Regelmäßig sehen sich Konservative in Talkrunden mit der
Frage konfrontiert, was denn für sie eigentlich deutsch bzw. ein
Deutscher sei, vorgetragen meist im Duktus eines höheren Kindergärtners,
der es an der Zeit findet, über die Nichtexistenz des Weihnachtsmannes
aufzuklären. Zunächst ist die Antwort recht einfach: Deutsch ist – nein, falsch – ein Deutscher
ist, wer einen deutschen Pass besitzt. Ein Deutscher muss demzufolge
gar nicht deutsch sein. Menschen, die einen deutschen Pass besitzen,
können jeder beliebigen Ethnie angehören. Wenn umgekehrt zum Beispiel
Heribert P. aus München in den Sudan auswanderte, worüber viele traurig
wären, ganz besonders der Verfasser dieses Diariums, und dort brav die
Staatsbürgerschaft annähme, könnte er von sich behaupten, er sei
sudanesischer Staatsbürger. In gewissem Sinne könnte er sogar sagen, er
sei jetzt ein Sudanese, auch wenn das einiges Schmunzeln auslösen
dürfte. Aber nimmermehr, er sei sudanesisch. Dergleichen dauert
Generationen.
Wenn Achmed oder Mustafa sagen, sie seien Deutsche,
weil sie einen deutschen Pass besitzen, ist das rechtlich korrekt;
deutsch im Sinne eines Bündels von über Generationen tradierten und
vererbten Eigenschaften sind sie damit (noch) keineswegs geworden. Das
ist kein Werturteil, sondern eine Beschreibung; im umgekehrten Falle
wäre es nicht anders. Haben Achmed und Mustafa zugleich noch ihren
türkischen Pass, sind sie weder Deutsche noch deutsch, sondern etwas
Drittes – sofern sie nicht zu jener stattlichen Schar türkischer
Einwanderer oder Einwandererkinder gehören, die sich ohne Einschränkung
als Türken empfinden.
Unsere Bestmenschen würden jetzt einwenden,
dieses Dritte sei das Fundament für die Zukunft, es sei gut, dass
nationale Loyalitäten porös werden, und bald sei dies Thema nur noch ein
Spuk aus der Vergangenheit. Die Stichhaltigkeit dieser These würde sich
im Konfliktfall zeigen – ich halte es hier mit Carl Schmitt, dass nur
der Ernstfall in Betracht kommt, weil der Normalfall banal ist –, aber
der Definition, was deutsch ist, kommen wir mit solchen Erwägungen nicht
näher.
Die Frage danach wird in der Regel gestellt, um den
Gefragten lächerlich zu machen, weil er an so etwas Absurdes oder
Überholtes überhaupt glaubt. Deutschsein, deutsches Volk, deutsche
Nationalität, all das sind bloß Konstrukte, die zwar im Grundgesetz
auftauchen, aber auf den historischen Müll gehören, weil sie dem
Fortschritt in die multiethnische, "bunte" Gesellschaft im Wege stehen,
lautet die korrekte Antwort. Konsequenterweise müsse man die Völker und
ihre Nationalstaaten sukzessive auflösen. Die Unterschiede zwischen
ihnen seien ohnehin so groß nicht und kaum zu definieren.
Diese
Prämisse ist offenkundig falsch. Jeder weiß und sieht auf den ersten
Blick, dass es mit Händen zu greifende Unterschiede zwischen den
nationalen Großkollektiven gibt. Der Japaner unterscheidet sich vom
Tschechen, der Kolumbianer unterscheidet sich vom Nigerianer. Es sind
nicht nur genetische und ethnische Prägungen, die sie unterscheiden,
sondern auch kulturelle und religiöse; es sind Mentalitäten, es ist ihr
Habitus. Die Rasse, das Temperament, die Geschichte, die Traditionen,
die Religion, die Sitten, die Verbindlichkeiten, die Gruppenloyalitäten,
die Rolle der Frau, die Rechtsprechung, die Einstellung zur Wahrheit:
An solchen Existentialien machen sich zahlreiche Unterschiede fest. Wer
konfliktfrei von einer in eine andere Großgruppe wechseln will, muss
sich nach deren Kriterien richten.
Wir können überall in
Deutschland geborene Kinder und Jugendliche beobachten, die erkennbar
keiner europäischen Ethnie entstammen, sich aber in ihrem Habitus und
ihrer Sprache von ihren deutschen Mitschülern nicht unterscheiden. Wir
können aber ebenso solche hierzulande geborenen Kinder und Jugendliche
fremdethnischer Abstammung beobachten, deren Habitus sich nicht
angeglichen hat. Bei unkriegerischen Migrationsbewegungen passen sich
die Einwanderer üblicherweise dem Habitus der Aufnahmegesellschaft an
und verändern diesen gleichzeitig unmerklich. Vollziehen sich solche
Prozesse allmählich und gleichsam "in Tröpchen", ist alles gut.
Vollziehen sie sich zu schnell und in großen Wellen, können sie zu
blutigen Konflikten führen und Länder destabilisieren. Auch wenn das
einwandernde Kollektiv sich ostentativ von der Einheimischen abgrenzt,
deutlich abweichende Sitten pflegt und sich im Fortpflanzungsverhalten
unterscheidet, sind Konflikte unausweichlich.
Fast alle Völker
leben heute noch ganz selbstverständlich in ihren nationalen Klausuren,
ohne sich dafür im Geringsten abzuschotten. Aber der Wunsch, sich im
globalen Großenganzen ethnisch aufzulösen, ist ein exklusiv westlicher
und vor allem deutscher, wobei auch in keinem westlichen Land
tatsächlich Mehrheiten dafür zu gewinnen wären.
Was aber soll denn
nun deutsch sein? In gebotener Kürze und mit aller Bereitschaft zum
Fragmentarischen sei eine Antwort skizziert. Wilhelm Busch etwa ist
deutsch, diese Mischung aus Gemütlichkeit, Schadenfreude, Boshaftigkeit
und Geist. "Ordnung muss sein" ist deutsch. Ingenieurskunst und Made in Germany
als weltweites Gütesiegel sind deutsch. Deutsch ist die Mentalität,
eine Sache zu Ende zu führen. Es ist deutsch, zu viel zu arbeiten und
eine gewisse Unfähigkeit, die Früchte dieser Arbeit zu genießen, ist es
ebenso. Die ewige Frage, was deutsch sei, ist deutsch. Deutsch sind der
Tiefsinn, die Pflichtethik und die Neigung zum Prinzipiellen, Kehrwoche
und Metaphysik. Deutsch sind eine gewisse Provinzialität, die Neigung
zum Konformismus und ein unverwüstlicher Untertanengeist, alles Folgen
des jahrhundertelangen Umgebenseins von unfreundlichen Nachbarn. Der
Sozialismus ist deutsch, die deutsche Seele ist im Innersten
sozialistisch. Deutsch ist es, "die Elementa zu spekulieren" und für
alles Nichtspekulative technische Lösungen zu finden. Deutsch sind die
Brüder Humboldt als Mitbegründer jener Leitkultur, deren Leidenschaft
der Erforschung fremder Kulturen gilt, sowie die Idee der Universität
als Ort universeller Bildung. Deutsch ist die Treue zu einer Idee bis
zur Idiotie. Deutsch sind der Riesling und die Burgen am Rhein, "Eine
feste Burg ist unser Gott", das "Meistersinger"-Vorspiel und der Einzug
der Gäste in die Wartburg im "Tannhäuser", der Mond der Romantik, die
Begriffsmühlen des deutschen Idealismus, aber auch jene des
Amtsschimmels, gehaltene Versprechen und das völlige Fehlen von Eleganz
im täglichen Umgang... – ich breche hier ab.
Das alles seien keine
verwertbaren Kriterien, wird mancher einwenden. Sie seien weder
verallgemeinerbar noch besonders aktuell. Viele deutsche "Jetztsassen"
(Th. Kapielski) könnten mit alldem nicht das Geringste anfangen. Im
Grunde legte ich mit diesem Sammelsurium bloß offen, dass ich in der
Vergangenheit lebe. All diese Charakteristika seien vergänglich und
würden früher oder später in den Mühlen der Globalisierung mit hinein
gemahlen werden ins Mehl der ultimativen Buntheit.
Schon möglich.
Aber noch sind sie wirkmächtig, auch im Denken und Verhalten derjenigen,
die keine Ahnung davon haben, was ich hier vortrage. Diese
Charakteristika genügen vollauf, um die gravierenden Unterschiede zu
denjenigen zu beschreiben, die in hellen Scharen zu uns strömen, nichts
davon mit sich tragen und angeblich integriert werden müssen. Sie
genügen vollauf, um jedem Unverbohrten vor Augen zu führen, wie lange
eine solche Integration sogar dann dauern würde, wenn die andere Seite
bereit wäre, sich maßvoll anzupassen. Im Übrigen handelt es sich bei der
deutschen Mentalität, ökonomisch gesprochen, um eine Ressource, die
wiederum Parameter wie Verlässlichkeit, Pünktlichkeit,
Pflichtbewusstsein, Vertragstreue, Rechtsvertrauen und Rechtssicherheit
einschließt. Es dauert Jahrhunderte, bis sich ein solches
gesellschaftliches Klima ausbildet, aber auch Ressourcen dieser Art
können verbraucht werden und kehren nicht wieder. MK am 12. 2. 18
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