Stationen

Sonntag, 18. Februar 2018

Die Frucht von 68

Die Barbaren sind mitten unter uns. Sie lauern nicht am rechten oder unteren Rand der Gesellschaft, sie gehören nicht zu den Bildungsfernen und Bildungsverlierern, sie kommen nicht aus unterentwickelten Regionen, sondern sie sitzen an den Schaltstellen von Kunst und Wissenschaft, schreiben in Qualitätsmedien, diskutieren an Universitäten, leiten Gemäldegalerien, dominieren die Talkshows. Barbaren sind sie dennoch. Denn im Grunde ihres Herzens verachten sie die Kunst.
Unter dem Vorwand, gegen Sexismus und Rassismus zu kämpfen, übermalen sie Gedichte, lassen Bilder aus Museen verschwinden, retuschieren Filme, boykottieren Konzerte. Erfüllt von dem Gedanken, dass eine Kombination von subjektiver Betroffenheit und politisch korrekter Gesinnung alles erlaubt, setzen sie zu Säuberungsaktionen an, die die Welt von allen ästhetischen Zweideutigkeiten, Provokationen, Verstörungen und Asymmetrien des Begehrens befreien sollen.
Denkfehler, die man in keinem Proseminar durchgehen liesse, gehören nun im wahrsten Sinn des Wortes zum guten Ton, etwa die Verwechslung von Geltung und Genese. Dass ein Kunstwerk büssen muss, weil sein Schöpfer ein nach heutigen Massstäben vielleicht nicht ganz untadeliges Leben führte, scheint eine Selbstverständlichkeit geworden zu sein. Umgekehrt: So untadelig kann kein Künstler sein, dass er nicht in den Verdacht geraten kann, durch seine Werke irgendwelche Gefühle zu verletzen. Dass für die Beurteilung von Kunst auch der historische Kontext eine Rolle spielen kann, dass profundes Wissen davor schützen könnte, hinter jedem Frauenakt schon Sexismus zu wittern, ist vergessen oder wird demonstrativ ignoriert.
Natürlich: Keiner der neuen Kunstfeinde will Ideen, Werke oder Gedanken zensieren. Man hängt ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, das eine mythologische Szene zeigt, in der lüsterne Nymphen einen jungen Mann ins Verderben ziehen, einfach ab, um, wie es so schön heisst, einen Diskurs zu provozieren. Irgendjemand hat da offenbar etwas grundsätzlich nicht verstanden. Wenn ich über Kunstwerke und ihre Ambivalenz, auch über ihre Schattenseiten diskutieren will, muss ich die Werke sehen, wahrnehmen, studieren können. Der nächste Schritt wäre dann, nur noch über Texte zu urteilen, die man nicht gelesen hat. Aber was heisst hier nächster Schritt?
Das auch vom gehobenen Feuilleton mitunter geteilte oder geheuchelte Verständnis für die Aktivitäten der neuen Barbaren ist weniger Anzeichen einer abwägenden Analyse als vielmehr Ausdruck eines tief sitzenden Kleinmuts. Kaum jemand will offenbar noch eine Kunst verteidigen, der willkürlich die Attribute sexistisch, frauenverachtend oder rassistisch zudiktiert werden können. Dass die Qualität eines Kunstwerks nicht in seinem Programm aufgeht, dass Kunstwerke auch deshalb geschätzt werden, weil der Widerspruch zwischen Form und Inhalt ein Oszillieren zwischen Affirmation und Kritik ermöglicht, ist nicht nur ein zu komplexer Gedanke für die einfältige Moral unserer Zeit, sondern für viele offenbar auch keine ästhetische Erfahrungsmöglichkeit mehr.
Hinter der Kritik an angeblich moralisch zweifelhafter Kunst verbirgt sich neben vielem anderem auch eine veritable Kunstfeindschaft, der Hass auf ein Schönes, das sich einfachen Kategorisierungen und Zuordnungen entzieht. Die neuen Kunstfeinde möchten in einer Welt leben, in der alles eindeutig, idyllisch, sauber, unbefleckt, vertraglich geregelt, eintönig und irritationsfrei ist. Biedere Barbaren sind hier am Werk, gegen die etwa die Kleinbürger des Biedermeier ästhetisch aufgeschlossene Rebellen gewesen sind.  Konrad Paul Liessmann

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