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Freitag, 16. März 2018

Der linke Bourgeois und der rechte Citoyen

Am Ende genügte ein einziger Satz, um die Empörung in Gang zu setzen: „Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent“, sagte der Schriftsteller Uwe Tellkamp („Der Turm“) bei einer Veranstaltung vorigen Donnerstag im Kulturpalast Dresden mit seinem Kollegen Durs Grünbein unter dem Motto: „Streitbar! Wie frei sind wir mit unseren Meinungen?“
Prompt twitterte der Suhrkamp-Verlag nach dem Auftritt seines Erfolgsautors Tellkamp: „Aus gegebenem Anlaß: Die Haltung, die in Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der des Verlages zu verwechseln.“ Um das Obszöne und Regressive in diesem Vorgang zu erfassen, muß man einen Blick in die Geschichte des Verlags werfen.
Namensgeber Peter Suhrkamp hatte im KZ eingesessen, auch weil er mißliebigen Autoren die Treue hielt. Nachfolger Siegfried Unseld schützte die Autoren des Hauses stets mit seinem breiten Kreuz. Die aktuelle Verlagsleitung hingegen hielt es für angebracht, Tellkamp wegen regierungskritischer Äußerungen öffentlich zur Disposition und indirekt seine ökonomische Existenz in Frage zu stellen.

Die Ironie der Geschichte: Eben dieser plumpe Tweet sollte der medialen Jagdmeute, die schon Fährte aufgenommen hatte, die Lust an der Hatz verderben. Der Instinkt sagte ihr, daß Suhrkamp es mit dem vorauseilenden Gehorsam und der politischen Unterwürfigkeit übertrieben hatte und es unklug wäre, damit fortzufahren. Das hätte Tellkamps Rede über Meinungskorridore, Medienhetze und linken Einschüchterungsterror nur bestätigt und dem Widerwillen gegenüber dem Gesinnungsjournalismus neue Nahrung gegeben.
Außerdem wäre es in den östlichen Bundesländern zu einer Solidarisierungswelle mit dem aus Dresden stammenden Autor gekommen, und der Vertrauensverlust der westlich dominierten Presse hätte sich weiter beschleunigt. Deshalb haben die meisten Medien sich beeilt, ihr Unverständnis für die Illoyalität des Verlags auszudrücken. Der politisch-ideologische Rahmen aber, in dem solches Verhalten eher die Regel als die Ausnahme bildet, ist dabei unreflektiert geblieben.

Es geht nicht mehr nur um Kritik im Detail, sondern um Grundsätzliches. Auch Tellkamp ging es um einen Staat, der seinen Bürgern zunehmend feindlich gegenübertritt. Der sie mit Steuern, Abgaben und Nullzins-Politik enteignet und das Geld dazu nutzt, ihre Lebenswelt und Sicherheit zu unterminieren. Der Schützenhilfe erhält durch eine sozialwissenschaftlich und ahistorisch konditionierte Intellektuellenszene, die nahezu alle Bereiche des geistigen und kulturellen Lebens beherrscht.
Tellkamp kritisierte ihre vergifteten Kampagnen gegen die östlichen Bundesländer und insbesondere Sachsen: „Was da auf Dresden niedergegangen ist, als würden da nur Irre wohnen, glauben Sie, das hat keine Wirkung?!“ Nun, die Wirkung ist erstaunlich. Es spricht für die Stadt und ihre Bewohner, daß dort eine so kontroverse Diskussion noch immer möglich ist. Berlin, Hamburg oder Frankfurt am Main dagegen sind Orte der diskursiven Gleichschaltung. Sachsen ist die politisch spannendste Region in Deutschland, weil dort demonstriert, diskutiert und gestritten wird wie nirgendwo sonst.
Wahrscheinlich haben Tellkamp und der Lyriker Durs Grünbein – ebenfalls ein Suhrkamp-Autor und gebürtiger Dresdner, jedoch Anwalt des Status quo – mit ihrem Streitgespräch über Füchtlingspolitik und Meinungsfreiheit ein neues Kapitel in der Literatenszene aufgeschlagen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hatten bisher nur Autoren, die aufgrund ihres gehobenen Alters sich im Stand der Unangreifbarkeit befinden, den Mut gehabt, dem hypermoralisch aufgeladenen Einheitssound zu widersprechen.

Nach Tellkamps Auftritt können auch andere Schriftsteller den Mut fassen, aus dem Schweigen herauszutreten. In Tellkamps Stimme schwang unüberhörbar ein Erregungsvibrato mit, während Grünbein sich in der Position des abgeklärten Weltendeuters gefiel. Doch war es nicht die Qualität der Argumente, die den Unterschied im Auftritt verursachte, sondern die ungleiche Verteilung der Risiken. Grünbein, der Merkels sogenannte Flüchtlingspolitik für ein „Ruhmesblatt“ hielt, ging mit seinen Ausführungen keinerlei Wagnis ein.

Tellkamp hatte nicht nur Grünbein als Widerpart, sondern er redete vor allem gegen die normative Sprache der Medien und der Politik an, die als drohendes Über-Ich einen Schatten auf jede öffentliche Diskussion wirft. Der eine sprach aus der Gewißheit heraus, machttechnisch auf der sicheren Seite zu stehen, der andere aus der berechtigten Furcht, daß ein soziales Fallbeil über ihm schwebt.
Das Ergebnis war so klar wie historisch ungewohnt: Der als liberal und weltoffen gehandelte Grünbein wirkte wie ein Bourgeois und bestallter Bundesherold, der in Goldschnitt-Prosa die Merkel-Republik verteidigte.

Tellkamp, der oft unter „rechts“ rubriziert wird, überzeugte in der Position des Citoyens und ließ unter neuen Vorzeichen den kämpferischen Geist von Heinrich Bölls „Wuppertaler Rede“ über die Freiheit der Kunst wiederaufleben, die im Oktober 1966 in dem Satz gegipfelt hatte: „Dort, wo der Staat gewesen sein könnte oder sein sollte, erblicke ich nur einige verfaulende Reste von Macht, und diese offenbar kostbaren Rudimente von Fäulnis werden mit rattenhafter Wut verteidigt.“ Das Zusammentreffen des rechten Citoyens und des linken Bourgeois im Dresdner Kulturpalast enthielt eine enorme Brisanz. Was wird sie austragen?   Thorsten Hinz

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