Stationen

Sonntag, 6. November 2016

Der Preis

Wie schnellebig das politische Geschäft doch ist. Vor kurzem noch diskutierten die Genossen tief zerknirscht über die Sinnhaftigkeit einer eigenen Kanzlerkandidatur. Weil sich die Herren Scholz (Hamburg), Schulz (Europa) und Steinmeier (Außenamt) zu fein waren für das politische Himmelfahrtskommando, wurde Sigmar Gabriel in diese Rolle geschoben.

Als Notlösung. Doch siehe da: Spätestens seit den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin ist belegt, daß die SPD auch als Stimmenverlierer letztlich obsiegen kann. Dazu muß sie nicht länger Volkspartei sein. Es genügt, sich als stärkste Kraft in einem Bündnis zu behaupten, das zusammen die Mehrheit der Abgeordneten stellt. Ein Mandat plus genügt, wie wir spätestens seit Adenauer wissen. Die Partner kann sich die SPD sogar aussuchen. CDU, Grüne, Linkspartei und FDP stehen jeweils bereit, einen Sozialdemokraten zum Regierungschef zu wählen.
Derweil zieht „Flüchtlingskanzlerin“ Merkel ihre Union ins 30-Prozent-Tief. Solange CDU und CSU ein Bündnis mit der neuen Rechtspartei AfD hochnäsig ablehnen und die FDP um die Fünf-Prozent-Hürde herumkrebst, fehlen ihr realistische Machtalternativen. Allein schon, weil die sich abzeichnenden Erfolge der AfD vornehmlich auf Kosten der CDU-Kandidaten gehen. 60 bis 80 Direktmandate könnten der Union so verlorengehen – und damit die Mehrheit von mindestens 301 Mandaten im Bundestag kosten.

Die realistische Aussicht, Angela Merkel zu beerben, läßt Gabriel eifrig nach links blinken. Stichworte sind hier: die Ablehnung des Freihandelsabkommens TTIP und damit verbunden eine unverblümte Amerika-Kritik bei gleichzeitigem Verständnis für Putin sowie allerhand „Sozialpakete“, um sich als Partei der Gerechtigkeit zu profilieren. Daß sich der SPD-Vorsitzende kürzlich dann zu den 90 Abgeordneten von SPD, Linken und Grünen gesellte, die schon mal die Chancen für Rot-Rot-Grün ausloten, darf ebenfalls als Teil dieser Charmeoffensive gedeutet werden.

Sie ist zugleich der Türöffner ins Schloß Bellevue: Verschafft Gabriel dem populären Frank-Walter Steinmeier eine linke Mehrheit in der Bundesversammlung, wäre das Eis endgültig gebrochen. Stellt die SPD wieder den ersten Mann im Staate, hat dies auch Symbolkraft. So wie 1969 mit der Wahl von Gustav Heinemann der Schwenk von der Union zur sozial-liberalen Regierungskoalition unter Willy Brandt eingeleitet wurde.
Vordergründig rückt die SPD also tatsächlich nach links. Doch die Geschichte zeigt auch, daß die SPD in der Regierungsverantwortung schnell ideologischen Ballast abwirft und sich als pragmatische Staatspartei bewährt. Auch Gerhard Schröder durchlief den klassischen Weg von links unten (Juso-Vorsitzender) nach rechts oben (Genosse der Bosse). Die SPD-Kanzler Brandt (Ostpolitik) und Schmidt (Rüstung, Kernenergie, Sparkurs) waren als Reformer mutiger als Kohl oder Merkel. Schröder hat das Land mit seiner Agenda 2010, Steuersenkungen und Rente mit 67 modernisiert. Angela Merkel hat lediglich die sozialdemokratische Agenda abgearbeitet. Von der Frauenquote bis zum Mindestlohn.

Die SPD stellt neun der 16 Ministerpräsidenten und ist an weiteren vier Landesregierungen beteiligt. Sie stellt so viele Oberbürgermeister (105) wie CDU (89) und CSU (17) zusammen. Nur leider überlassen diese Realpolitiker leichtfertig denen das Wort, die die eigenen Reformleistungen in Mißkredit bringen. Damit verkauft sich die Partei unter Wert. So wie in Baden-Württemberg, wo die Genossen offenbar glauben, die Bürger im konservativen Südwesten wollten einen Verdi-Staat, den die neue Landesvorsitzende Leni Breymaier repräsentiert.
Nun ist Sigmar Gabriel keiner, dem wie Schröder die (weiblichen) Herzen zufliegen. Doch mit dem klaren Eintreten für das Ceta-Abkommen mit Kanada hat der Sprunghafte erstmals Rückgrat bewiesen. Als r2g-Kanzler, wie eine rot-rot-grüne Koalition neudeutsch bereits genannt wird, ist ihm durchaus mehr marktwirtschaftliche Standfestigkeit zuzutrauen. Denn dann muß sich die SPD nicht mehr als soziales Gewissen in einer ungeliebten Koalition mit den Schwarzen beweisen.
Sie muß sich als Gestalter einer Exportnation, deren Wohlstand im globalen Wettbewerb erarbeitet werden muß, profilieren. Dafür hat der Wirtschaftsminister weit mehr Verständnis als eine von den Befindlichkeiten des Volkes entrückte Angela Merkel. Bei seinen Auftritten in China übt Gabriel die Rolle des taffen Lobbyisten schon mal.
Es erscheint kurios, daß wer national-konservativ, also AfD wählt, eine linke Regierung bekommt. Das werden bittere Jahre mit höheren Steuern und Staatsausgaben sowie noch mehr Flüchtlingen und einer Politik der Intoleranz gegen alles, was als „rechts“ diffamiert werden kann. Doch dies ist der Preis, um die Linksverschiebung der Merkel-CDU zu korrigieren.
Erst der Verlust der Macht in Berlin befreit die Union von der ostdeutschen Pastorentochter, die für viele falsche Weichenstellungen verantwortlich ist: für eine überstürzte und verkorkste Energiewende, die außer hohen Kosten und einer Verschandelung der Landschaft nichts gebracht hat; für eine naive Euro-Griechenland-Rettungspolitik auf Kosten der deutschen Sparer und Steuerzahler; und für eine aus dem Ruder gelaufene Politik der offenen Grenzen, deren langfristige Folgen heute noch gar nicht absehbar sind.
Viele in der CDU wissen das. Doch ihnen fehlt der Mut zur Rebellion. Der kommt erst im Tal der Opposition.  

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