Wenn eine gerade eröffnete Ausstellung im Frankfurter Liebieghaus kryptisch „Mission Rimini“ heißt, könnten sich beim Hörer zwei Gedanken einstellen: Zum einen der einer „Mission Impossible“, die sich letztlich dank schier übermenschlicher Anstrengungen doch meistern lässt. Zum anderen kann sich durch den klangvoll italienischen Stadtnamen Urlaubssehnsucht einstellen, selbst wenn es sich „nur“ um den berüchtigten Teutonengrill handelt.
Die erste Assoziation ist zutreffender, handelt es sich doch dem Untertitel der Schau zufolge um „Material, Geschichte und Restaurierung des Rimini-Altars“ von 1430. Über vier Jahre hinweg wurde er mit erheblichen Kosten aus einem sehr unansehnlichen Gipsstaubgrau zunächst durch Lasereinsatz in ein Figurenensemble mit Gilbschleier und anschließend durch eine neu entwickelte Reinigungsmethode mit gipsgebundenen Agar-Kompressen in fast das ursprüngliche Alabasterweiß verwandelt. Zweifel an der Höhe der Investition verpuffen, sobald man im Liebieghaus in dem eigens eingerichteten Saal mit der Restaurierungsgeschichte und dem raffiniert von unten und oben ausgeleuchteten Ensemble steht. Was man sieht, ist der einzig vollständig erhaltene Altar des Mittelalters aus purem Alabaster, einem schon damals kostbaren Material. Der Gründungsdirektor des Frankfurter Skulpturenmuseums, Georg Swarzenski, hatte die Kreuzigung Christi mit Assistenzfiguren und je sechs zu beiden Seiten postierten Aposteln 1913 von dem italienischen Kunsthändler Sangiorgi für die sagenhafte Summe von vierhunderttausend Goldfrancs erworben. Mit auf heutige Kaufkraft umgerechnet nahezu zwei Millionen Euro ist es der teuerste Ankauf des Frankfurter Hauses.
Falsch ist aber auch die Italien-Assoziation nicht, denn tatsächlich stammt der Altar aus der atmosphärischen Wallfahrtskirche Santa Maria delle Grazie in Rimini-Covignano, von wo er im Jahr 1910 von den die Kirche betreuenden Franziskanern an den Händler veräußert wurde. Da aber Restaurierungen im Liebieghaus immer mit intensiver historischer Forschung einhergehen, kann nun die eigentliche Herkunft des Großaltars gleich in zwei Richtungen, eine lokale und eine internationale, präzisiert werden: Der Auftrag für einen solch sündteuren Luxusaltar wäre für eine kleine Wallfahrtskirche kaum denkbar, zumal er dort vor seinem Verkauf nur notdürftig in einem Barockaltar eingefrickelt im nördlichen Seitenchor dahinvegetierte, also 1430 kaum der Hauptaltar war.
Die These des Liebieghaus-Kurators Stefan Roller, der Altar sei eine Stiftung des mächtigen Herrschergeschlechts der Malatesta für „ihren“ Dom in Rimini gewesen und bei Teilabriss desselben für den Renaissanceneubau des Tempio Malatestiano von Leon Battista Alberti als mittelalterlicher Stilstörenfried in die Wallfahrtskirche entsorgt worden, besitzt große Plausibilität, zumal die Kathedralkirche von Rimini das Patrozinium San Francesco hat und somit ebenfalls von Franziskanern betreut wurde, das heißt, der Altar von einer ihrer Kirchen einfach in eine andere transloziert worden wäre. Noch fesselnder ist allerdings die ursprüngliche Herkunft, denn auch wenn heute stilistisch den Frankfurter Figuren eng verwandte Kunstwerke in Barcelona, Berlin, London, Los Angeles, München, New York, Paris und Warschau ebenfalls dem „Rimini-Meister“ zugeschrieben werden, müsste er doch eigentlich „Brügge-Meister“ genannt werden.
Der Bildhauer dieser teils papierdünnen Falten und Meisterwerke expressiver Mimik stammt nämlich sehr wahrscheinlich aus dem Zentrum für Alabasterplastik in den damaligen südlichen Niederlanden. Völlig überraschend aber zeigte sich im Zuge der Restaurierung durch Isotopenanalyse der Pariser Rimini-Stücke, dass der verwendete Alabaster aus einem kleinen Steinbruch im mittelfränkischen Steigerwald stammt, aus Ickelheim, gleich dem ersten Dorf südlich der ehemals freien Reichsstadt (Bad) Windsheim. Wie um alles in der Welt aber gelangte ein Bildhauer in Brügge seinerzeit an den qualitätvollen Alabaster aus Ickelheim?
Auf demselben Handelsweg, auf dem noch bis ins achtzehnte Jahrhundert Unmengen an Holz für niederländische Bauten und Pfahlrostgründungen der Stadtpaläste aus dem waldreichen Steigerwald über Main und Rhein dorthin geflößt wurden – auch die holländische Handelsflotte bestand bekanntlich zu einem Großteil aus Spessarteichen, die denselben Weg wie das Bauholz nahmen. Und nur am Rande: Die siebzig Jahre nach dem Rimini-Altar entstandene berühmte „Maria der Verkündigung“ Tilman Riemenschneiders im Louvre ist mit ihren 53 Zentimetern Höhe ebenfalls geschnitzt aus einer Ickelheimer Alabasterknolle, die man heute noch in den dortigen Weinbergen in bis zu sechzig Zentimetern Größe findet. Als Nebenprodukt der restauratorischen Forschung des Liebieghauses stellt sich damit die alte Frage neu, ob Riemenschneider wirklich aus dem Harz stammt oder nicht doch viel naheliegender aus der Umgebung von Würzburg, seinem Wirkungsort über Jahrzehnte – er kennt den kleinen Steinbruch im Steigerwald einfach zu gut, um nicht Einheimischer zu sein. In jedem Fall aber demonstrieren Rimini-Altar und Riemenschneider, welche großen Mengen an Ickelheimer Alabaster in Brügge und andernorts verarbeitet wurden, zeigen doch allein neun Museen weltweit die überlebenden Werke des Rimini-Meisters.*
Und eine empfindsame Diva unter den Materialien ist Alabaster allemal: Hitze- und wasserempfindlich, taugt er nur für Innenbereiche, denn schon nach zehn Sekunden löst sich die Oberfläche dieser Gipsvariante („Calciumsulfat“) im Regen auf. Die Blüte der Alabasterskulpturen lag denn auch in der Spätgotik, da mit diesem marmorähnlichen Material, das aber anders als Marmor mit dem Fingernagel zu formen ist, die feinsten Details herausgearbeitet werden konnten. Das entsprach dem spätgotischen Hang zu Floralem oder den wie Wasserfälle übersprudelnden Faltenkaskaden – die Stoffwasserfälle des Frankfurter Judas Thaddäus etwa überlappen sich sage und schreibe achtmal, wobei die einzelnen Falten nur ein bis zwei Millimeter dick sind. Eine solche beifallheischende „Kunstkammerschaft“, durch die wie bei Apfelstrudelteig das Licht milchig durch den Stoff durchscheint, ist mit keinem anderen Steinmaterial zu erzielen.
Zudem gewinnen die Gesichtsoberflächen in Alabaster etwas hautähnlich Schimmerndes, und nichts war im „Weichen Stil“ des frühen fünfzehnten Jahrhundert bei hochrangigen Auftraggebern geschätzter als ein elfenbeinweißer Teint und das zarte Fließen der Formen. In dieser Entstehungszeit des Altars findet sich in Quellen auch des Öfteren die bemerkenswerte Gleichung „Alabastrum, id est corpus hominis“. Das bedeutet, dass der Werkstoff dem Körper und insbesondere der Haut des Menschen nicht nur ähnelt, sondern vielmehr mit ihm austauschbar ist. Wenn sich jetzt also wieder ohne Schmutzkruste zaghaft die blinden Augen des Lanzenstechers Longinus öffnen, Johannes unter dem Kreuz seinen zahnstocherdünnen Zeigefinger überlang auf die Brust legt oder die Tränen Marias rinnen, ist dies das Verdienst der heutigen Rimini-Meister, der Restauratoren. Stefan Trinks
*Obwohl seit über 2000 Jahen in Volterra Alabaster gebrochen und verarbeitet wird.
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