte Delle. Er erweist sich als nur eine von vielen Gewaltaktionen, deren Sinn darin besteht, zumindest temporär Gleichgewicht zwischen Ambitionen und verfügbaren Positionen herbeizuführen. Sie setzen sich fort, solange überzähliges Personal nachwächst. Die absolute Menschenzahl mag zwischenzeitlich fallen, weil Alte und Schwache verhungern, während die jungen Starken sogar zahlreicher werden.
Obwohl Europas Verluste durch Kriege, Seuchen und Abwanderungen in die Kolonien immer nur steigen, erreicht es – nach 50 Millionen Einwohnern 1500 – im Jahr 1915 eine halbe Milliarde Menschen. Was oben wegfällt, wird von unten reichlich ausgeglichen, weil die Kinderzahlen pro Frauenleben bis 1915 nicht signifikant fallen. Erst aufgrund immer höherer Bevölkerungsanteile in der lebenslangen Arbeitsmarktkonkurrenz geht es dann herunter, bis in den späten 1960er Jahren die Parole Make love not babys endgültig die Oberhand gewinnt.
Nach vier bis sechs Kindern pro Frau um 1870 sind es heute nur noch eins bis zwei. Kann die Alte Welt zwischen 1914 und 1945 rund 24 Millionen junge Männer verheizen, wird jetzt mit jedem Gefallenen eine Familienlinie ausgelöscht. Deshalb erlischt die Bereitschaft zum Heroismus.
Wo man sich aber aktuell so tüchtig vermehrt wie damals die Europäer, gehen auch die langjährigen Kämpfe weiter. Afghanistans Krieg wird 2019 vierzig Jahre alt. Ungeachtet der Verluste von fast drei Millionen Menschen springt die Bevölkerung gleichzeitig von 13 auf 37 Millionen. Bei einem durchgehenden Kriegsindex zwischen 5 und 6 folgen auf tausend 55-59-jährige Alte fünf- bis sechstausend zornige junge Männer zwischen 15 und 19 Jahren. (Security Perspectives of Demographic Trends, G. Heinsohn, 28. Mai 2018, NATO Defense College, Rom). Ein friedlicher Ausgleich zwischen Nachdrängenden und Karrieren bleibt unmöglich. Das war damals kaum anders. Insofern muss der demografische Blick auf gegenwärtige Kriege beim Studium von vergangenen nicht von Nachteil sein.
Gunnar Heinsohn (*1943) lehrt seit 2012 Kriegsdemografie am NATO Defense College in Rom.
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