Das Mittelalter ist zurück, nicht nur in Kabul. Auch wir sind alle fundamentalistisch und abergläubisch. Die Digitalisierung bringt Tendenzen zurück, die wir längst überwunden glaubten. Warum das nur hochmütige Einbildung war und wer die neuen Geißler und Ketzerverbrenner sind...
Kehrt das Mittelalter zurück? Die Bilder triumphierender Talibankämpfer in Kabul, wenige Wochen später fast schon wieder verdrängt, haben diese Frage aktueller denn je gemacht.
Wenn grundlegende Menschenrechte, vor allem die von Frauen, es mit der Attraktivität und Vitalität eines blutigen Fundamentalismus nicht mehr aufnehmen können, dann biegt sich der lieb gewordene Zeitpfeil des Fortschritts rückwärts. Und die Mutmaßung, dass trotz der Aufklärung, der Technisierung und der Verrechtlichung unserer Lebensverhältnisse keine lichte Zukunft auf uns warten könnte, bekommt reichlich Futter.
Die Covid-Pandemie hat weltweit so manche Gewissheit über Sicherheit, Individualrechte und medizinischen Fortschritt erschüttert. Erinnern nicht Menschen, die im Freien unter Masken gegen die Mikroben anschnaufen, trotz allen Impfens und aller Medikamente an hilflose Pestärzte von 1348, die duftende Kräuter in ihre Pappschnäbel stopften? Auf die Herausforderung, kollektive Disziplin mit persönlicher Freiheit in Einklang zu bringen, antwortet die digitale Herrschaft als eher unzarte Versuchung, auch bei Menschen aus Nationen mit liberalem Selbstbewusstsein.
Das gar nicht so libertäre Internet, das in ungebrochenen Technologiegesellschaften wie China von Anfang an zur Durchleuchtung und Steuerung missliebiger Einzelner genutzt wurde, offenbart nun auch bei uns allerhand Potenzial zum Abwickeln der Aufklärung.
In Deutschland hatte Frank Schirrmacher vor Jahren schon vor dieser ungemütlichen Hordenbildung via Smartphone gewarnt. Ein Individuum, das unbegrenzten Zugang zu Information und Spaß in der Jackentasche hat, mutiert gleichzeitig zu einem digitalen Lehnsmann, der keinen unkontrollierten Schritt mehr tun kann.
Von Amerika aus zieht seit Beginn der Pandemie der frühere Google-Entwickler Tristan Harris durch die Welt und Netzwerke, mit einem Mahnruf, der da lautet: „Wir sind auf dem direkten Weg ins digitale Mittelalter.“
Harris meint damit nicht so sehr die Beliebtheit von Ritter- und Kreuzfahrerspielen, von digitalen Schwertkämpfen und der Wiederkehr von Drachen und Elfen in allen möglichen Varianten von „Game of Thrones“. Sein neues Mittelalter zeichnet sich aus durch die mentale Rückverwandlung heutiger Smartphonenutzer in impulsive Abhängige höherer Mächte. Nicht nur durch archaische Kulte wie einen Islam nach den Regeln des Frühmittelalters, sondern mehr noch durch hirnerweichende Ablenkung und eine Wahrnehmung in Assoziationsketten würde die Menschheit des Internets zum Daueropfer von Hassrede, Verschwörungstheorien und Erlösungsglaube.
Das Leben in einer kochenden Gerüchteküche erinnert in der Tat an die dörfliche Isolation mittelalterlicher Bauern, die außer Legenden, Hörensagen und Magie keine vernünftige Deutung ihrer Wirklichkeit erlangen konnten. Heute hievt die Aufmerksamkeitsökonomie des Internets vermeintliche Widersacher auf dieselbe diabolische Ebene: Sowohl die Verschwörungsblase von staatsfernen Impfgegnern als auch der Machtrausch unkontrollierbarer Herrschender gehorchen einem Panikmodus jenseits pragmatischer Lösungsansätze. Und der politische Diskurs wird immer schriller.
Mit dem Darkroom Internet, wo in Milliarden Ohren Drohungen, Gerüchte, Ängste und Apokalypsen widerhallen, gewinnen – so Harris – allerorten die Extremismen. Eine abgewogene, sich stetig korrigierende Kompromisskultur wird unmöglich, weil sich die Individuen keiner vernunftbasierten Machtbalance mehr fügen. Bilder und Mythen erweisen sich als mächtiger denn Argumente.
Ist also die skeptische Soziologenzeit von Max Weber, Karl Popper und Niklas Luhmann abgelaufen? Obsiegen Thomas von Aquin und der Hexenhammer, in neuer Rüstung aus Silikon, über Bürgerrechte und Verfassungen?
Für Tristan Harris ist die Gefahr kollabierender Demokratien höchst gegenwärtig – eine Vision, die atomar hochgerüsteten Autoritärsystemen wie dem chinesischen oder persischen gewiss keinerlei Ängste einflößen. Doch liegt die Pointe des digitalen Neomittelalters gerade darin, dass auch wir Europäer diese dunkle Zukunftsvision nicht mehr in abgelegene Weltgegenden projizieren können.
Wenn Influencer Millionen von Followern ihre Konsumgewohnheiten, aber auch ihre Weltsicht und ihren Glauben einprägen, dann sind dies veritable Vorstufen von Feudalismus. Und wenn die Obrigkeit alle Bürger über Satelliten verfolgen kann, dann wirkt das gar nicht zufällig wie eine Form von Leibeigenschaft.
So organisiert ausgerechnet das grenzenlose, fluide, offene Globalnetz die Welt als geschlossenes Dualsystem, wie der Computer selbst seine Wirklichkeit aus dem Gegensatz von Null und Eins konstruiert. Ein Mystiker des 14. Jahrhunderts, der das Weltgeschehen zwischen Gott und Teufel sauber einteilte, könnte sich in diesem Schwarz-Weiß-Denken wiederfinden.
Gut möglich also, dass auch Junkies von Instagram und WhatsApp bald nicht minder simpel denken als chiliastische Propheten von IS und Taliban, welche die Zukunft zum Endkampf zwischen ihrem gewalttätigen Islam und einem dekadent-laizistischen Westen stilisieren.
Deutliche Anklänge eines erneuerten Radikalismus durchziehen seit Jahren auch unsere politischen Debatten, die einst von gegenseitigem Grundrespekt geprägt waren. Heute lehnen isoliert denkende Anarchos die Impfpolitik der Regierung als Todesspritze ab und unterstellen der Kanzlerin nach sehr mittelalterlichem Antisemitismusmuster, sie trinke das Blut kleiner Kinder.
Umgekehrt rufen gewaltaffine Staatsverherrlicher lauthals dazu auf, „Coronaleugner“ in Lager zu sperren, genau wie sie zuvor schon jede Spielart von Regierungskritik als rechte, besser noch neonazistische Abweichung gebrandmarkt hatten. Wer freche Fragen stellt, ist in solcher Perspektive nichts als ein Ketzer. Solches hasserfüllte Dauergeschrei tönt durchs Silicon Valley nicht leiser als durch den Hindukusch. Und rechts- wie linksextreme Postionen gleichen sich in verzückter Theologie einander an.
Es waren die wissenschaftlichen Experten fürs Mittelalter, die schon vor Jahren mit skeptischer Distanz auf die Langlebigkeit feudaler und gewalttätiger Organisation des Sozialen hingewiesen hatten. Johannes Fried, einer der produktivsten deutschen Mediävisten, ironisierte in seiner Schrift von der „Aktualität des Mittelalters“ die „Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft“. Wer bestens untermauerte Studien von Kurt Flasch oder der französischen Historikerschule gelesen hatte, war von der wohligen Projektion eines „finsteren Mittelalters“ im Widerspruch zu einer erleuchteten Gegenwart ohnehin nicht mehr überzeugt. In den Werken der besten Historiker zur Mentalität der Angst und der Macht der Bilder zeichnete sich ab, was wir heute wieder erleben: eine hartnäckige Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.
Bereits im europäischen Mittelalter, wenn es sich auch durch ein stabiles Fundamentalchristentum auszeichnete, gab es stetigen Widerstreit von Logik und Irrationalismus, Freiheit und Kontrolle. Theologenschulen stritten um den Primat der Vernunft trotz abweichender Wunder der biblischen Offenbarung. Und während der Fernhandel über Ozeane und Kontinente hinweg Wissen und Güter austauschte, arbeiteten auf gotischen Baustellen und in Laboren des 14.Jahrhunderts kluge Köpfe an funktionaleren Lösungen für Medizin, Landbau, Architektur. Dieses widersprüchliche und kreative Mittelalter konnte – mit dem Schlagwort von Barbara Tuchman – als „ferner Spiegel“ unserer selbstverliebten Gegenwart dienen.
Mit dem historischen Unterfutter etwa eines Jacques Le Goff, der so gut wie alle – also auch die rationalen und technologischen – Fortschritte Europas bereits ins Mittelalter vorverorten konnte, blickt man erheblich skeptischer auf aktuelle Pläne zur moralischen Weltenrettung. So weist auch das woke Vollwaschprogramm zur politisch korrekten und genderneutralen Sprachreinigung ins Mittelalter. Vor über 700 Jahren standen sich an den Universitäten von Oxford, an der Sorbonne und in Bologna Philosophen gegenüber, die einen ganz ähnlichen Krieg der Wörter kämpften. Die Grundfrage war damals, ob die ausgesprochenen oder niedergeschriebenen Begriffe die Wirklichkeit der Welt unerschütterlich spiegelten – das behaupteten die Universalisten. Oder ob Sprache nur ein pragmatisches System ist, auf das man sich geeinigt habe – das sagten die Nominalisten.
Die heutigen Verfechter einer gereinigten Sprache und des moralischen Bildersturms gehören zum inquisitorischen Lager der Universalisten: Werden tabuisierte Begriffe nicht ausgesprochen, wird die Erinnerung an vermeintliche Ketzer gelöscht, dann ist das Böse aus der Welt verbannt – sogar rückwirkend. Mit diesem primitiven Glauben geraten ganze Farben – allen voran die schwarze – unter theologische Observanz. Wer sich den Sprach- und Denkregeln der neuen Scholastiker nicht fügt, verfällt ihrem Kirchenbann.
Dass sich gegen dieses primitive Denken im 14. Jahrhundert die vernunftbasierten Nominalisten durchsetzen konnten, spricht für die Kraft kämpferischer Aufklärung im Mittelalter. Ob sie heute noch einmal obsiegen kann, ist ungewiss. Zumal die ökologische Apokalypse nahtlos an die theologische anknüpft: Wir sollen in erneuerter Unschuld geboren werden, damit wir die Welt vor uns selbst retten. Solche Diskurse des Weltuntergangs haben schon vor Hunderten von Jahren Pogrome und Geißlerzüge hervorgebracht, aber keine kühle Problemlösung.
Und nicht nur die Inhalte des neuen Chiliasmus passen zu alten Mustern, es sind die Denkstrukturen, welche die lange Überlebensdauer des Archaischen beweisen: Mit Sprech- und Denkverboten, mit einem Boom der Hassrede in anonymen Echokammern, mit magischen Formeln zur Lösung überkomplexer Probleme, mit einem Herumerzählen der dümmsten Gerüchte und Märchen nach Art einer „stillen Post“, mit Erzählmustern globaler Erfolgsepen, die über den Artusroman nicht hinauskommen, haben wir bereits allerhand Ingredienzien für unser neues Mittelalter beisammen.
Abgeschmeckt wird dies Gebräu mit einem globalen Kapitalismus, der wie eine Weltkirche seine großen Vermögen auch in Wirtschaftskrisen mehrt und sich über lästige Staatsgrenzen hinweg gegen Steuern, Verantwortung und Teilen abschottet. Nicht nur in China, auch mitten im demokratischen Europa entsteht so eine feudale Klasse, die sich wie ihre historischen Vorgänger mit Verherrlichung, Charity und Kritikverbot gegen aufmüpfige Schichten immunisiert – beklatscht von willigen Hofnarren im Netz.
Genau solche selbstorganisierten Prozesse im Macht- und Medienbetrieb zeugen – nicht anders als die Schlagkraft orientalischer Fundamentalisten oder chinesischer Etatisten – von der Dynamik eines neuen Mittelalters. Und was wir für den fernen Spiegel vernunftloser Vorzeit hielten, ist ein Display in unserer Hand. Dirk Schümer
Roberto Vacca - The Coming Dark Age
Meine einzige Genugtuung: Ich habe recht behalten. Denn all dies habe ich bereits 1973 vorhergesehen, als ich mich zum ersten Mal mit dem Phänomen der damals so genannten Telematik befasste.
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