Seit
Jahren wenden sich die offiziellen Veranstaltungen zum Volkstrauertag
gegen den Sinn und Zweck, der ihnen ursprünglich zugedacht war. Statt
der Trauer um die eigenen Toten, die durch Krieg und Gewaltherrschaft
umgekommen sind, geht es um Schuldbekenntnisse und Bußexerzitien, die in
der Aufforderung münden, „gerade wir als Deutsche“ müßten „Lehren“ aus
der Geschichte ziehen. Diese bestehen in der Akklamation einer Politik,
die die Grundlagen des eigenen Landes unterminiert.
In diesem Jahr wurde das Motto „Flucht und Vertreibung“ gewählt.
Hoffnungen auf ein nachgeholtes Eingedenken verdrängter Verluste und
Leiden aber sind vergeblich. Es geht um die Legitimierung der
Grenzöffnung und der Massenzuwanderung. Dafür ist der verlorene deutsche
Osten noch gut genug.
Die vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge herausgegebene
„Handreichung“ zum Volkstrauertag enthält den Redevorschlag einer
promovierten Historikerin, die akribisch aufzählt, was Deutsche im
Zweiten Weltkrieg angerichtet haben. Daran schließt sich der Satz an:
„Wir erinnern uns aber auch an die zivile deutsche Bevölkerung, die im
Krieg durch Bomben und Gewalt starb.“ Was wenigstens an diesem einen Tag
die Hauptsache sein müßte, ist hier zu einem gnädigen Zugeständnis
verkommen.
Zur literarischen Untermalung wird das Gedicht „Die Verscheuchte“ von
Else Lasker-Schüler, die 1945 elend im palästinensischen Exil starb,
empfohlen. „Wie lange war kein Herz zu meinem mild … / Die Welt
erkaltete, der Mensch verblich.“ Eine ergreifende Lyrik wird als Mittel
zur Volkspädagogik herabgewürdigt. Denn ein ehrliches, vollständiges
Gedenken müßte auch Agnes Miegels gleichfalls ergreifende Totenklage auf
Ostpreußen einschließen, die endet: „Vergib, wenn das Herz, das sich
Dir ergibt, / nicht vergißt, was zu sehr es geliebt.“
Der kürzlich zurückgetretene Präsident des Volksbundes, Markus Meckel,
schreibt im Geleitwort: „Mit über 70 Jahren Abstand machen wir uns nun
auf den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur, in der
sich ein angemessener Platz für die Erfahrungen aller Beteiligten
eröffnet.“
Nun, wer in der eigenen Wohnung keine Ordnung hält, ist für
die Möblierung des europäischen Hauses erst recht ungeeignet.
Die bundesrepublikanische Unordnung äußert sich unter anderem in der
Schändung von Krieger- und Vertriebenen-Denkmälern. Ihre historische
Bildung beziehen die mutmaßlich jungen Täter aus der Schule und aus
Youtube-Schnipseln à la Guido Knopp. Und eine der zwei nicht mehr ganz
so jungen Megären, die es im Februar 2014 in Dresden für angebracht
hielten, mit entblößter Brust „Bomber-Harris“ ihren Dank abzustatten für
die nächtlichen Massenmorde, ist gerade für die Linkspartei in das
Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen, ohne daß dies als Skandal
thematisiert wird.
Das sind keine Zu- und Einzelfälle, sondern ist Folge einer kollektiven
Konditionierung durch eine langfristig angelegte und durchgesetzte
Geschichtspolitik.
Nach 1945 wurde die Zeitgeschichte als eigene
historische Teildisziplin etabliert, ein Novum in Deutschland. Es
handelte sich, wie der Zeitgeschichtsprofessor Norbert Frei in schöner
Unbedarftheit schrieb, um „eine intellektuelle Reparationsforderung der
Alliierten“, was bedeutete, daß die Wissenschaft sich dem politischen
und pädagogischen Zweck unterordnete.
Sie hatte nicht nur NS-kritisch, „sondern auch nichtnationalistisch,
dezidiert liberal im westlichen Sinne und demokratisch engagiert“ zu
sein.
Tatsächlich ist seitdem kein Stein mehr auf dem anderen geblieben.
Ausgehend von der NS-Zeit wurde die Nationalgeschichte weitgehend
kriminalisiert und das geistige und emotionale Band zu den früheren
Generationen zerschnitten. Unter diesen Umständen hat der Volkstrauertag
in der Tat jeden Sinn verloren.
Der kirgisische Autor Tschingis Aitmatow, der zu den großen
Mythenerzählern des 20. Jahrhunderts zählt, berichtet in dem Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ von einem kasachischen Stamm, der den
Besiegten die Köpfe schor, darüber eine frische Kamelhaut wie eine
Badekappe spannte und die Unglücklichen anschließend in der Steppe der
Sonne aussetzte. Wer nicht daran starb, verlor für alle Zeit sein
Gedächtnis und wurde zu einem „Mankurt“, einem zombiehaften Sklaven, der
sich nicht mehr an seine Vergangenheit, nicht einmal an seine Eltern
erinnerte.
Als geschichtliche und politische Person, als Individuum überhaupt,
hatte er aufgehört zu existieren und war sogar bereit, den schlimmsten
aller Frevel, den Muttermord, zu begehen. Gleichen jene Deutschen, die
ganz vom aufgeklärten falschen Geschichtsbewußtsein erfüllt und
außerstande sind, die geschichtliche und politische Bedingtheit ihrer
„kritischen“ Perspektive zu erfassen, nicht den Mankurts?
Zur Stillung des restlichen Transzendenzbedarfs wird ihnen der
Gesinnungskitsch der globalen Massenkultur verabreicht. Die
„Handreichung“ des Volksbundes weist zur musikalischen Begleitung auf
„We shall overcome“, gesungen von Joan Baez, und auf Cat Stevens alten
Song „Morning has broken“ hin.
Nun ist der Verlust von Geschichtlichkeit längst keine deutsche
Exklusivität mehr. Ihre Reduktion „zu einem Zeitempfinden chronischer
Besserwisserei“ (so der belgische Historiker David Engels) hat ganz
Westeuropa und die alte westliche Welt insgesamt ergriffen.
Wenn aber von den Institutionen nichts mehr zu erwarten ist, muß man
sich von ihnen abwenden. Gerade am Volkstrauertag geht dann die
Verantwortung an den einzelnen zurück. Thorsten Hinz
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