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Freitag, 5. November 2021

Charles Taylor wird 90

 Taylors wichtigster akademischer Lehrer war Isaiah Berlin in Oxford. Dessen differenziert liberaler Freiheitsbegriff und die ideengeschichtlichen Perspektiven des großen Skeptikers prägten ihn. Doch gewann er dem ganz neue Facetten ab.

Am akademischen Anfang steht die Auseinandersetzung mit dem seinerzeit dominierenden Behaviorismus. Die Dissertation war dem Thema „Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen“ gewidmet. Taylor zeigt gegenüber den behavioristischen Dogmata von Reiz und Reaktion, dass eine auf innere Absichten und teleologische Aspekte erweiterte Perspektive für das Verständnis des Menschen unumgänglich ist. Taylor griff deshalb auf kontintentale Muster zurück, unter anderem auf Husserl und Merleau-Ponty. Sein Grundansatz berührt sich mit der von Robert Spaemann wiedergewonnenen „Frage Wozu?“

Taylor trat schon früh mit einer Sammlung seiner Einzelstudien hervor, die bereits in den frühen Jahren zwischen 1971 und 1981 ein eindrucksvoll breites Themenspektrum zeigen: gemäß Taylors Konzept einer Vermessung der moralischen Landkarte spielen schon in seiner frühen Professorenzeit Sprachphilosophie, Politische Philosophie und Sozialtheorie neben Anthropologie und Ethik eine wesentliche Rolle.

Weltweite Bekanntheit erlangte Taylor im Zusammenhang mit der Kommunitarismus-Debatte. Eine gerechte Gesellschaft ist – darin konvergieren die verschiedenen kommunitaristischen Ansätze – weder im abstrakten, bindungslos atomistischen Subjekt, noch in einem Kollektivismus zu gewinnen, sondern in Gemeinschaftsformen diesseits von Staat und ökonomisierter Gesellschaft als System der Bedürfnisse. Auch und gerade in den Strudeln der Moderne bleibt die Suche nach einer unentfremdeten Identität für den Einzelnen und die Öffentlichkeit wesentlich.

Die bedeutendsten Vertreter des Kommunitarismus, Taylor und der jüdische Philosoph Michael Walzer, standen der Etikettierung sehr unterschiedlicher Ansätze als „communitarian“ indes sehr kritisch gegenüber. Dennoch gehören Taylors Arbeiten in den philosophisch anspruchsvollen Kern der Kommunitarismus-Diskussion. In „Negative Freiheit“ zeigt er, dass kantisch inspirierte Universalismen nicht ausreichend sind, um eine tatsächlich freie Gesellschaft zu fundieren. Menschliches Handeln und Leben muss vielmehr in Kontexten und in Bindung an höchste und letzte Güter verstanden werden. Mit einem anderen Buchtitel Taylors gesprochen besteht das „Unbehagen der Moderne“ darin, dass die abstrakte Selbstverwirklichung zu moralischer Indifferenz führt. Ein atomistischer Individualismus ist indes keineswegs harmlos oder gar unschuldig. Er erodiert die Frage nach der Moral und zerstört Intersubjektivität.

 

"Kein Losungswort ist seit dem Jahre 1500 so viel mißbraucht worden wie das Wort „Freiheit“: in der Zeit der Reformation, der Französischen Revolution, des Liberalismus Europas und Amerikas, in den Schlagzeilen der Sowjetzone. Es gab dem natürlichen Bedürfnis des Menschen Ausdruck, in seiner Existenz als Individuum zu tun, was ihm gefällt. Es war das Schlagwort des Kampfes von Individuen gegen eine bindende, einengende Gruppe, gegen eine Familie, einen Stand oder im Kampf einer sozialen Schicht gegen eine zwingende höhere Gemeinschaft. Aber es wurde seltener deutlich – wohl allerdings bei Kant, Fichte, Chamberlain, Jaspers -, daß es keine absolute Freiheit gibt, sondern nur ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Bindung.

Für das Leben eines Individuums ist die Freiheit der Bewegung ebenso notwendig wie die Bindung an ein Elternhaus. Die Freiheit der persönlichen Schöpfung im Denken, Fühlen und Gestalten ist ebenso wichtig wie die Bindung dieser Vorgänge an eine Gemeinschaft, die mitwirkt und durch ihren Widerhall mitgestaltet.

Von diesem Gleichgewicht, von dieser lebensnotwendigen Polarität müssen wir ausgehen, der Polarität zwischen Bewegungsfreiheit und Ortsgebundenheit, Denkfreiheit und Denkausrichtung durch die Gemeinschaft, zwischen Individuum und Genossenschaft, zwischen schöpferischer Freiheit des Gestaltens und den Formen der Tradition, zwischen der Willkür des Handelns der Individuen oder der Gruppen und dem Widerhall, dem Miterleben durch die höhere Gemeinschaft. Die Existenz des Menschen umfaßt beide Pole; sein Leben entzündet sich durch die Energien, die von dem einen Pol zum anderen strömen: Freiheit und Gebundenheit.“ – Gottwalt Christian Hirsch (1965)

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