13. November 2016
Die Sonntage immer den Künsten!
Das famose Buchhaus „Taschen“, dessen prachtvolle Bildbände von Vermeer
und Velàzquez ich an dieser Stelle bereits dringend zum Erwerb
empfohlen habe, hat ein weiteres Must-have produziert: Alison
Castle, „Das Stanley Kubrick Archiv“, 850 Seiten Fotos, Gespräche,
Interviews, Notizen und Artikel „aus dem Archiv eines besessenen
Filmemachers“ (hier, gibt es auch als Kleinformat für 15 Euro).
Man sieht die bekannten Darsteller und Kulissen aus den berühmten
Filmen, nur diesmal eben als Kulissen. Man kommt dem Apperzeptions-Genie
Kubrick nicht wirklich auf die Schliche, aber näher, man erfährt viel
über seine Arbeitsweise und den kolossalen Aufwand, den er auf der Suche
nach der perfekten Szene immer und immer wieder trieb. Anderthalb Jahre
etwa dauerte die Herstellung der Kostüme für „Barry Lyndon“; vor dem
Beginn der Dreharbeiten von „Shining“ fuhr der Filmarchitekt und
Bühnenbildner ein Jahr quer durch die USA und fotografierte Hotels. Auf
die Frage eines Interviewers „Wie viel planen Sie, bevor Sie eine Szene
zu drehen beginnen?“, versetzte Kubrick: „So viel, wie der Tag Stunden
hat und die Woche Tage.“ An anderer Stelle gesteht er, dass ihm am Set
mit den Schauspielern sofort die Unzulänglichkeiten seines Scripts
auffielen, weshalb er beim Drehen ständig das Drehbuch umschreibe. Die
Schauspieler, auch wenn er sie verschlissen hat und oft nur für einen
Film besetzte, haben ihn verehrt, weil sie bei ihm mehr lernen konnten
als bei jedem anderen, so wie die Orchester den Maestro Carlos Kleiber
verehrt haben, der ähnlich wie Kubrick ein detailversessener
Perfektionist und Wiederholungsfanatiker war.
Zu den
Glanzlichtern des Buches gehört die Mitschrift einer Unterhaltung
Kubricks mit dem Schriftsteller Joseph Heller, die man in Kubricks
Nachlass fand, wobei Termin, Ort und Umstände des Gesprächs unbekannt
sind. Da es sich vor allem um den Film „Dr. Seltsam oder: Wie ich
lernte, die Bombe zu lieben“ dreht, lässt es sich halbwegs datieren.
Kubrick statuiert dort, die satirische Überspitzung bis hin ins Absurde
sei dem platten Realismus überlegen: „Die Leute bekommen dadurch viel
besser ein Gefühl für die Wahrheit.“ Heller stimmt zu: „Dass die
Realität, wenn man sie verzerrt – und das habe ich in ‚Catch 22’
versucht –, nicht wirklich verzerrt, sondern nur ihre Oberfläche
verändert wird, um sie deutlicher hervortreten zu lassen, das erzeugt
diese Art von nervösem Lachen.“
Was mit dem Begriff
„Antikriegsfilm“ gemeint sein möge, fragt Kubrick und verblüfft
vielleicht den Leser, keineswegs aber seinen Gesprächspartner mit der
Überlegung: „Für viele Leute ist der Krieg gar keine Hölle. Viele Leute
haben Spaß daran. Es ist aufregend.“ Heller, der Bombenpilot des Zweiten
Weltkriegs, setzt noch einen drauf: „Die Gefühle, die ich in ‚Catch 22’
zum Ausdruck gebracht habe, waren nicht meine Gefühle, als ich Bomben
abgeworfen habe, denn die meiste Zeit hatte ich einen Riesenspaß dabei.
(...) Ich bin Einsätze geflogen, und wenn es keine Flak gab, war ich
enttäuscht. Je gefährlicher es wurde, desto besser gefiel es mir. Ich
war ein richtiger fieser 19jähriger Bursche. Aber bevor meine Zeit als
Soldat zu Ende ging, bekam ich höllische Angst. Ich flog 60 Einsätze,
und ich glaube, beim 40. begann langsam die Angst.“
Am
Interessantesten sind die ästhetischen Betrachtungen Kubricks. „Ich habe
sehr bewusst der fast unwiderstehlichen Versuchung, der viele Satiren
erliegen, widerstanden, zumindest an einem Punkt dem Publikum reinen
Wein einzuschenken und ihm zu sagen, was ich wirklich denke“, erklärte
er zu „Dr. Seltsam“. Dieser Verzicht auf Kommentare und letzte
Erklärungen, das durchaus intendierte Verharren im Vagen, Unheimlichen,
Mysteriösen durchzieht sein gesamtes Werk, insbesondere seine
Menschheitsgeschichte „Odyssee im Weltraum“, über deren letzte fünfzehn
Minuten ein Dutzend philosophische Promotionen geschrieben werden
könnten (oder bereits vorliegen), aber auch „Shining“, der Horrorfilm
aller Horrorfilme, lässt den Zuschauer mit einem zutiefst unbehaglichen
Gefühl außer Kraft gesetzter Kausalität zurück.
Ganz goethisch –
„Bedenke das Was, aber noch mehr bedenke Wie“ – führt der Regisseur
aus: „In ‚Aspects of the Novel’ spricht E.M. Forster davon, wie
bedauerlich es sei, dass man auf Handlung nicht verzichten könne (...)
Aber man zahlt einen ungeheuer großen Preis für eine gute Handlung, denn
wenn jeder da sitzt und sich fragt, was als nächstes passiert, dann
bleibt nicht viel Zeit darüber nachzudenken, wie es passiert oder warum
es passiert.“
Oder: „Ich suche nicht wirklich nach Filmstoffen.
Ich lese eine Menge Bücher, und an einem Punkt packt mich plötzlich das
Verlangen, etwas zu verfilmen. Eine solche Entscheidung ähnelt der
Frage, warum man seine Frau geheiratet hat. Es finden sich eine Menge
Gründe, aber keine Erklärung.“
Bemerkenswert ist der Brief, den der Regisseur 1972 an die New York Times
schrieb, deren Filmkritiker Fred M. Hechinger in „Clockwork Orange“ die
"Stimme des Faschismus“ gehört zu haben vorgab. Die damalige
Auseinandersetzung um Kubricks wahrscheinlich bedeutendstes Meisterwerk
demonstriert eine erstaunliche und deprimierende Konstanz der linken,
liberalen, linksliberalen, politisch korrekten oder wie auch immer zu
rubrizierenden Vorurteile gegenüber der Freiheit der Kunst und das
Beharren dieser restlos Aufgeklärten darauf, alle Künstler gewissermaßen
erkennungsdienstlich behandeln zu dürfen, ob sie mit ihren Werken
hinreichend dem sogenannten gesellschaftlichen Fortschritt auf die
Sprünge helfen.
In mehr als 40 Jahren hat sich nichts geändert,
dieselben Vorwürfe werden im selben reflexhaften Tonfall mit denselben
Begründungen auch heute noch vorgetragen. Kubrick konstatiert, dass der
Kritiker bei seiner Distanzierung von der angeblich hinter „Clockwork
Orange“ stehenden Ideologie „nicht eine einzige Dialogstelle zitiert,
auf keine einzige konkrete Szene Bezug nimmt, sich mit keinem einzigen
Thema des Films auseinandersetzt – sondern ihn einfach gleichsetzt mit
einem ‚Trend’, den er in mehreren aktuellen Filmen erkannt zu haben
meint (‚ein tief antiliberaler totalitärer Nihilismus’).“
Es sei
wahr, fährt er fort, „dass das Bild des Menschen in meinem Film weniger
schmeichelhaft ist als jenes, das Rousseau in einer ähnlich allegorisch
konzipierten Erzählung zeichnete. Aber muss man denn, um den Faschismus
zu verhindern, den Menschen als einen edlen Wilden sehen, darf man
nicht den unedlen, gemeinen Burschen zeigen?“ Der Kritiker habe ja
durchaus das Recht, die menschliche Natur optimistisch zu sehen, aber
das verleihe ihm keineswegs auch noch das Recht, Pessimisten mit
Faschismus-Vorwürfen zu verunglimpfen. Kubrick fragt: „Liegt es an den
hysterischen Anschuldigungen selbsternannter ‚wachsamer Liberaler’ wie
Fred M. Hechinger, dass der Liberalismus heute so geschwächt dasteht?“
Wie gesagt, wir befinden uns im Jahr 1972.
„Der Tonfall des
Artikels“, schließt Kubrick, wirke auf ihn „wie der eines konditionieren
Menschen, der das wiedergibt, was er zu finden erwartet und was ihm
zuvor gesagt wurde oder was er gelesen hat, hingegen legt er nicht dar,
was er in ‚Uhrwerk Orange’ wirklich gesehen hat. Vielleicht sollte er
sein Bündel konditionierter Reflexe in der Garderobe abgeben und sich
den Film noch einmal anschauen. Und dieses Mal ein wenig wählerischer
sein.“
Wahrscheinlich waren diese Worte, wie fast immer, in den Wind gesprochen.
Allein für das Intro von „Clockwork Orange“, zwei Minuten reinster
Wagnerianismus, würde ich fast alle Filme der Welt drangeben. So müsste
man schreiben können!
Schließen wir mit dem amüsantesten Zitat
des Buches: „Das Filmemachen widerspricht der alten Weisheit, dass ein
ideales, von Genies entworfenes System von Idioten genutzt werden könne.
Beim Film war es immer umgekehrt.“
PS und apropos:
In einem Acta-diurna-Eintrag vor drei Jahren habe ich die Frage
aufgeworfen, als wessen Zeitgenosse ich einmal mein Dasein verbracht
haben werde und sie, ergänzt um den präzisierenden Zusatz, wessen
Zeitgenossenschaft mich mit Stolz erfülle, mit den Namen Stanley Kubrick
und Carlos Kleiber beantwortet.
Bei mir über dem Schreibtisch
hängt dieses Bild von Carlos Kleiber, das mehr über den einzigartigen
Dirigenten aussagt als alle Worte.
Immer wenn ich es sehe, muss ich an den Beginn von Paul Verlaines
„Ariettes oubliées“ (etwa: Vergessene Weisen) in der Übersetzung von
Stefan George denken:
„Dies ist die müde verzückung
Dies ist der liebe bedrückung
Dies ist aller wälder gesang“
Heute nahm ich einmal das Original zur Hand:
„C’est l’extase langoureuse,
C’est la fatigue amoureuse,
C’est tous les frissons des bois“
Wenn man berücksichtigt, dass langoureuse „schmachtend, sehnsüchtig“ meint, frissons Kälteschauer sind und fatigue amoureuse
auch die "Strapazen" oder "Beschwernisse" der Liebe beschreiben kann,
sind wir im Original noch näher bei dem entrückten und verzückten
Vollendungssucher Carlos Kleiber – und letztlich gilt es ebenso für den
göttlichen Stanley Kubrick –: Dies sind Ekstasen des Sehnens, dies sind
Strapazen des Liebens, dies ist das Erschauern der Wälder... MK am 13. 11. 2016
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