Am Ende genügte ein einziger Satz, um die Empörung in Gang zu setzen:
„Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen
her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent“, sagte der
Schriftsteller Uwe Tellkamp („Der Turm“) bei einer Veranstaltung vorigen
Donnerstag im Kulturpalast Dresden mit seinem Kollegen Durs Grünbein
unter dem Motto: „Streitbar! Wie frei sind wir mit unseren Meinungen?“
Prompt twitterte der Suhrkamp-Verlag nach dem Auftritt seines
Erfolgsautors Tellkamp: „Aus gegebenem Anlaß: Die Haltung, die in
Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der
des Verlages zu verwechseln.“ Um das Obszöne und Regressive in diesem
Vorgang zu erfassen, muß man einen Blick in die Geschichte des Verlags
werfen.
Namensgeber Peter Suhrkamp hatte im KZ eingesessen, auch weil er
mißliebigen Autoren die Treue hielt. Nachfolger Siegfried Unseld
schützte die Autoren des Hauses stets mit seinem breiten Kreuz. Die
aktuelle Verlagsleitung hingegen hielt es für angebracht, Tellkamp wegen
regierungskritischer Äußerungen öffentlich zur Disposition und indirekt
seine ökonomische Existenz in Frage zu stellen.
Die Ironie der Geschichte: Eben dieser plumpe Tweet sollte der
medialen Jagdmeute, die schon Fährte aufgenommen hatte, die Lust an der
Hatz verderben. Der Instinkt sagte ihr, daß Suhrkamp es mit dem
vorauseilenden Gehorsam und der politischen Unterwürfigkeit übertrieben
hatte und es unklug wäre, damit fortzufahren. Das hätte Tellkamps Rede
über Meinungskorridore, Medienhetze und linken Einschüchterungsterror
nur bestätigt und dem Widerwillen gegenüber dem Gesinnungsjournalismus
neue Nahrung gegeben.
Außerdem wäre es in den östlichen Bundesländern zu einer
Solidarisierungswelle mit dem aus Dresden stammenden Autor gekommen, und
der Vertrauensverlust der westlich dominierten Presse hätte sich weiter
beschleunigt. Deshalb haben die meisten Medien sich beeilt, ihr
Unverständnis für die Illoyalität des Verlags auszudrücken. Der
politisch-ideologische Rahmen aber, in dem solches Verhalten eher die
Regel als die Ausnahme bildet, ist dabei unreflektiert geblieben.
Es geht nicht mehr nur um Kritik im Detail, sondern um
Grundsätzliches. Auch Tellkamp ging es um einen Staat, der seinen
Bürgern zunehmend feindlich gegenübertritt. Der sie mit Steuern, Abgaben
und Nullzins-Politik enteignet und das Geld dazu nutzt, ihre Lebenswelt
und Sicherheit zu unterminieren. Der Schützenhilfe erhält durch eine
sozialwissenschaftlich und ahistorisch konditionierte
Intellektuellenszene, die nahezu alle Bereiche des geistigen und
kulturellen Lebens beherrscht.
Tellkamp kritisierte ihre vergifteten Kampagnen gegen die östlichen
Bundesländer und insbesondere Sachsen: „Was da auf Dresden
niedergegangen ist, als würden da nur Irre wohnen, glauben Sie, das hat
keine Wirkung?!“ Nun, die Wirkung ist erstaunlich. Es spricht für die
Stadt und ihre Bewohner, daß dort eine so kontroverse Diskussion noch
immer möglich ist. Berlin, Hamburg oder Frankfurt am Main dagegen sind
Orte der diskursiven Gleichschaltung. Sachsen ist die politisch
spannendste Region in Deutschland, weil dort demonstriert, diskutiert
und gestritten wird wie nirgendwo sonst.
Wahrscheinlich haben Tellkamp und der Lyriker Durs Grünbein –
ebenfalls ein Suhrkamp-Autor und gebürtiger Dresdner, jedoch Anwalt des
Status quo – mit ihrem Streitgespräch über Füchtlingspolitik und
Meinungsfreiheit ein neues Kapitel in der Literatenszene aufgeschlagen.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hatten bisher nur Autoren, die aufgrund
ihres gehobenen Alters sich im Stand der Unangreifbarkeit befinden, den
Mut gehabt, dem hypermoralisch aufgeladenen Einheitssound zu
widersprechen.
Nach Tellkamps Auftritt können auch andere Schriftsteller den Mut
fassen, aus dem Schweigen herauszutreten. In Tellkamps Stimme schwang
unüberhörbar ein Erregungsvibrato mit, während Grünbein sich in der
Position des abgeklärten Weltendeuters gefiel. Doch war es nicht die
Qualität der Argumente, die den Unterschied im Auftritt verursachte,
sondern die ungleiche Verteilung der Risiken. Grünbein, der Merkels
sogenannte Flüchtlingspolitik für ein „Ruhmesblatt“ hielt, ging mit
seinen Ausführungen keinerlei Wagnis ein.
Tellkamp hatte nicht nur Grünbein als Widerpart, sondern er redete
vor allem gegen die normative Sprache der Medien und der Politik an, die
als drohendes Über-Ich einen Schatten auf jede öffentliche Diskussion
wirft. Der eine sprach aus der Gewißheit heraus, machttechnisch auf der
sicheren Seite zu stehen, der andere aus der berechtigten Furcht, daß
ein soziales Fallbeil über ihm schwebt.
Das Ergebnis war so klar wie historisch ungewohnt: Der als liberal
und weltoffen gehandelte Grünbein wirkte wie ein Bourgeois und
bestallter Bundesherold, der in Goldschnitt-Prosa die Merkel-Republik
verteidigte.
Tellkamp, der oft unter „rechts“ rubriziert wird,
überzeugte in der Position des Citoyens und ließ unter neuen Vorzeichen
den kämpferischen Geist von Heinrich Bölls „Wuppertaler Rede“ über die
Freiheit der Kunst wiederaufleben, die im Oktober 1966 in dem Satz
gegipfelt hatte: „Dort, wo der Staat gewesen sein könnte oder sein
sollte, erblicke ich nur einige verfaulende Reste von Macht, und diese
offenbar kostbaren Rudimente von Fäulnis werden mit rattenhafter Wut
verteidigt.“ Das Zusammentreffen des rechten Citoyens und des linken
Bourgeois im Dresdner Kulturpalast enthielt eine enorme Brisanz. Was
wird sie austragen? Thorsten Hinz
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