Die Barbaren
sind mitten unter uns. Sie lauern nicht am rechten oder unteren Rand der
Gesellschaft, sie gehören nicht zu den Bildungsfernen und
Bildungsverlierern, sie kommen nicht aus unterentwickelten Regionen,
sondern sie sitzen an den Schaltstellen von Kunst und Wissenschaft,
schreiben in Qualitätsmedien, diskutieren an Universitäten, leiten
Gemäldegalerien, dominieren die Talkshows. Barbaren sind sie dennoch.
Denn im Grunde ihres Herzens verachten sie die Kunst.
Unter
dem Vorwand, gegen Sexismus und Rassismus zu kämpfen, übermalen sie
Gedichte, lassen Bilder aus Museen verschwinden, retuschieren Filme,
boykottieren Konzerte. Erfüllt von dem Gedanken, dass eine Kombination
von subjektiver Betroffenheit und politisch korrekter Gesinnung alles
erlaubt, setzen sie zu Säuberungsaktionen an, die die Welt von allen
ästhetischen Zweideutigkeiten, Provokationen, Verstörungen und
Asymmetrien des Begehrens befreien sollen.
Denkfehler,
die man in keinem Proseminar durchgehen liesse, gehören nun im wahrsten
Sinn des Wortes zum guten Ton, etwa die Verwechslung von Geltung und
Genese. Dass ein Kunstwerk büssen muss, weil sein Schöpfer ein nach
heutigen Massstäben vielleicht nicht ganz untadeliges Leben führte,
scheint eine Selbstverständlichkeit geworden zu sein. Umgekehrt: So
untadelig kann kein Künstler sein, dass er nicht in den Verdacht geraten
kann, durch seine Werke irgendwelche Gefühle zu verletzen. Dass für die
Beurteilung von Kunst auch der historische Kontext eine Rolle spielen
kann, dass profundes Wissen davor schützen könnte, hinter jedem
Frauenakt schon Sexismus zu wittern, ist vergessen oder wird
demonstrativ ignoriert.
Natürlich:
Keiner der neuen Kunstfeinde will Ideen, Werke oder Gedanken zensieren.
Man hängt ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, das eine mythologische
Szene zeigt, in der lüsterne Nymphen einen jungen Mann ins Verderben
ziehen, einfach ab, um, wie es so schön heisst, einen Diskurs zu
provozieren. Irgendjemand hat da offenbar etwas grundsätzlich nicht
verstanden. Wenn ich über Kunstwerke und ihre Ambivalenz, auch über ihre
Schattenseiten diskutieren will, muss ich die Werke sehen, wahrnehmen,
studieren können. Der nächste Schritt wäre dann, nur noch über Texte zu
urteilen, die man nicht gelesen hat. Aber was heisst hier nächster
Schritt?
Das
auch vom gehobenen Feuilleton mitunter geteilte oder geheuchelte
Verständnis für die Aktivitäten der neuen Barbaren ist weniger Anzeichen
einer abwägenden Analyse als vielmehr Ausdruck eines tief sitzenden
Kleinmuts. Kaum jemand will offenbar noch eine Kunst verteidigen, der
willkürlich die Attribute sexistisch, frauenverachtend oder rassistisch
zudiktiert werden können. Dass die Qualität eines Kunstwerks nicht in
seinem Programm aufgeht, dass Kunstwerke auch deshalb geschätzt werden,
weil der Widerspruch zwischen Form und Inhalt ein Oszillieren zwischen
Affirmation und Kritik ermöglicht, ist nicht nur ein zu komplexer
Gedanke für die einfältige Moral unserer Zeit, sondern für viele
offenbar auch keine ästhetische Erfahrungsmöglichkeit mehr.
Hinter
der Kritik an angeblich moralisch zweifelhafter Kunst verbirgt sich
neben vielem anderem auch eine veritable Kunstfeindschaft, der Hass auf
ein Schönes, das sich einfachen Kategorisierungen und Zuordnungen
entzieht. Die neuen Kunstfeinde möchten in einer Welt leben, in der
alles eindeutig, idyllisch, sauber, unbefleckt, vertraglich geregelt,
eintönig und irritationsfrei ist. Biedere Barbaren sind hier am Werk,
gegen die etwa die Kleinbürger des Biedermeier ästhetisch
aufgeschlossene Rebellen gewesen sind. Konrad Paul Liessmann
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