Stationen

Montag, 8. November 2021

Das Berliner Schloss

Mit dem Einzug der Moderne in die Architektur begann deren Ideologisierung. Um Missverständnissen vorzubeugen: das barocke Versailles wie der gotische Dogenpalast stehen für die Selbstzelebrierung einer Staatsidee. 

Die Regeln, auf denen vormoderne Bauten standen, entsprangen jedoch keiner ideologischen Doktrin, sondern den Prinzipien der Ästhetik. Sie galten für Vitruv wie Palladio. Schönheit war ein Eigenwert, dem sich die Architektur beugen musste. Als Berlin nach der Wiedervereinigung zum Schaufenster der Republik werden sollte, bestimmte hingegen die Botschaft die Formensprache; der weitreichende Gebrauch von Glas sollte Transparenz verdeutlichen, die karge Einrichtung Bescheidenheit und Funktionalität. Dem Diktum musste sich selbst der Reichstag als angeblicher Kontinuitätspunkt deutscher Geschichte beugen – sinnigerweise behielt der modernisierte Bau nur seine Fassade. Die Berliner Republik gefällt sich im Kleid einer Baukunst, die vermeintlich „demokratische Werte“ versinnbildlichen soll, und dafür bereit ist, jeden ästhetischen Wert zu opfern. Das von Giovannino Guareschi geäußerte Bonmot, dass nichts so hochmütig sei, wie offen zur Schau gestellte Demut und Schlichtheit, ist an der Spree unbekannt. 

Diese Interpretation von Architektur ist der Schlüssel zum Verständnis aktueller Diskussionen. Der zeitgenössische Geist erkennt weder vergangene Persönlichkeiten, noch deren Werk, noch die Vergangenheit als Eigenwert an, sondern macht sich selbst zum Maß aller Dinge; demnach muss auch der historische Bau nicht nach seinem ästhetischen Wert, sondern nach den Umständen seines Entstehens, nach seiner Epoche und dem damaligen politischen System bewertet werden. Das Renaissanceschloss wird zum Symbol fürstlichen Verprassens und Unterdrückung des gemeinen Volkes, das klassizistische Museum des 19. Jahrhunderts zur Aufbewahrungsstätte kolonialen und imperialistischen Raubes. Ein Kulminationspunkt solcher Deutung war 2018 die Einschätzung des Architekten Stephan Trüby, der die Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt als „unterkomplexes Heile-Welt-Gebaue, das den Holocaust herunterstuft“ bewertete.

So verwundert auch nicht die Reserviertheit gegenüber dem Wiederaufbau des Sächsischen Palais in Warschau. Ihm kann nur eine rückwärtsgewandte Geschichtsauffassung zugrunde liegen, die sich nach Nationalismus und Größe sehnt. Dass es europäische Länder gibt, die nicht ihre jüngere, sondern ihre ältere Vergangenheit als Bezugspunkt sehen, bleibt unverständlich. Dabei könnte gerade Deutschland, das an der Zerstörung dieses Bezugspunkts polnischer Geschichte direkt beteiligt war, über den Wiederaufbau ein Zeichen der Versöhnung setzen – nicht zuletzt, weil der Name des Hauses aus der Zeit rührt, als deutsche Könige ganz selbstverständlich auf dem polnischen Thron saßen. Solche Symbole bleiben jedoch denjenigen fremd, die sich selbst in den glücklichsten aller Zeiten wähnen, statt in einem Kontinuum sich abwechselnder Epochen in den vielfachen Schattierungen von Grau.    Der ganze Artikel bei der Würzburger Tagespost

 

 

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