Nach
siebenundzwanzig Jahren wurde ich am Tag der Deutschen Einheit
überraschend zum Ostdeutschen. Dass es dazu kam, hat viel mit dem
Ausgang der Bundestagswahl im September 2017 zu tun. Das Wahlergebnis
überraschte nur den, der die Entwicklung in Deutschland entweder
verschlafen oder verträumt hatte. Eine Partei wurde zur drittstärksten
Kraft, die den Flüchtlingskonsens und die Einigkeit über die offenen
Grenzen nicht mittrug und die nicht die EU als das Alleinseligmachende
propagierte.
Mit
Blick auf die Wahlergebnisse im Einzelnen bot sich sehr schnell der
Ostdeutsche als Sündenbock und als Hassobjekt an und wurde schliesslich
zum Paria erklärt. Der damalige Direktor für Kommunikation der
Erzdiözese Köln, Ansgar Mayer, twitterte: «Tschechien – wie wär's: wir
nehmen Euren Atommüll, Ihr nehmt Sachsen?» Kardinal Rainer Maria Woelki
stellte sich hinter seinen Kommunikationsdirektor, und es schien seinem
christlichen Menschenbild nicht zu widersprechen, dass sein Mitarbeiter
Menschen mit Atommüll verglichen hatte.
Bis
zu diesem Tag hatte ich exakt die erste Hälfte meines Lebens in der DDR
und die zweite in der Bundesrepublik zugebracht. Die Erinnerungen an
die friedliche Revolution und das Ende der DDR sind noch lebendig. Mit
anderen hatte ich für Reformen und gegen Honecker und Co. demonstriert,
zu einer Zeit, als man dafür noch in den Kellern der Geheimpolizei
verschwinden konnte. Am Treffpunkt, im Schatten der Marienkirche, in der
Martin Luther einst predigte und Johann Sebastian und Wilhelm
Friedemann Bach musizierten, traf ich auf ein lockeres Häuflein von rund
40 Personen.
Nichts hätte uns davon abhalten können, wieder auseinanderzugehen; wir
wagten etwas zutiefst Lächerliches: Wir marschierten über den Marktplatz
von Halle, den Boulevard entlang. Überall standen die
Achtgroschenjungs, filmten und fotografierten für den Tag der grossen
Abrechnung. Doch am Ende des Boulevards war das Häuflein der 40 auf 100,
200, 300 Menschen angewachsen. Es waren noch mehr gekommen, die erst
einmal abgewartet hatten, wie das Ganze ausgehen wird. Andere wurden
spontan von uns mitgerissen.
Niemals
hatte ich mich als Ostdeutscher gesehen, nicht in der DDR, nicht
während der Montagsdemos, auch nicht in den siebenundzwanzig Jahren
danach, sondern mich immer als Deutscher gefühlt, weil ich fest
verankert bin in der deutschen Kultur. Ich sehe diese deutsche Kultur in
allen Höhen und Tiefen, widerspruchsvoll, beglückend und peinigend,
geprägt von Meister Eckhart, Martin Luther, von Johann Sebastian Bach
und Gotthold Ephraim Lessing, von Immanuel Kant und von Johann Wolfgang
von Goethe.
Sicher ist dieses deutsche Erbe auch ein europäisches wie das Werk des
Engländers William Shakespeare. Würde man aber Shakespeare das Englische
austreiben, würde man ihn zerstören, so ist es auch mit Kant und dem
Deutschen. Das Ossi-und-Wessi-Gerede habe ich immer abgelehnt und mich
in dem Sinn als Deutscher verstanden, wie sich ein Franzose als
Franzose, ein Engländer als Engländer begreift. Man ist es, weil man es
ist.
Meine Mutter wurde mit ihrer Familie in den Zug nach Magdeburg gedrängt. So kam ich in Ostdeutschland auf die Welt.
Während
Bundespräsidenten in Deutschland überparteilich zur Einheit des Landes
beitragen sollen, verblüffte Joachim Gauck damit, dass er eine neue
Mauer durch Deutschland zog, indem er zwischen Hell- und
Dunkeldeutschland unterschied. Und ganz gleich, ob er es tatsächlich so
gemeint hatte, wurde Hell- und Dunkeldeutschland in der Folge mit Ost-
und Westdeutschland identifiziert. Zuvor hatte Gauck die
Heimatvertriebenen mit Flüchtlingen gleichgesetzt.
Von
meiner Mutter hingegen weiss ich, dass ihre Familie von einem auf den
anderen Tag 1946 ihr Haus in Schlesien aufgeben musste. Nach
anstrengenden Fussmärschen kam die Familie im zerbombten Dresden an. Auf
dem Bahnhof standen zwei Züge, der eine ging nach Magdeburg, der andere
nach Stuttgart. Meine Mutter wurde mit ihrer Familie in den Zug nach
Magdeburg gedrängt. So kam ich in Ostdeutschland auf die Welt.
Niemand
begrüsste und erwartete sie in ihrer neuen Heimat, niemand steckte
ihnen Geld zu, im Gegenteil, die grosse Not machte die Einheimischen
nicht zu Gastgebern oder gar Helfern. Die Neuankömmlinge verlangten
nichts, stellten keine Ansprüche und packten einfach mit an, dieses Land
wieder aufzubauen, in Not und Verzicht, doch mit grossem Elan. Den
Deutschen in ihrer alten und denen in ihrer neuen Heimat haben wir
Deutschland zu verdanken.
Der
Topos, der Ostdeutsche sei eigentlich ein Migrant, fiel mir das erste
Mal in einem «Zeit»-Artikel der deutsch-türkischen Autorin Özlem Topcu
zum Tag der Deutschen Einheit 2015 auf, in dem die Ostdeutschen zudem
als «Angsterfüllte» bezeichnet wurden. Natürlich hat Angst, wer gegen
einen totalitären Staat mit nichts als seinem Mut auf die Strasse geht.
Aber diejenigen als «Angsterfüllte» zu bezeichnen, die sich die
Freiheit, die ihnen niemand geschenkt hatte, erkämpft hatten?
Woher
die Abneigung, möglicherweise der Hass der Autorin gegen die
Ostdeutschen, stammt, wird deutlich in einem solchen Satz wie: «Nur
leider habt Ihr uns vergessen bei Eurer schönen Einheit. Ihr habt uns
nicht gemeint und uns wieder zu Ausländern gemacht. Dabei waren wir
schon längst Wessis. Länger als Ihr.»
Ressentiments
gegen die Ostdeutschen resultieren aber auch daraus, dass mit der
Wiedervereinigung der Traum vieler westdeutscher Linker zerstört wurde.
Den sahen sie, mit Mängeln zwar, aber immerhin in der DDR verwirklicht,
einen Traum, den sie nicht leben mussten, aber den sie hier gefahrlos
hegen durften. Dass es die Ostdeutschen gewagt hatten, diesen Traum zu
zerstören und sich zu befreien, haben ihnen viele Linke verübelt.
Nicht
nur, dass die ostdeutschen Bürgerrechtler den Westlinken die
Transzendenz des besseren Deutschland genommen hatten. Sie tanzen auch
heute nicht nach der Pfeife, suchen nicht die «richtige Seite», sondern
das Richtige für die Gesellschaft und treten weiter für Demokratie und
Freiheit ein. Wenn aber Journalisten nicht mehr informieren, sondern
sich darin erschöpfen, zu beeinflussen, zu animieren, anzufeuern, am
grossen, guten Werke mitzutun, dann ist dieses Neue für die Ostdeutschen
etwas ganz Altes, dann werden Medien schnell zum DDR-Fernsehen oder zum
«Neuen Deutschland» und zur «Jungen Welt».
Ostdeutsche
sind damit aufgewachsen, den Klang der Information vom Getöse der
Propaganda zu unterscheiden, sie sind es gewohnt, die Dinge zu
hinterfragen, sie sind auch für die Meinungsfreiheit auf die Strasse
gegangen. Sie lassen sich nicht einschüchtern, sie sind renitent.
Und
so geschah mit mir am 3. November 2017, nachdem ich mich ein Leben lang
als Deutscher gefühlt hatte, eine Verwandlung. Diese Veränderung hatte
ein Artikel in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zum Tag der
Deutschen Einheit bewirkt, in dem ich las: «Sie haben weniger Erfolg im
Beruf und verdienen weniger Geld. Sie sind mit ihrer Lebenssituation im
Schnitt weniger zufrieden und schimpfen über die Republik, die sie
aufgenommen hat.» Erstaunlicherweise nähmen die Abschottungstendenzen
der zweiten Generation zum Teil sogar zu, so der Autor.
Der Ostdeutsche als Einwanderer. Als Migrant. Der Ostdeutsche als Fremder in Deutschland.
Das
sei ein deutliches Zeichen dafür, «dass im Integrationsprozess etwas
schiefläuft». Und: «Die Rede ist nicht von den Deutschtürken, die einst
als Arbeitskräfte ins Land kamen. Es geht um die damals rund 17
Millionen Ostdeutschen, die am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik
beitraten, alle an einem Tag. Es war eine der grössten und plötzlichsten
Einwanderungswellen der Geschichte.»
Der
Ostdeutsche als Einwanderer. Als Migrant. Der Ostdeutsche als Fremder
in Deutschland: Nachdem ich diesen Artikel gelesen hatte, wusste ich,
dass sein Verfasser mich als Ostdeutschen meinte, mich als Migranten
betrachtete, als Fremden im eigenen Land. Ich gebe zu, es traf mich
unvermittelt, und etwas zerbrach in mir, eine Illusion, die Illusion,
dass sich das Vaterland und die Heimat nicht in einer politischen
Meinung erschöpfen, dass diese Begriffe noch einen tieferen Sinn
besitzen – offenbar nicht. Diese Sichtweise interessiert sich nicht für
die Geschichte, wonach als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges zwei
deutsche Staaten entstanden waren, in denen die Deutschen seit 1949 bis
zur Wiedervereinigung lebten. Sie berücksichtigt offensichtlich nicht,
dass das staatspolitische Ziel der Bundesregierung in der
Wiedervereinigung und nicht in der Übersiedlung von 17 Millionen Bürgern
der DDR in die Bundesrepublik bestand. Viele Ostdeutsche sind übrigens
in ihren Heimatregionen und Heimatstädten geblieben. Sie sind nicht
zugewandert, sie haben vielmehr ein ganzes Land mit seinen Werten
eingebracht.
Aber
selbst wenn es zu dieser Übersiedlung gekommen und Ostdeutschland zur
menschenleeren Wüstenei geworden wäre, liessen sich die Ostdeutschen
auch dann nicht als Migranten bezeichnen, weil sie Deutsche sind. Man
stelle sich vor, einem Franzosen, der von Reims nach Bordeaux zieht, zu
eröffnen, dass er ein ostfranzösischer Migrant sei.
Der
Autor scheint nicht zu wissen, dass der alte, 1992 geänderte Paragraf
23 GG gerade den Wiedervereinigungs- und nicht den Migrationsfall im
Blick hatte. Es ging niemals um Einwanderung, sondern immer um Beitritt
weiterer deutscher Länder oder Gebiete. Man kann also die Ostdeutschen
nicht mit Migranten vergleichen, weil sie keine sind. Sie wanderten auch
nicht ein, sondern traten – eben nach Art. 23 GG – dem Geltungsbereich
des Grundgesetzes bei. Diesen Weg hatte man aufgrund der schwierigen
politischen Situation gewählt. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden,
das Provisorium Grundgesetz durch eine neue gemeinsame Verfassung gemäss
Art. 146 GG zu ersetzen. Beide Wege wurden damals diskutiert, standen
aber unter der Überschrift «Vereinigung» mit dem Resultat eines
«Einheitsvertrages» und nicht eines Migrationserlasses.
Und
wie soll man die These in besagtem «FAZ»-Artikel deuten, dass Angela
Merkel «im Osten auch deshalb so viel Hass auf sich zieht, weil sie
ihren Landsleuten den Spiegel vorhält: Seht her, wer sich anstrengt, der
schafft es auch». Als ob Angela Merkel im Wahlkampf nicht auch in Ulm
und in München ausgepfiffen worden wäre? Wer durch Ostdeutschland reist,
trifft auf viele gut ausgebildete Menschen und bemerkt vielleicht
ebenfalls – entgegen einem vulgärsoziologischen Weltbild –, dass die AfD
auch von gut ausgebildeten und gut verdienenden Ostdeutschen, von
denen, die sich «angestrengt» haben, gewählt worden ist. Wie übrigens
auch im Westen.
Was
viele nicht sehen und nicht sehen wollen, ist, dass Angela Merkel in
Ostdeutschland nicht als Ostdeutsche wahrgenommen wird. Die Fremdheit
gegenüber Ostdeutschland bestätigte Angela Merkel, Tochter eines
sozialistischen Pfarrers, der von Hamburg mit Frau und Kind in die DDR
gegangen war, in einem Interview mit der «FAZ»: «Den wesentlichen Teil
des Tages habe ich damals schweigend und denkend verbracht. Als dann die
Mauer fiel und ich zum Demokratischen Aufbruch ging, merkte ich, wie
gerne ich mit anderen Menschen spreche.»
Einschlägige
Erklärungen vermögen aber nicht den wahren Grund zu verdecken, weshalb
Angela Merkels Beliebtheit im Osten nicht allzu hoch ist. Es hängt
schlicht mit ihrer Politik zusammen, die abgelehnt wird.
Ich
weiss, dass man nichts geschenkt bekommt, auch nicht die Freiheit, auch
nicht die Demokratie, paradoxerweise nicht einmal in der Demokratie.
Die
vielgescholtenen Sachsen sind auch nicht rechts, sondern sie wollen,
dass beispielsweise Pirna nicht zum Problembezirk mit
Parallelgesellschaften wird wie etwa Berlin-Neukölln. Und sie haben
jedes demokratische Recht dazu, ihrem Willen demokratisch Ausdruck zu
verleihen. Die Sachsen wollen, dass das, was sie eben erfolgreich trotz
grossen Schwierigkeiten nach der Wende aufgebaut haben, ihren Kindern
zugutekommt, und sie wollen wie alle Eltern, dass es ihren Kindern
einmal besser als ihnen gehen wird, doch genau das sehen viele Sachsen
durch Merkels Politik gefährdet.
In
gewisser Weise mag es richtig sein, dass ich mich darauf besinne, dass
ich Ostdeutscher bin. Ich weiss, dass man nichts geschenkt bekommt, auch
nicht die Freiheit, auch nicht die Demokratie, paradoxerweise nicht
einmal in der Demokratie. Ostdeutsch sein heisst für mich, nie zu
vergessen, dass wir die Demokratie und die Freiheit erkämpft haben. Die
geben wir auch nicht mehr her, da mögen deutsche Journalisten schreiben,
was sie wollen. Klaus-Rüdiger Mai
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