Peter Handke war mir immer ein Dorn im Auge, weil es nichts schlimmeres gibt, als wenn das Falsche dem Wahren ähnelt. Peter Handke in Deutschland, Nanni Moretti in Italien. Der Handkeismus und der Morettismus sind nördlich und südlich der Alpen die typischsten und wirkungsvollsten Verdrehungen während der letzten 50 Jahre. 1998 schenkte mir eine Italienerin - eine begabte Künstlerin, die mit dem Generaldirektor einer Bank verheiratet war und in unserer Zeit gelungene, zeitgemäße, realistische Ölgemälde schuf - Handkes Buch „Mein Jahr in der Niemandsbucht“, weil ich ihm in ihren italienischen Augen ähnelte.
Dieses Buch beginnt mit dem Thema der Metamorphose. Ich schlug das Buch nach drei Seiten enttäuscht zu. Die Metamorphose war seit Jahrzehnten eins der zentralen Themen Ernst Jüngers - und der hatte mit dem Thema ernst gemacht und sehr profunde Betrachtungen angestellt, die er wie Samen ausstreute und die erst in heute noch ferner Zukunft ihre orientierende Wirkung entfalten werden. Und nun hatte Peter Handke das Thema Metamorphose für sich entdeckt, als einer der etwas abschütteln musste, das er Jahrzehnte lang ostentativ im Namen militanter Veränderung getragen hatte, das aber von vorn herein falsch, fiktiv, irreführend, verlogen, illusorisch, betrügerisch, geheuchelt, abwegig, hinter die Tanne führend war. Und wieder wurde die eigene Befindlichkeit Handkes zum existenzbestimmenden Manifest für alle hochstilisiert und mit dem Gestus des Rückzugs ins Abseits verbrämt. Handke war für mich bereits 1972 gestorben. Und jedesmal, wenn ich seit 1972 unvermeidlicherweise auf ihn stieß, starb dieser unsägliche Wiedergänger erneut. Meinen lieben serbischen Freunde zuliebe machte ich mir die Mühe, sein Serbienbuch zu lesen. Wie immer enthielt auch dieses Buch viel richtige Beobachtungen, aber auch in diesem Buch, das wahrscheinlich sein aufrichtigstes ist, ist zu spüren, dass ein Kern ungelöster Fragestellungen wirkmächtig die Darstelluung seiner Wahrnehmungen verzerrt. Nicht seine Wahrnehmungen, wohlgemerkt, sondern ihre Darstellung. Mit anderen Worten, er lügt sich die Welt wieder besseres Wissen zurecht.
Aber ich werde wohl damit leben müssen, dass diese Parallelität weiterhin vorgezeichnete Stadien durchschreitet und wir nicht divergieren können. Es wird aber wohl auch nie zu Übereinstimmung kommen, weil er rückblickend nie zum Renegaten werden wird. Er wird uns allenfalls vorspiegeln, dass das U in Wirklichkeit schon immer ein X war.
Auch ich bin wie er ein leidenschaftlicher Pilzsammler und davon gibt es nicht viele unter den Geisteswissenschaftlern unserer Generation. Auch ich lebe im Wald, ohne Heideggers „Holzwege“ je gelesen zu haben.
Nun wurde ein Dokumentarfilm über ihn gedreht und Bernhard Lassahn, der sich den Film ausgerechnet mit Ludwig Lugmeier ansah, erzählt uns davon. Mein Eindruck ist, dass hier das wirklich Gute an Handke deutlich sichtbar wird und dass sich alle Menschen meiner Generation, das ist die Generation, die 1968 etwa 10 Jahre alt war, also genau die Generation, die heute unsere Medien und unsere Politik dominiert, dass diese Menschen sich alle diesen Film ansehen sollten und über sich selbst nachdenken sollten. Ich gestehe Handke übrigens das von Lassahn konstatierte „Bemühen um Aufrichtigkeit“ seit je her zu, nur dass es nun mal immer unvollständig war, immer dort abriss, wo es erst richtig interessant wird. Wie auch heute Lassahns Text und die zitierten Passagen Handkes sich im Grunde genommen wie wenige andere Texte zeitgenössischer, deutschsprachiger Schriftsteller nahtlos ins AfD-Programm fügen. Aber ich glaube nicht, dass der sinistrorse Handke mir diese Bemerkung bekräftigen würde. Oder doch?
Hier Lassahns Bericht:
Zusammen mit dem Schriftsteller Ludwig Lugmeier war
ich in dem neuen Dokumentarfilm von Corinna Belz über Peter Handke. Wir
waren neugierig. Was würde uns erwarten? Würden wir etwa einen Showdown
virtuoser Formulierungskünstler erleben, als würde ein Herausforderer wie Michael Krüger gegen Peter Handke antreten, um sich einen Kampf der Wortgiganten
zu liefern, bei dem sich noch in der neunten Runde nur ein knapper Sieg nach
Punkten abzeichnet und immer noch keiner den anderen k.o. gequatscht hat?
Die Eintrittskarte wirkte verdächtig. Der vollständige Titel „Peter Handke
– bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte“, war nicht in voller Länge
ausgedruckt, der Titel ist zu lang, er passt nicht in eine Zeile, und mitten in
„bin im Wald“ hörte die Zeile auf und ließ nur das „i“ aus dem „im“ zurück, so
dass auf der Eintrittskarte der Film auf gut Bayrisch hieß: „Peter Handke bin
i“ – und damit zu Befürchtungen Anlass gab, dass wir es mit einer
Beweihräucherung zu tun haben würden, die das abgehobene Ego eines
Großschriftstellers in den Mittelpunkt stellt.
So war es nicht. Ganz und gar nicht. Es war ein bewegender Film zu der
großen Frage: Wie sollen wir leben? Ich will nicht allzu viel verraten; ich
will nur einen Teil der Fragestellung aufgreifen, die Frage eingrenzen und
etwas umformulieren: Mit wem sollen wir leben?
Zwar wusste ich schon, dass Handke mit seiner Tochter – wie wir heute sagen
würden – als „Alleinerziehender“ gelebt hatte, doch ich hatte es glatt wieder
vergessen, nun konnte ich Handke wieder entdecken als jemanden, für den das
Leben mit einem Kind zu einer bedeutenden Selbstverständlichkeit gehört.
Sein Buch mit dem unscheinbaren Titel „Kindergeschichte“ war
sein letzter Bestseller, jedenfalls fand es sich auf entsprechenden Listen
– das war, lang ist es her, im Jahre 1981. Da war er als „Heranwachsender“
mit seinem Kind zusammen.
Peter Handke spricht auch heute noch – auch im Film –
über sich in der dritten Person, er tut es offenbar gerne, so wie ich es früher
auch getan habe, als ich als Kind Indianer gespielt und mich als großen
Häuptling Spitze Feder gesehen habe. Es heißt in der Kindergeschichte:
„Ein Zukunftsgedanke des Heranwachsenden war es,
später mit einem Kind zu leben. Dazu gehörte die Vorstellung von einer
wortlosen Gemeinschaftlichkeit, von kurzen Blickwechseln, einem
Sich-dazu-Hocken, einem unregelmäßigen Scheitel im Haar, eine Nähe und Weite in
glücklicher Einheit.“
Schon beim ersten Anblick des Kindes spürt der
Heranwachsende, dass er nun ein für allemal mit dem Kind eine verschworene
Gruppe bilden wird, die ihm zur „einzig gültigen Wirklichkeit“ wird. Er nimmt
es der Mutter übel, dass sie das Berufsleben vorzieht und sich nicht der
unbedingten Notwendigkeit stellt, und er verachtet all diejenigen, die ihm eine
andere Lebensweise aufreden wollen. Er spürt deutlich, dass er den gesamten
Zeitgeist gegen sich hat und dass ihn die Dringlichkeit des politischen Lebens
immer wieder herausruft aus der Enge und Gefangenschaft des Häuslichen mit dem
bequemen Glück der Zweisamkeit.
Es ist kein reines Glück. Es ist nicht
immer nur das Anwehen des Paradieses zu spüren, das sowieso nur unauffällig und
beiläufig auftritt, es ergeben sich genauso tiefe Momente des Versagens, des
Ungenügens und Momente einer Schuld, die so heftig sind, dass er das Gefühl
hat, als würde er – um es ausnahmsweise in meinen Worten zu sagen – vor der
höchstmöglichen Instanz in Ungnade fallen. Als Peter Handke sein Kind in einem
Zornesanfall schlägt, schreibt er (wieder über sich in der dritten Person): „Das
Entsetzen des Täters war fast gleichzeitig. Er trug das weinende Kind, selber
bitter ermangelnd der Tränen, in den Räumen
umher, wo überall die Tore des Gerichts offenstanden, mit den schalltoten
Hitzestößen der Posaunen ...“
Die
Formulierung von den „schalltoten Hitzestößen der Posaunen“ fand ich damals
schon übertrieben, ja geradezu lächerlich, das war 1981, als ich, selber noch
kinderlos, das Buch zum ersten Mal gelesen hatte. Ich dachte nur: Geht’s
vielleicht auch ne Nummer kleiner? Doch womöglich war es gerade die Übergröße
der Formulierung, die bewirkt hatte, dass mir der Wortlaut bis heute in
Erinnerung geblieben ist. Weiter heißt es über die erwähnte dritte Person, also
über den Täter: „Erstmal sah sich der Erwachsene da als einen schlechten
Menschen; nicht bloß ein Bösewicht war er, sondern ein Verworfener; und seine
Tat konnte durch keine weltliche Strafe gesühnt werden. Er hatte das einzige
zerstört, das ihm je das Hochgefühl von etwas dauerhaft Wirklichem gegeben
hatte, das einzige verraten, das er je zu verewigen und zu verherrlichen
wünschte. Als Verdammter hockt er sich zu dem Kind und redet es an ...“
Ludwig, der selbst keine Kinder hat,
erzählte mir, als wir wenig später bei Rotwein und Tapas den Film verdaut
haben, dass er vor vielen Jahren einer Frau ins Gesicht geschlagen habe. Es sei
das Widerwärtigste gewesen, das er jemals getan habe. Zwar sei er besoffen
gewesen, doch das könne keine Entschuldigung sein. Ich wiederum weiß von einer
Frau, die vor über 20 Jahren ihren Dreijährigen verprügelt hatte, die es immer
noch bereut, ihn schon mehrfach um Verzeihung gebeten hat und es immer noch
tut. Von einer anderen Frau, die sich inzwischen in Frömmigkeit geflüchtet hat,
weiß ich, dass auch sie eine unselige Zeit mit ihrem Kleinkind hatte und dass
sie dann, wie sie es nannte, „den anderen Weg“ gegangen ist.
Wir
haben viel geredet. Über Peter Handke, über Edmund Husserl und seine Methode,
einzelne Phänomene aus Zusammenhängen zu lösen, aber eben auch über private,
über sehr intime Dinge. Ich erwähne das, um erneut zu unterstreichen, dass dies
kein Literatur-Fuzzi-Film ist. Es geht nicht um Papierkram. Der Film löst große
Gefühle aus. Wer hätte das gedacht? Man erwartet von Peter Handke, dass er
andersgelbe Nudeln in Einzelheiten beschreibt und jedes Blatt, das vom Baum
gefallen ist, zweimal umwendet, ehe er es wieder beiseitelegt, und dass er sich
im Kleinen und Klitzekleinen verliert.
Doch
er schreibt über die großen Tatsachen des Lebens, die erst erkennbar werden,
wenn wir uns ungeschützt ausliefern, wenn das Gerümpel des Vorgestanzten und
Vorgemeinten beiseite geräumt ist und die eigengesetzliche Lebenswelt mit ihrer
ganzen Wucht wirksam wird. Dann erscheinen uns auch seine übergroßen Worte, die
ins Subjekt gegossenen Gedenksteine aus den persönlichen Weltkriegen, am
rechten Platz.
Er
erklärt ausführlich seine Gegnerschaft zu den Kinderlosen, zu den
„Wustmenschen“, zu denen, die die Kulissen der Aktualität für die allein
gültige Wirklichkeit halten, und lässt den großen Häuptling, der bekanntlich
niemals mit gespaltener Zunge spricht, ausführlich zu Wort kommen: „Später
sollte er es noch des öfteren mit weit ärgeren überzeugt-Kinderlosen zu tun
bekommen, einzeln oder in Paaren. In der Regel hatten sie einen scharfen Blick
und wussten auch, selber in furchtbarer Schuldlosigkeit dahinlebend, im
Expertisendeutsch zu sagen, was an einem Erwachsenen-Kind-Verhältnis falsch
war; manche von ihnen übten solchen Scharfsinn sogar als ihren Beruf aus.“
Der
Heranwachsende, der inzwischen unmerklich zum Erwachsenen und zum Täter
geworden ist, der Schuldbeladene, der Alleinerziehende lebte im ständigen
Zerwürfnis mit den Besserwissern und ihren wohlfeilen Naseweisheiten, die
selber nur in die eigene Kindheit und in das eigene fortgesetzte Kindsein
vernarrt waren und sich in der Nähe als ausgewachsene Monstren erwiesen. Es gab
– damals schon – die für ihn so bezeichnende Konstellation: Peter Handke gegen
den Rest der Welt. Einer gegen alle.
Mir
wurde sofort klar, warum ich von der Prosa schon damals so tief beeindruckt
war: Handke meidet gewöhnliche Ausdrücke. Er bemüht sich, Sätze zu finden, die
einem wie Uraufführungen vorkommen; Sätze, die man so noch nie gelesen oder
gehört hat und die einen die Welt so sehen lassen, als sähe man sie zum ersten
Mal, auch wenn da gelegentlich die Posaunen erklingen. Und noch etwas: Ich habe
dahinter stets das Bemühen um Aufrichtigkeit gesehen. Wie soll ich sagen? Um
Ehrlichkeit? Wahrhaftigkeit? Dass Handke hart und hemmungslos gegen sich selbst
sein kann und dass er seine Wunden vorzeigt, hat mich ermutigt, das auch im
Umgang mit mir selbst zu probieren und mich besser kennenzulernen.
Ich
habe die „Kindergeschichte“ gleich noch einmal gelesen. Diesmal als
jemand, der inzwischen mit einem kleinen Kind gelebt hat. Es hat mich – um es
in einem gewöhnlichen Satz zu sagen – stark berührt. Deshalb will ich ihm das
letzte Wort erteilen, aber vorher noch einmal darauf hinweisen, dass das
Zusammensein mit einem Kind nur eine Szene aus dem Film ist, über den Ludwig
zusammenfassend gesagt hat, es gebe darin nichts, das ihm nicht gefallen hätte.
Hier also noch etwas aus der „Kindergeschichte“: „Er verfluchte diese
selbstgerechten kleinlichen Propheten als den Auswurf der modernen Zeiten, hob
vor ihnen das Haupt und schwor ihnen die ewige Unversöhnlichkeit. Bei dem
antiken Dramatiker fand er den ihnen gebührenden Bannfluch: Sind Kinder allen
Menschen doch die Seele. Wer dies nicht erfuhr, der leidet zwar geringer, doch
sein Wohlsein ist verfehltes Glück.“
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