Es kommt auch in unserer starken Antaios-Versandbuchhandlung
nicht alle Tage vor, daß ein Titel von alleine zum »Bestseller« wird.
Das neue Buch des Chemnitzer Moralphilosophen und
Politikwissenschaftlers Lothar Fritze ist so ein Buch, und sein Erfolg
rührt vermutlich daher, daß hier ein wirklich neuer bzw. ein gänzlich
anderer Zugriff auf die Migrationskrise gewählt wurde. Anläßlich dieser
Veröffentlichung sprachen wir mit Prof. Fritze über sein Buch und den
moralischen Universalismus:
SEZESSION: Im Vorwort zu Ihrem neuen Buch Der böse gute Wille. Weltrettung und Selbstaufgabe in der Migrationskrise
schreiben Sie, daß die Migrationskrise die größte Herausforderung für
Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs darstellt. Die
politische Linke nutze diese Krise indes, um die Auflösung der Nation zu
erreichen. Nun wird die Bundesrepublik aber einerseits nicht von der
politischen Linken, sondern von der »Mitte« in Form der Großen Koalition
regiert, und diese Koalition wäre – andererseits – objektiv doch
verrückt, ihren eigenen Gestaltungsraum »aufzulösen«. Was vollzieht sich
also vor unseren Augen, und: wer ist treibende Kraft, wer Zaungast?
LOTHAR FRITZE: Diese Fragen stellen sich in der Tat. Erstens ist wohl
zu bemerken, daß die CDU unter ihrer gegenwärtigen Parteivorsitzenden
nach links gerückt ist – freilich ohne deshalb selbst zur politischen
Linken zu gehören. Gleichwohl: Angela Merkel sagt und tut Dinge, die von
Linken voll und ganz gutgeheißen werden. Sie hat durch ihre
Entscheidungen in der Flüchtlingskrise im Spätsommer und Herbst 2015 und
vielleicht ebenso durch die Art der Kommunikation dieser Entscheidungen
die nachfolgende Wanderungsbewegung zumindest forciert. Daraus folgt
nicht, daß sie selbst die Auflösung der Nation beabsichtigt. Aber welche
längerfristigen Ziele hat eigentlich Frau Merkel? Dies entzieht sich
weitgehend unserer Kenntnis. Immerhin gibt es in der CDU führende
Politiker, die die Idee der Vereinigten Staaten von Europa verfolgen.
Und auch dies ist letztlich ein linkes Projekt. Wolfgang Schäuble glaubt
sogar, daß ein Verzicht auf Einwanderung uns »in Inzucht degenerieren ließe«.
Jedenfalls: Denkt man ein paar Jahrzehnte voraus, würde eine Politik
der ungesteuerten Zuwanderung aus Westasien und Afrika zu Ergebnissen
führen, die von einem Großteil der heutigen Deutschen als eine Art
Auflösung der Nation betrachtet würden.
Zweitens ist zu bemerken, daß verrückte Dinge tatsächlich geschehen.
Ein zentrales Motiv des Handelns von Politikern ist der Machterwerb bzw.
die Machterhaltung. Zu diesem Zweck werden mitunter längerfristige
Folgen in Kauf genommen oder allzu gern übersehen, die den eigenen
Wünschen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen zuwiderlaufen. Die
nominelle Opposition klatscht heute der Regierung Beifall, weil sie ihre
Utopie einer weltumspannenden Gesellschaft der Gleichen und
Gleichgestellten auf dem Weg der Verwirklichung sieht. Ja, und was die
treibenden Kräfte anlangt – darüber möchte ich eigentlich nicht
spekulieren. Zaungast dieser Entwicklungen ist der vornehmlich
kopfschüttelnde und ratlos dreinblickende Wähler; die Anhänger der
»Willkommenskultur« jedenfalls scheinen mir keine legitimen
Repräsentanten des Volkes zu sein.
SEZESSION: Bei aller Kritik an der »Willkommenskultur« betonen Sie ja
durchaus die moralische Pflicht, Notleidenden zu helfen, weisen aber
zugleich darauf hin, daß diese Hilfspflicht auch Grenzen hat. Wie kann
diese Grenze bestimmt werden?
FRITZE: Wir haben die moralische Pflicht, Menschen in Not zu helfen – und zwar (dies gilt zumindest prima facie)
unabhängig davon, warum sie in Not geraten sind. Dabei sind zwei
Präzisierungen notwendig: Wer sich selbst helfen kann, befindet sich
nicht in Not. Und: In Not sein heißt um das Überleben kämpfen. Unter
welchen Voraussetzungen ein Überleben gesichert ist, bedarf freilich
weiterer Präzisierungen. In Not ist beispielsweise der Verhungernde oder
der Verfolgte, dem man nach dem Leben trachtet, nicht aber der, der
seine Vorstellungen hinsichtlich eines guten Lebens nicht realisieren
kann. Insofern sind Migrationswillige, die sich nicht in Not befinden,
grundsätzlich anders zu behandeln.
SEZESSION: Also gibt es in der Konsequenz dieser Prämissen eine universale Pflicht zur Hilfe?
FRITZE: Diese Hilfspflicht gilt universal, also für alle Menschen auf
der Welt. Sie läßt sich meines Erachtens rational begründen und sollte
deshalb allgemein anerkannt werden. Dies ist eine moralphilosophische
und keine verfassungs- oder völkerrechtliche Aussage. Wenn wir von
Formen der weltweiten Entwicklungshilfe absehen, werden darüber hinaus
gehende Hilfspflichten gegenwärtig nur innerhalb von Staaten oder
Staatengemeinschaften (wie etwa der EU), also nicht universal
akzeptiert. Innerhalb dieser begrenzten Gemeinschaften sorgt der
Sozialstaatsgedanke für eine Umverteilung, die das Ziel der bloßen
Existenzsicherung übersteigt.
Der Flüchtling aus Syrien, der zunächst in der Türkei Unterschlupf
gefunden hat und sich danach auf den Weg nach Europa begibt, ist in
diesem moralischen Sinn kein Hilfsbedürftiger; sein Leben ist in der
Türkei bereits gesichert. Wenn der deutsche Staat ihn trotzdem aufnimmt,
erfüllt er im strengen Sinne nicht die moralische Hilfspflicht, von der
ich gesprochen habe; es handelt sich eher um eine Art Arbeitsteilung
bei der Erfüllung von Hilfspflichten. Und dies kann, wenn es in
geordneten Bahnen verläuft, selbstverständlich vernünftig und im Sinne
einer Lastenverteilung auch geboten sein.
SEZESSION: Nun gibt es aber keine adäquate Lastenverteilung, und die
»universale Hilfspflicht« wird offenbar nur in Deutschland
verabsolutiert. Also: Ein neuer deutscher »Sonderweg«, ein
folgenschwerer wiederum?
FRITZE: Moralische Hilfspflichten werden sicherlich nicht nur in
Deutschland anerkannt und wahrgenommen. Im Herbst 2015 war aber schnell
klar, daß der »Flüchtlingsstrom« nicht nur aus Hilfsbedürftigen bestand.
Auf diese Erkenntnis hat man in anderen Ländern früher reagiert als in
Deutschland.
SEZESSION: Deutschland wurde aber auch – nach Meinung einiger Kritiker – mit der Flüchtlingswelle alleine gelassen.
FRITZE: Ja, es stellt sich somit die Frage, wie man sich verhalten
soll, wenn andere ihre Hilfspflichten nicht erfüllen und alle Appelle
nicht fruchten. Generell würde ich sagen, man soll tun, was man kann,
aber es gibt keine Pflicht zur Selbstaufgabe. Es gilt Folgendes:
Moralische Normen haben Aufforderungscharakter; sie fordern von uns in
bestimmten Situationen ein bestimmtes Verhalten. Zunächst allerdings muß
es dem Adressaten der Norm prinzipiell möglich sein, diesen Forderungen
nachzukommen, und sodann muß das geforderte Verhalten zumutbar sein.
Diese Zumutbarkeitskriterien festzulegen ist das eigentliche Problem.
Diese Aufgabe ist nicht allein von Moralphilosophen zu lösen. Die
Moralphilosophie kann nur die Struktur moralischer Probleme
verdeutlichen sowie den Weg der Entscheidungsfindung beschreiben; die
konkreten moralischen Entscheidungen aber müssen von den handelnden
Menschen getroffen werden. In der Praxis des gelebten Lebens entscheiden
wir selbst – und zwar möglichst auf der Basis von rationalen
Überlegungen und kritischen Diskussionen –, was für uns zumutbar ist,
das heißt, wir entscheiden auch darüber, inwieweit wir die Interessen
Hilfsbedürftiger berücksichtigen. Wenn beispielsweise in Nigeria ein
Bürgerkrieg ausbricht, haben wir jedenfalls nicht die moralische
Pflicht, potentiell 180 Millionen Nigerianern die Einwanderung nach
Deutschland zu gewähren.
SEZESSION: Und genau hier verläuft jetzt die Trennlinie von moralischen Universalisten und der breiten Mehrheit der Bevölkerung?
FRITZE: An derartigen Fragen scheiden sich die Geister. Kann unsere
moralische Hilfspflicht zum Beispiel dadurch eingeschränkt sein, daß wir
nicht bereit sind, unseren eigenen Lebensstil aufzugeben und
gegebenenfalls massive Abstriche an unserem Lebensstandard zu machen?
Moralische Universalisten verneinen diese Frage. Die überwältigende
Mehrheit der Menschen dürfte hier allerdings Zumutbarkeitsgrenzen sehen.
Moralische Universalisten akzeptieren aber auch Hilfspflichten, die
über eine Hilfe zum Überleben hinausgehen. Konsequent zu Ende gedacht
haben für sie alle den gleichen Anspruch auf Interessenerfüllung. Für
die allermeisten Menschen hingegen haben die Interessen anderer Menschen
nicht annähernd denselben Stellenwert wie die eigenen Interessen.
Würden Politiker diese – offenbar genetisch fundierte,
kulturinvariante – Einstellung ignorieren, wäre dies in der Tat ein
gefährlicher Sonderweg. Der von der Bundesregierung bereits tatsächlich
eingeschlagene Sonderweg besteht aber nicht darin, daß sie über Gebühr
Hilfsbedürftigen geholfen, sondern die Grenze für Menschen geöffnet hat,
die in dem definierten Sinne gerade keinen Anspruch auf Hilfe haben.
Sie hat den Eindruck erweckt, sie akzeptierte ein unbeschränktes
Niederlassungsrecht für alle, die ihr Glück in Deutschland und Europa
suchen wollen. Dies scheint mir der eigentliche Kern der Diskussionen um
die »Flüchtlingskrise« zu sein. Benedikt Kaiser
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Lothar Fritze: Der böse gute Wille. Weltrettung und Selbstaufgabe in der Migrationskrise, 202 S., 15,80 € – hier bestellen!
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