Stationen

Samstag, 3. Februar 2018

Werde Ostdeutscher wie ich!

Nach siebenundzwanzig Jahren wurde ich am Tag der Deutschen Einheit überraschend zum Ostdeutschen. Dass es dazu kam, hat viel mit dem Ausgang der Bundestagswahl im September 2017 zu tun. Das Wahlergebnis überraschte nur den, der die Entwicklung in Deutschland entweder verschlafen oder verträumt hatte. Eine Partei wurde zur drittstärksten Kraft, die den Flüchtlingskonsens und die Einigkeit über die offenen Grenzen nicht mittrug und die nicht die EU als das Alleinseligmachende propagierte.
Mit Blick auf die Wahlergebnisse im Einzelnen bot sich sehr schnell der Ostdeutsche als Sündenbock und als Hassobjekt an und wurde schliesslich zum Paria erklärt. Der damalige Direktor für Kommunikation der Erzdiözese Köln, Ansgar Mayer, twitterte: «Tschechien – wie wär's: wir nehmen Euren Atommüll, Ihr nehmt Sachsen?» Kardinal Rainer Maria Woelki stellte sich hinter seinen Kommunikationsdirektor, und es schien seinem christlichen Menschenbild nicht zu widersprechen, dass sein Mitarbeiter Menschen mit Atommüll verglichen hatte.
Bis zu diesem Tag hatte ich exakt die erste Hälfte meines Lebens in der DDR und die zweite in der Bundesrepublik zugebracht. Die Erinnerungen an die friedliche Revolution und das Ende der DDR sind noch lebendig. Mit anderen hatte ich für Reformen und gegen Honecker und Co. demonstriert, zu einer Zeit, als man dafür noch in den Kellern der Geheimpolizei verschwinden konnte. Am Treffpunkt, im Schatten der Marienkirche, in der Martin Luther einst predigte und Johann Sebastian und Wilhelm Friedemann Bach musizierten, traf ich auf ein lockeres Häuflein von rund 40 Personen.
Nichts hätte uns davon abhalten können, wieder auseinanderzugehen; wir wagten etwas zutiefst Lächerliches: Wir marschierten über den Marktplatz von Halle, den Boulevard entlang. Überall standen die Achtgroschenjungs, filmten und fotografierten für den Tag der grossen Abrechnung. Doch am Ende des Boulevards war das Häuflein der 40 auf 100, 200, 300 Menschen angewachsen. Es waren noch mehr gekommen, die erst einmal abgewartet hatten, wie das Ganze ausgehen wird. Andere wurden spontan von uns mitgerissen.
Niemals hatte ich mich als Ostdeutscher gesehen, nicht in der DDR, nicht während der Montagsdemos, auch nicht in den siebenundzwanzig Jahren danach, sondern mich immer als Deutscher gefühlt, weil ich fest verankert bin in der deutschen Kultur. Ich sehe diese deutsche Kultur in allen Höhen und Tiefen, widerspruchsvoll, beglückend und peinigend, geprägt von Meister Eckhart, Martin Luther, von Johann Sebastian Bach und Gotthold Ephraim Lessing, von Immanuel Kant und von Johann Wolfgang von Goethe.
Sicher ist dieses deutsche Erbe auch ein europäisches wie das Werk des Engländers William Shakespeare. Würde man aber Shakespeare das Englische austreiben, würde man ihn zerstören, so ist es auch mit Kant und dem Deutschen. Das Ossi-und-Wessi-Gerede habe ich immer abgelehnt und mich in dem Sinn als Deutscher verstanden, wie sich ein Franzose als Franzose, ein Engländer als Engländer begreift. Man ist es, weil man es ist.
Meine Mutter wurde mit ihrer Familie in den Zug nach Magdeburg gedrängt. So kam ich in Ostdeutschland auf die Welt.
Während Bundespräsidenten in Deutschland überparteilich zur Einheit des Landes beitragen sollen, verblüffte Joachim Gauck damit, dass er eine neue Mauer durch Deutschland zog, indem er zwischen Hell- und Dunkeldeutschland unterschied. Und ganz gleich, ob er es tatsächlich so gemeint hatte, wurde Hell- und Dunkeldeutschland in der Folge mit Ost- und Westdeutschland identifiziert. Zuvor hatte Gauck die Heimatvertriebenen mit Flüchtlingen gleichgesetzt.
Von meiner Mutter hingegen weiss ich, dass ihre Familie von einem auf den anderen Tag 1946 ihr Haus in Schlesien aufgeben musste. Nach anstrengenden Fussmärschen kam die Familie im zerbombten Dresden an. Auf dem Bahnhof standen zwei Züge, der eine ging nach Magdeburg, der andere nach Stuttgart. Meine Mutter wurde mit ihrer Familie in den Zug nach Magdeburg gedrängt. So kam ich in Ostdeutschland auf die Welt.
Niemand begrüsste und erwartete sie in ihrer neuen Heimat, niemand steckte ihnen Geld zu, im Gegenteil, die grosse Not machte die Einheimischen nicht zu Gastgebern oder gar Helfern. Die Neuankömmlinge verlangten nichts, stellten keine Ansprüche und packten einfach mit an, dieses Land wieder aufzubauen, in Not und Verzicht, doch mit grossem Elan. Den Deutschen in ihrer alten und denen in ihrer neuen Heimat haben wir Deutschland zu verdanken.
Der Topos, der Ostdeutsche sei eigentlich ein Migrant, fiel mir das erste Mal in einem «Zeit»-Artikel der deutsch-türkischen Autorin Özlem Topcu zum Tag der Deutschen Einheit 2015 auf, in dem die Ostdeutschen zudem als «Angsterfüllte» bezeichnet wurden. Natürlich hat Angst, wer gegen einen totalitären Staat mit nichts als seinem Mut auf die Strasse geht. Aber diejenigen als «Angsterfüllte» zu bezeichnen, die sich die Freiheit, die ihnen niemand geschenkt hatte, erkämpft hatten?
Woher die Abneigung, möglicherweise der Hass der Autorin gegen die Ostdeutschen, stammt, wird deutlich in einem solchen Satz wie: «Nur leider habt Ihr uns vergessen bei Eurer schönen Einheit. Ihr habt uns nicht gemeint und uns wieder zu Ausländern gemacht. Dabei waren wir schon längst Wessis. Länger als Ihr.»
Ressentiments gegen die Ostdeutschen resultieren aber auch daraus, dass mit der Wiedervereinigung der Traum vieler westdeutscher Linker zerstört wurde. Den sahen sie, mit Mängeln zwar, aber immerhin in der DDR verwirklicht, einen Traum, den sie nicht leben mussten, aber den sie hier gefahrlos hegen durften. Dass es die Ostdeutschen gewagt hatten, diesen Traum zu zerstören und sich zu befreien, haben ihnen viele Linke verübelt.
Nicht nur, dass die ostdeutschen Bürgerrechtler den Westlinken die Transzendenz des besseren Deutschland genommen hatten. Sie tanzen auch heute nicht nach der Pfeife, suchen nicht die «richtige Seite», sondern das Richtige für die Gesellschaft und treten weiter für Demokratie und Freiheit ein. Wenn aber Journalisten nicht mehr informieren, sondern sich darin erschöpfen, zu beeinflussen, zu animieren, anzufeuern, am grossen, guten Werke mitzutun, dann ist dieses Neue für die Ostdeutschen etwas ganz Altes, dann werden Medien schnell zum DDR-Fernsehen oder zum «Neuen Deutschland» und zur «Jungen Welt».

Ostdeutsche sind damit aufgewachsen, den Klang der Information vom Getöse der Propaganda zu unterscheiden, sie sind es gewohnt, die Dinge zu hinterfragen, sie sind auch für die Meinungsfreiheit auf die Strasse gegangen. Sie lassen sich nicht einschüchtern, sie sind renitent.
Und so geschah mit mir am 3. November 2017, nachdem ich mich ein Leben lang als Deutscher gefühlt hatte, eine Verwandlung. Diese Veränderung hatte ein Artikel in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zum Tag der Deutschen Einheit bewirkt, in dem ich las: «Sie haben weniger Erfolg im Beruf und verdienen weniger Geld. Sie sind mit ihrer Lebenssituation im Schnitt weniger zufrieden und schimpfen über die Republik, die sie aufgenommen hat.» Erstaunlicherweise nähmen die Abschottungstendenzen der zweiten Generation zum Teil sogar zu, so der Autor.
Der Ostdeutsche als Einwanderer. Als Migrant. Der Ostdeutsche als Fremder in Deutschland.
Das sei ein deutliches Zeichen dafür, «dass im Integrationsprozess etwas schiefläuft». Und: «Die Rede ist nicht von den Deutschtürken, die einst als Arbeitskräfte ins Land kamen. Es geht um die damals rund 17 Millionen Ostdeutschen, die am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik beitraten, alle an einem Tag. Es war eine der grössten und plötzlichsten Einwanderungswellen der Geschichte.»
Der Ostdeutsche als Einwanderer. Als Migrant. Der Ostdeutsche als Fremder in Deutschland: Nachdem ich diesen Artikel gelesen hatte, wusste ich, dass sein Verfasser mich als Ostdeutschen meinte, mich als Migranten betrachtete, als Fremden im eigenen Land. Ich gebe zu, es traf mich unvermittelt, und etwas zerbrach in mir, eine Illusion, die Illusion, dass sich das Vaterland und die Heimat nicht in einer politischen Meinung erschöpfen, dass diese Begriffe noch einen tieferen Sinn besitzen – offenbar nicht. Diese Sichtweise interessiert sich nicht für die Geschichte, wonach als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges zwei deutsche Staaten entstanden waren, in denen die Deutschen seit 1949 bis zur Wiedervereinigung lebten. Sie berücksichtigt offensichtlich nicht, dass das staatspolitische Ziel der Bundesregierung in der Wiedervereinigung und nicht in der Übersiedlung von 17 Millionen Bürgern der DDR in die Bundesrepublik bestand. Viele Ostdeutsche sind übrigens in ihren Heimatregionen und Heimatstädten geblieben. Sie sind nicht zugewandert, sie haben vielmehr ein ganzes Land mit seinen Werten eingebracht.
Aber selbst wenn es zu dieser Übersiedlung gekommen und Ostdeutschland zur menschenleeren Wüstenei geworden wäre, liessen sich die Ostdeutschen auch dann nicht als Migranten bezeichnen, weil sie Deutsche sind. Man stelle sich vor, einem Franzosen, der von Reims nach Bordeaux zieht, zu eröffnen, dass er ein ostfranzösischer Migrant sei.
Der Autor scheint nicht zu wissen, dass der alte, 1992 geänderte Paragraf 23 GG gerade den Wiedervereinigungs- und nicht den Migrationsfall im Blick hatte. Es ging niemals um Einwanderung, sondern immer um Beitritt weiterer deutscher Länder oder Gebiete. Man kann also die Ostdeutschen nicht mit Migranten vergleichen, weil sie keine sind. Sie wanderten auch nicht ein, sondern traten – eben nach Art. 23 GG – dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Diesen Weg hatte man aufgrund der schwierigen politischen Situation gewählt. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, das Provisorium Grundgesetz durch eine neue gemeinsame Verfassung gemäss Art. 146 GG zu ersetzen. Beide Wege wurden damals diskutiert, standen aber unter der Überschrift «Vereinigung» mit dem Resultat eines «Einheitsvertrages» und nicht eines Migrationserlasses.
Und wie soll man die These in besagtem «FAZ»-Artikel deuten, dass Angela Merkel «im Osten auch deshalb so viel Hass auf sich zieht, weil sie ihren Landsleuten den Spiegel vorhält: Seht her, wer sich anstrengt, der schafft es auch». Als ob Angela Merkel im Wahlkampf nicht auch in Ulm und in München ausgepfiffen worden wäre? Wer durch Ostdeutschland reist, trifft auf viele gut ausgebildete Menschen und bemerkt vielleicht ebenfalls – entgegen einem vulgärsoziologischen Weltbild –, dass die AfD auch von gut ausgebildeten und gut verdienenden Ostdeutschen, von denen, die sich «angestrengt» haben, gewählt worden ist. Wie übrigens auch im Westen.
Was viele nicht sehen und nicht sehen wollen, ist, dass Angela Merkel in Ostdeutschland nicht als Ostdeutsche wahrgenommen wird. Die Fremdheit gegenüber Ostdeutschland bestätigte Angela Merkel, Tochter eines sozialistischen Pfarrers, der von Hamburg mit Frau und Kind in die DDR gegangen war, in einem Interview mit der «FAZ»: «Den wesentlichen Teil des Tages habe ich damals schweigend und denkend verbracht. Als dann die Mauer fiel und ich zum Demokratischen Aufbruch ging, merkte ich, wie gerne ich mit anderen Menschen spreche.»
Einschlägige Erklärungen vermögen aber nicht den wahren Grund zu verdecken, weshalb Angela Merkels Beliebtheit im Osten nicht allzu hoch ist. Es hängt schlicht mit ihrer Politik zusammen, die abgelehnt wird.
Ich weiss, dass man nichts geschenkt bekommt, auch nicht die Freiheit, auch nicht die Demokratie, paradoxerweise nicht einmal in der Demokratie.
Die vielgescholtenen Sachsen sind auch nicht rechts, sondern sie wollen, dass beispielsweise Pirna nicht zum Problembezirk mit Parallelgesellschaften wird wie etwa Berlin-Neukölln. Und sie haben jedes demokratische Recht dazu, ihrem Willen demokratisch Ausdruck zu verleihen. Die Sachsen wollen, dass das, was sie eben erfolgreich trotz grossen Schwierigkeiten nach der Wende aufgebaut haben, ihren Kindern zugutekommt, und sie wollen wie alle Eltern, dass es ihren Kindern einmal besser als ihnen gehen wird, doch genau das sehen viele Sachsen durch Merkels Politik gefährdet.
In gewisser Weise mag es richtig sein, dass ich mich darauf besinne, dass ich Ostdeutscher bin. Ich weiss, dass man nichts geschenkt bekommt, auch nicht die Freiheit, auch nicht die Demokratie, paradoxerweise nicht einmal in der Demokratie. Ostdeutsch sein heisst für mich, nie zu vergessen, dass wir die Demokratie und die Freiheit erkämpft haben. Die geben wir auch nicht mehr her, da mögen deutsche Journalisten schreiben, was sie wollen.   Klaus-Rüdiger Mai

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