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Sonntag, 13. November 2016

Mankurt und Handreichung

Seit Jahren wenden sich die offiziellen Veranstaltungen zum Volkstrauertag gegen den Sinn und Zweck, der ihnen ursprünglich zugedacht war. Statt der Trauer um die eigenen Toten, die durch Krieg und Gewaltherrschaft umgekommen sind, geht es um Schuldbekenntnisse und Bußexerzitien, die in der Aufforderung münden, „gerade wir als Deutsche“ müßten „Lehren“ aus der Geschichte ziehen. Diese bestehen in der Akklamation einer Politik, die die Grundlagen des eigenen Landes unterminiert.
In diesem Jahr wurde das Motto „Flucht und Vertreibung“ gewählt. Hoffnungen auf ein nachgeholtes Eingedenken verdrängter Verluste und Leiden aber sind vergeblich. Es geht um die Legitimierung der Grenzöffnung und der Massenzuwanderung. Dafür ist der verlorene deutsche Osten noch gut genug.

Die vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge herausgegebene „Handreichung“ zum Volkstrauertag enthält den Redevorschlag einer promovierten Historikerin, die akribisch aufzählt, was Deutsche im Zweiten Weltkrieg angerichtet haben. Daran schließt sich der Satz an: „Wir erinnern uns aber auch an die zivile deutsche Bevölkerung, die im Krieg durch Bomben und Gewalt starb.“ Was wenigstens an diesem einen Tag die Hauptsache sein müßte, ist hier zu einem gnädigen Zugeständnis verkommen.
Zur literarischen Untermalung wird das Gedicht „Die Verscheuchte“ von Else Lasker-Schüler, die 1945 elend im palästinensischen Exil starb, empfohlen. „Wie lange war kein Herz zu meinem mild … / Die Welt erkaltete, der Mensch verblich.“ Eine ergreifende Lyrik wird als Mittel zur Volkspädagogik herabgewürdigt. Denn ein ehrliches, vollständiges Gedenken müßte auch Agnes Miegels gleichfalls ergreifende Totenklage auf Ostpreußen einschließen, die endet: „Vergib, wenn das Herz, das sich Dir ergibt, / nicht vergißt, was zu sehr es geliebt.“
Der kürzlich zurückgetretene Präsident des Volksbundes, Markus Meckel, schreibt im Geleitwort: „Mit über 70 Jahren Abstand machen wir uns nun auf den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur, in der sich ein angemessener Platz für die Erfahrungen aller Beteiligten eröffnet.“

Nun, wer in der eigenen Wohnung keine Ordnung hält, ist für die Möblierung des europäischen Hauses erst recht ungeeignet.
Die bundesrepublikanische Unordnung äußert sich unter anderem in der Schändung von Krieger- und Vertriebenen-Denkmälern. Ihre historische Bildung beziehen die mutmaßlich jungen Täter aus der Schule und aus Youtube-Schnipseln à la Guido Knopp. Und eine der zwei nicht mehr ganz so jungen Megären, die es im Februar 2014 in Dresden für angebracht hielten, mit entblößter Brust „Bomber-Harris“ ihren Dank abzustatten für die nächtlichen Massenmorde, ist gerade für die Linkspartei in das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen, ohne daß dies als Skandal thematisiert wird.
Das sind keine Zu- und Einzelfälle, sondern ist Folge einer kollektiven Konditionierung durch eine langfristig angelegte und durchgesetzte Geschichtspolitik.

Nach 1945 wurde die Zeitgeschichte als eigene historische Teildisziplin etabliert, ein Novum in Deutschland. Es handelte sich, wie der Zeitgeschichtsprofessor Norbert Frei in schöner Unbedarftheit schrieb, um „eine intellektuelle Reparationsforderung der Alliierten“, was bedeutete, daß die Wissenschaft sich dem politischen und pädagogischen Zweck unterordnete.
Sie hatte nicht nur NS-kritisch, „sondern auch nichtnationalistisch, dezidiert liberal im westlichen Sinne und demokratisch engagiert“ zu sein.

Tatsächlich ist seitdem kein Stein mehr auf dem anderen geblieben. Ausgehend von der NS-Zeit wurde die Nationalgeschichte weitgehend kriminalisiert und das geistige und emotionale Band zu den früheren Generationen zerschnitten. Unter diesen Umständen hat der Volkstrauertag in der Tat jeden Sinn verloren.
Der kirgisische Autor Tschingis Aitmatow, der zu den großen Mythenerzählern des 20. Jahrhunderts zählt, berichtet in dem Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ von einem kasachischen Stamm, der den Besiegten die Köpfe schor, darüber eine frische Kamelhaut wie eine Badekappe spannte und die Unglücklichen anschließend in der Steppe der Sonne aussetzte. Wer nicht daran starb, verlor für alle Zeit sein Gedächtnis und wurde zu einem „Mankurt“, einem zombiehaften Sklaven, der sich nicht mehr an seine Vergangenheit, nicht einmal an seine Eltern erinnerte.

Als geschichtliche und politische Person, als Individuum überhaupt, hatte er aufgehört zu existieren und war sogar bereit, den schlimmsten aller Frevel, den Muttermord, zu begehen. Gleichen jene Deutschen, die ganz vom aufgeklärten falschen Geschichtsbewußtsein erfüllt und außerstande sind, die geschichtliche und politische Bedingtheit ihrer „kritischen“ Perspektive zu erfassen, nicht den Mankurts?
Zur Stillung des restlichen Transzendenzbedarfs wird ihnen der Gesinnungskitsch der globalen Massenkultur verabreicht. Die „Handreichung“ des Volksbundes weist zur musikalischen Begleitung auf „We shall overcome“, gesungen von Joan Baez, und auf Cat Stevens alten Song „Morning has broken“ hin.
Nun ist der Verlust von Geschichtlichkeit längst keine deutsche Exklusivität mehr. Ihre Reduktion „zu einem Zeitempfinden chronischer Besserwisserei“ (so der belgische Historiker David Engels) hat ganz Westeuropa und die alte westliche Welt insgesamt ergriffen.
Wenn aber von den Institutionen nichts mehr zu erwarten ist, muß man sich von ihnen abwenden. Gerade am Volkstrauertag geht dann die Verantwortung an den einzelnen zurück.   Thorsten Hinz

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