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Sonntag, 1. April 2018

Die Welt steht Kopf

Rape Culture. Darunter machen wir es ja nicht mehr. Glaubt man der Schwarmintelligenz im aktuellen, digitalen Sexismus-Gewitter, leben wir als Frauen ungebrochen und zwar systematisch unter dem Joch iner heterosexuell-weiß-geprägten Vergewaltigungskultur
alternder Lüstlinge, die sich schmierig und breitbeinig an Frauen vergreifen. Nicht nur in Deutschland. Weltweit. Harvey Weinstein ist überall. Gerade wabert wieder ein Hashtag durch Twitter. #metoo. Ich auch. Jede Frau ein Opfer. Ergo: Jeder Mann ein potenzieller
Täter. Seit uns in regelmäßigen Abständen Internetkampagnen zum Thema ereilen, ist es unübersichtlich geworden, ob die eine Kampagne schon durch ist, wegen Peinlichkeit klammheimlich beerdigt wurde, und unter welchem Hashtag wir uns tagesaktuell im Netz als Opfer outen. Was hatten wir nicht schon alles. Den #aufschrei nach Rainer Brüderle. Alter weißer war ja klar. Danach #neinheisstnein, als Schauspielerin Gina Lisa Lohfink angeklagt war, zwei Männer fälschlich einer Vergewaltigung bezichtigt zu haben. Bis in Regierungskreise und in die „Tagesschau“ war man kollektiv im #TeamGinaLisa, jedenfalls bis Frau Lohfink schuldig gesprochen wurde. Vergangenes Jahr schockierte ein CDU-Politiker, der eine ambitionierte Nachwuchskraft seines Ortsverbands skandalöserweise als „süße Maus“ bezeichnet hatte. Da war sie wieder, die Rape Culture. Kein Anlass nichtig genug, um auf einen Zug aufzuspringen, der sich medial hypen lässt. Alles Bärendienste für die Schwestern, die in echter Not nicht mehr ernst genommen werden angesichts der Banalitäten, die gleichzeitig mit durchs Dorf getrieben werden.
Wehe, man verlangt eine Wertung nach Schwere des Vergehens oder wirft die Frage auf, ob das vermeintliche Opfer überhaupt eines ist oder nur eine Wichtigtuerin mit dünnem Fell. Oder eine mit Karriere-Ambitionen oder auch nur mit miesem Vernichtungswillen. Soll es ja geben. Auch unter Frauen. Dir hat einer hinterhergepfiffen, um deine Aufmerksamkeit zu erreichen? Dir hat jemand ein Kompliment gemacht, das du gar nicht hören wolltest? Ja, echt schlimm. Armes Hascherl. Reicht mein Gefühl oder die Tageslaune als Frau aus, um einen Mann schuldig zu sprechen? Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli exerzierte gerade vor, wie weiblicher Opferkult funktioniert. Sie sei „unter Schock“. Ein Herr auf dem Podium einer Veranstaltung, bei der sie zu spät kam, hat sie erst nicht erkannt und sich dann überrascht gezeigt, dass sie so jung und schön sei. Klarer Fall: Hängt ihn! Ist ja mindestens
genauso schlimm wie ein Harvey Weinstein, der Schauspielerinnen zum Oralverkehr gezwungen hat. Mindestens. Für jedes männliche Fehlverhalten ein Fachbegriff.
Die Schönheit einer Frau wahrgenommen, statt ihres ohne Zweifel existenten, brillanten Intellekts: Hashtag Lookism. Einer Frau sagen, sie soll mal runterkommen, weil gar nichts passiert ist: Hashtag Victimblaming. Und selbst für das breitbeinige männliche Sitzen in U-Bahnen hat die Empörungsindustrie schon eines beherzten „Rutsch mal rüber, Idiot“ lieber eine weinerliche Internetkampagne. Wann haben Frauen eigentlich das Sprechen verlernt? Es sind diese Skandalisierungen eines großen Nichts, es sind diese hysterischen Überempfindlichkeiten meiner Geschlechtsgenossinnen, die es so schwer machen, sich zu solidarisieren. Es sind auch die nicht zugelassenen Einwände, die ein ernsthaftes Vorankommen der Debatte behindern. Fragen, die auch Frauen sich stellen lassen müssen. In der Causa Weinstein wiederholt sich die Formulierung, es sei seit vielen Jahren ein „offenes Geheimnis“ in Hollywood gewesen. Ein Widerling, der seine Position ausnutzt. Kollegen, die es wissen. Mitarbeiter, Regisseure, Politikerinnen, Schauspielkolleginnen, Bosse, die es wussten. Helfershelfer, die ihn getragen haben. Seinen Einfluss und sein Geld gern genutzt haben und dafür beide Augen zudrückten. Deal. Für die Karriere. Frauen und Männer.
Mich persönlich widern diese genauso sehr an, die tatenlos zugeschaut haben und jetzt medienwirksam wie Unfallgaffer auf der Anklagebank drängeln. Wie oft verkaufen wir uns als Frauen, prostituieren wir uns und zwar freiwillig und opportunistisch, weil es uns anderweitig nutzt. Wir nehmen es in Kauf. Jahre später zu sagen „Ich auch“ ist zu wenig.
Und dann fallen dieser Tage noch andere Hashtags und Internetkampagnen auf. Diejenigen, die nicht existent sind. Eine neue Dimension des Schweigens hat sich breitgemacht, wenn es um Opfer geht, die niemand sehen will, und um Täter, die nicht ins erwartete Bild passen. Wo ist der Hashtag für die zwangsverheirateten Mädchen mitten in Deutschland, wo der Hashtag für die Frauen, ermordet „im Namen der Ehre“? Welchen Hashtag gibt es für die sexuellen Übergriffe auf Kinder in unseren Schwimmbädern? Wo
ist der Hashtag für die verweigerten Handschläge für Lehrerinnen durch ach so integrierte Muslime? Wo ist der Hashtag für die Kinderehen, wo sich Pädophile über junge Mädchen hermachen dürfen? Wo sind sie, all die Hashtags für den alltäglichen Sexismus gegenüber Müttern und Hausfrauen, die sich ungestraft auch aus Politikermund als „Heimchen am Herd“ bezeichnen lassen müssen, ohne dass es jemanden aufregt? Welchen Hashtag haben wir für die begrapschten Frauen auf der Kölner Domplatte und den
Festivals in ganz Europa? Oder ist es wirklich alles, dass wir uns von einem selbst ernannten „Feministen“ wie Augstein sagen lassen dürfen, wir sollen uns mal wegen so ein paar Grapschern nicht so anstellen? Würden wir das auch den Opfern von Weinstein sagen? Niemals. Wer blöde Komplimente bereits zum Sexismus hochstilisiert, muss sich auch die Frage gefallen lassen, wo denn die Solidarität mit denjenigen Frauen ist, die täglich Sexismus, Beleidigungen, Nötigungen oder gar körperlichen Übergriffen ausgesetzt sind, die nicht aus der hetero-weißen Klischee-Ecke stammen. Warum sind gerade Feministinnen im Moment bereit, hier bis zur Selbstverleugnung der eigenen Idee beide Augen zuzudrücken, aber gleichzeitig vorne dabei, jeden falschen Blick und jedes falsche Wort eines weißen alten Sacks öffentlich lauthals zu beweinen? Diese Kultur des Wegsehens schafft gerade neue Opfer. Vor einem Jahr wurde der Fall von Selin Gören bekannt, Sprecherin der Linksjugend Solid. Sie hatte ihre Vergewaltigung durch drei Männer von offensichtlich arabischer Herkunft bei der Polizei zunächst als Raub durch Männer, die Deutsch sprachen, angezeigt. Falsche Angaben zu Tat und Herkunft der Täter, um – wie sie selbst sagt – Flüchtlinge nicht in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. Also um das Täterprofil „nicht weiß“, „nicht deutsch“ und „sexuell übergriffig“ zu verschleiern. Sie musste erst von ihrem Freund – einem
Mann – überzeugt werden, die Wahrheit bei der Polizei zu sagen, damit nicht weitere Frauen im Viertel zum Opfer werden und die Polizei mit richtiger Täterbeschreibung suchen kann. Eine junge Frau, die ihren Schmerz für eine politische Illusion opferte, die nicht infrage gestellt werden darf. Das ist echte Tragik. Wo ist der Hashtag für die weiblichen Opfer eines Zeitgeistes, der lieber Taten verschweigt und sich wegduckt, um das Mantra einer weltoffenen Gesellschaft nicht zu gefährden, die längst neue Opfer schafft?
Egal, ob es um gläserne Decken in Dax-Vorständen, Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen oder die Aufteilung von Hausarbeit geht. Immer, wirklich immer wird den strukturellen und kulturell geprägten, patriarchalen Strukturen die Schuld zugewiesen. Das System ist wie immer schuld. Die Erbschuld des weißen Mannes.

Struktureller Sexismus, Rape Culture eben. Das heteronormative System aus Tradition, Religion und Kultur, das den Mann stützt und die Frau unterdrückt. Nur wenn die Täter aus fremden Kulturkreisen oder gar aus islamischen Gesellschaften stammen, ist der Hinweis auf deren kulturellen Hintergrund und die systematische Unterdrückung von Frauen in diesen Gesellschaften nicht mehr Grund für einen Skandal, sondern angeblicher Rassismus. Dann wird peinlich berührt weggeschaut. Und geschwiegen. Derselbe Maßstab, der die katholische Kirche in Deutschland zum Frauenfeind stilisiert, verschließt die Augen selbst vor offensichtlicher Entrechtung im Namen anderer Religionen. Auch eine Staatssekretärin Chebli störte sich bislang nicht an der Entrechtung der Frau, die im Namen ihrer eigenen Religion an Geschlechtsgenossinnen täglich in Deutschland kultiviert und sogar offen gelehrt wird. Im Gegenteil, sie verteidigte gar öffentlich die Scharia. Wenn ihr aber ein Mann öffentlich ein Kompliment macht, ist sie „unter Schock“, und wer diese Diskrepanz bemängelt, ein Rassist.
Der Backlash der Frauenrechte droht nicht vom weißen, deutschen Mann, den wir längst zum Taschenträger der Emanzipation degradiert haben, und auch nicht durch die renitente schwäbische Hausfrau, die ihre Kinder immer noch partout selbst betreuen will und sich standhaft weigert, ihren peniblen Haushalt partnerschaftlich modern mit ihrem Gatten zu teilen. Der Rückfall in mittelalterliche Vorstellungen von Frauenrechten droht durch das bewusste Verschließen der Augen vor den Realitäten einer Zuwanderungsgesellschaft, die nicht bereit ist, ihre Errungenschaften zu verteidigen. Mehr noch, die inakzeptables Verhalten gegenüber Frauen zur „kulturellen Vielfalt“ verniedlicht. Die übergriffige Widerlinge zu „Antänzern“ macht. Willkommen zum Tanz der Kulturen. Oh ja, in diesem Land existiert struktureller Sexismus. Er wächst und gedeiht in Parallelgesellschaften. Wie schön, dass wir so viel Verständnis haben.   Birgit Kelle

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