Kleiner Kulturspiegel
Die Zeitalter wechseln langsam,
Tosca (1902) ist immer noch die Leidenschaft.
Boheme (1900) die Liebe,
selbst aus dem Schluß der Götterdämmerung (1876)
stürzen immer noch unsere Scheite.
Einiges blieb schemenhaft:
Iphigenie, V. Akt
(bei der Premiere 1779 spielte Goethe den Orest):
Thoas' Verzicht und Humanitas
hat sich politisch
nicht durchgesetzt.
Die Iden des März stehn in Zwielicht:
wenn eine neue Regierungsform hochwill,
muß die alte weichen.
Über Leonidas wird heute die Mehrzahl lachen
(ich persönlich allerdings nicht).
Ein Friseur, der wirklich gut rasiert,
(äußerst selten!)
ist bemerkenswerter als ein Hofprediger
(ich verkenne das Tragische
und das Schuldproblem nicht).
Und sprechen Sie viel von der Lebensangst
zum Frühstück etwas Midgardschlange,
abends Okeanos, das Unbegrenzte,
nachts die Geworfenheit – dann schläft es sich gut ein –
Verteidigen will sich das Abendland nicht mehr –
Angst will es haben, geworfen will es sein.
Und nun die neue Nationalhymne!
Der Text ganz ansprechend, vielleicht etwas marklos,
der nächste Schritt wäre dann
ein Kaninchenfell als Reichsflagge.
Ein Schlager von Rang ist mehr 1950
als fünfhundert Seiten Kulturkrise.
Im Kino, wo man Hut und Mantel
mitnehmen kann,
ist mehr Feuerwasser als auf dem Kothurn
und ohne die lästige Pause.
(Das Quartär war der nach innen
gewendete Mensch,
jetzt kommt der triploide)
sechsundsechzig Chromosomen, Riesenwuchs –,
Persönlich unfruchtbar,
aber es wird schon werden.
Gottfried Benn
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