Zunächst:
Heine! Er hat mich begleitet, seit ich in literarischen Texten
Inspiration und Orientierung suchte. Getröstet hat er mich nur selten.
Aber eine eigene Haltung zu finden, dabei hat er mich bestärkt. Und oft
habe ich Konstellationen oder Menschen besser verstanden durch das, was
Heine dachte und schrieb.
Ganz
besonders gilt das für «die Deutschen», über die Heine schrieb – zum
Beispiel über ihr besonderes Verhältnis zu dem, wonach ich mich immer
sehnte: Freiheit. «Der Engländer liebt die Freiheit wie sein
rechtmässiges Weib. Er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit
absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiss er sie doch im Notfall
wie ein Mann zu verteidigen. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine
erwählte Braut. Er wirft sich zu ihren Füssen mit den überspanntesten
Beteuerungen. Er schlägt sich für sie auf Tod und Leben. Er begeht für
sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine
Grossmutter.»
Das Fremdeln der Ostdeutschen
Es
war nicht negativ gemeint, als ich bei einer Rede im Bundestag 1999
über uns Ostdeutsche sagte, dass wir nach der Einheit Gefühle von
Fremdheit hatten: «Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten auf in
Nordrhein-Westfalen.» Mein Gedanke dabei war positiver als das, was Ihr
Schmunzeln jetzt vermuten lässt. Nordrhein-Westfalen, das war für mich
immer der Ort des gestalteten Lebens. Nicht der Ort, an dem ein Paradies
errichtet werden soll. Sondern der Ort, an dem aus der Wirklichkeit
heraus versucht wird, Gutes zu erreichen. Selten pathetisch, meistens
realistisch, und wenn wir an den Wandel denken, den dieses Land
gestaltet hat, kann man sagen: trotz allem erfolgreich. Es ist ein guter
Ort zum Leben und Arbeiten. Ein Ort, dem ich mich nahe fühlen kann,
auch wenn ich geografisch von weither komme.
Der
Fremde hat so lange existiert, wie es den Menschen gibt. Aber mit der
Entstehung von Nationalstaaten hat das Eigene noch an Bedeutung und die
Abgrenzung vom Fremden noch an Schärfe gewonnen. Das Verhältnis zwischen
dem Eigenen und dem Fremden scheint mir daher eines der schwierigsten
politischen Probleme der Gegenwart. Lassen Sie uns also einen Blick auf
die Rolle werfen, die dem Fremden im Kontext der Nationalstaaten
zugewiesen worden ist.
Die Gefahr des Nationalstaats
Der
Nationalstaat brachte in den letzten 200 Jahren einen erheblichen
Demokratisierungsschub, indem er mit den alten Imperien die ständische
Privilegienherrschaft abschaffte und das Volk als Souverän
inthronisierte. Gleichzeitig aber tauchte mit dem Nationalstaat die
Gefahr einer Überhöhung der eigenen Ethnie auf, verbunden mit einer
scharfen Abgrenzung gegenüber anderen Staaten und einer teilweise
aggressiven Abwertung von Minderheiten. Letztlich kulminierte der
ethnisch reine Staat, wie es uns das 20. Jahrhundert gezeigt hat, in
einer völkermörderischen Vorstellung.
Angesichts
des destruktiven Potenzials im Umgang mit Fremdheit sollten wir die
Zivilität umso höher schätzen, um die sich die Menschheit immer wieder
bemüht hat. Wir wissen, dass es ohne Affektkontrolle keine Zivilität
geben kann. Affektkontrolle aber, die durch reine Repression erreicht
wird, löst den zugrunde liegenden Konflikt genauso wenig wie ein Krieg.
Repression leugnet den Feind, und Krieg vernichtet ihn. Gewaltfreie
Veränderungen hingegen setzen voraus, dass wir die Fremden «entfeinden»
und das Eigene entidealisieren. Und dass wir stattdessen lernen, mit
Ambivalenzen umzugehen. Mit Gefühlen, die die Eindeutigkeit von Gut und
Böse aufheben und Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit zulassen. Das
mag schwer sein, aber es ist auch entlastend. Und es vergrössert die
Chance, im Fremden auch das «Bereichernde» zu entdecken: das noch nicht
Gekannte, das noch nicht Gedachte, das noch nicht Praktizierte, das
unsere bisherige Welt erweitert.
Die Notwendigkeit von Heimat
Wir
kennen die Folgen von Entwurzelung aus den Geschichten vieler
Emigranten. «Ich war ein Mensch, der nicht mehr ‹wir› sagen konnte», hat
Jean Améry geschrieben, nachdem das NS-Regime ihn wegen seiner
jüdischen Herkunft außer Landes getrieben hatte. Und nur noch
gewohnheitsmässig, aber nicht mehr im Gefühl vollen Selbstbesitzes
konnte er darum «ich» sagen. Er hatte Heimweh, «ein übles, zehrendes
Weh» zu dem Land, das ihn doch verjagt hatte. Abgeschnitten von dem
«Wir» wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie sehr der Mensch Heimat braucht,
«um sie nicht nötig zu haben».
Ein
Nationalstaat darf sich auch nicht überfordern. Wer sich vorstellt,
quasi als imaginierter Vertreter eines Weltbürgertums alle Grenzen des
Nationalstaates hinwegzunehmen, überfordert nicht nur die materiellen,
territorialen und sozialen Möglichkeiten eines jeden Staates, sondern
auch die psychischen Möglichkeiten seiner Bürger. Sogar der weltoffene
Mensch gerät emotional und intellektuell an seine Grenzen, wenn sich
Entwicklungen vor allem kultureller Art zu schnell und zu umfassend
vollziehen. Wie oft habe ich gerade in letzter Zeit im Bekanntenkreis
den Stossseufzer gehört: Ich komme nicht mehr mit!
Grosse Veränderungen für Europa
Dabei
bin ich mir gar nicht sicher, ob wir uns schon wirklich klargemacht
haben, wie schwerwiegend Migranten und Flüchtlinge die Gesellschaften in
Europa verändern werden – in ihrer Bevölkerungsstruktur, in der Art
ihres Zusammenlebens und auch in ihrer Kultur. Die Integrationspolitik,
die der Zuwanderung folgt, wird einen langen Atem brauchen und viel
Schwieriges zu gestalten haben. So ist zum Beispiel bekannt, dass
Reibungen umso stärker auftreten, je fremder die Fremden sind. Und viele
Fremde kommen heute aus autoritären Staaten, teilweise mit
Clan-Strukturen zu uns, und viele sind als Muslime religiös ganz anders
geprägt als Westeuropäer des 21. Jahrhunderts.
Selbst
Migranten aus Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken tragen
häufig eine regelrechte Distanz zur Moderne in sich – ein mangelndes
Verständnis für Minderheiten- und Frauenrechte, für Toleranz und
sexuelle Selbstbestimmung. Die Gefolgschaft gegenüber einer starken
Führerpersönlichkeit erscheint ihnen «natürlicher» als die Loyalität
gegenüber einem Rechtsstaat und seinen Institutionen. Andererseits ist
das Bild nicht einheitlich. Bildungsstand, kulturelle Prägung oder
soziale Position haben Migranten auch immer wieder geholfen, die Vorzüge
der offenen Gesellschaft schnell schätzen zu lernen.
Verschiedene
Reaktionsmuster haben sich bei Zuwanderung entwickelt: Die einen haben
die Fremden aus Hilflosigkeit oder Gleichgültigkeit und so gut und so
lange es ging einfach ignoriert. Andere, die umso lauter wurden, je mehr
Migranten kamen, haben sie dämonisiert und pauschal zur Bedrohung
erklärt. Noch andere haben sie umarmt und pauschal zur Bereicherung
erklärt oder gar idealisiert – ausgerechnet Deutsche wollten sich keine
Fremdenfeindlichkeit vorwerfen lassen. Wenn Probleme dieses positive
Bild des Fremden störten, wurden sie minimiert oder gar wegdefiniert.
Vielfalt galt als Wert an sich
Einen
grossen Einfluss in der Integrationspolitik hat lange Zeit die
Konzeption des Multikulturalismus gehabt: Was sich auch immer hinter den
einzelnen Kulturen verborgen hat – Vielfalt galt als Wert an sich. Die
Kulturen der Verschiedenen sollten gleichberechtigt nebeneinander
existieren, für alle verbindliche westlich-liberale Wertvorstellungen
wurden abgelehnt. Ich verstehe, dass es auf den ersten Blick tolerant
und weltoffen anmuten mag, wenn Vielfalt derart akzeptiert und honoriert
wird. Wohin ein solcher Multikulturalismus aber tatsächlich geführt
hat, das hat mich doch erschreckt.
So
finde ich es beschämend, wenn einige immer noch die Augen verschliessen
vor der Unterdrückung von Frauen bei uns und in vielen islamischen
Ländern, vor Zwangsheiraten, Frühheiraten, vor Schwimmverboten für
Mädchen in den Schulen. Wenn Antisemitismus unter Menschen aus
arabischen Staaten ignoriert oder mit Verweis auf israelische Politik
für verständlich erklärt wird. Oder wenn Kritik am Islam sofort unter
den Verdacht gerät, aus Rassismus und einem Hass auf Muslime zu
erwachsen. Sehe ich es richtig, dass in diesen und anderen Fällen die
Rücksichtnahme auf die andere Kultur als wichtiger erachtet wird als die
Wahrung von Grund- und Menschenrechten?
Die Verbündeten der Islamisten
Ja,
es gibt Hass und Diskriminierung von Muslimen in unserem Land. Um sich
diesem Ressentiment und dieser Generalisierung entgegenzustellen, sind
nicht nur Schulen und Politik gefordert, sondern jeder Einzelne.
Beschwichtiger aber, die kritikwürdige Verhaltensweisen von einzelnen
Migranten unter den Teppich kehren, um Rassismus keinen Vorschub zu
leisten, bestätigen Rassisten nur in ihrem Verdacht, die
Meinungsfreiheit in unserem Land sei eingeschränkt. Und sie machen sich
zum Verbündeten von Islamisten, die jegliche, auch berechtigte Kritik an
Muslimen abblocken, indem sie sie als rassistisch verunglimpfen.
Es
ist, als scheuten viele davor zurück, die Werte der liberalen
Demokratie zu verteidigen, obwohl sie so vielen Menschen ein würdiges
Leben ermöglicht haben wie keine Gesellschaftsform zuvor.
Die Chancen der Verunsicherung
Wenn
die Verunsicherung durch Zuwanderung nun dazu führen sollte, dass sich
Einheimische wieder neu und selbstkritisch auf ihre ethischen und
politischen Ideale besinnen und für sie werben, dann hat diese
Verunsicherung etwas Gutes gehabt. Ein blosses Nebeneinander ist keine
gute Voraussetzung für ein Zusammenleben, Konfliktvermeidung kein guter
Weg zum Kennenlernen. Gemeinschaft bildet sich nur aufgrund einer
gemeinsamen Vergangenheit und gemeinsam erlebter Gegenwart.
Zu
viele Zugezogene leben augenblicklich noch zu abgesondert mit Werten
und Narrativen, die den Gesetzen und Regeln und Denkweisen der
Mehrheitsbevölkerung widersprechen, zu viele leben hier seit vielen
Jahren oder gar Jahrzehnten, ohne die Geschichte dieses Landes zu
kennen. Um das zu ändern und uns gemeinsam auf eine Zukunft in diesem
Land zu verständigen, brauchen wir – wie einst zwischen einheimischen
und vertriebenen Deutschen – vor allem eines: mehr Wissen übereinander.
Mehr Dialog. Mehr Streit. Mehr Bereitschaft, im jeweils anderen unseren
eigenen Ängsten, aber auch neuen Chancen zu begegnen. Joachim Gauck
Schade, dass er diese Rede nicht als Bundespräsident gehalten hat. Dass er erst nach seiner Amtszeit zu den jetzt geäußerten Einsichten kam, wird er hoffentlich nicht behaupten. Abhalten kann ihn von einer solch dreisten Lüge allerdings nur ein allerletzter Rest Schamgefühl, denn die Deutschen lassen sich in ihrer braven, jeglicher Menschenkenntnis entbehrenden Weltfremdheit seit Jahrzehnten tagtäglich auch die unglaubwürdigsten Lügen auftischen.Weshalb? Weil wir einen Dachschaden haben. Wir und die Juden haben beide wegen der Shoah einen Dachschaden, der durch seinen Sog sehr viele Themen beeinträchtigt und verzerrt. Daraus enstanden viele langlebige Lügen mit endlos langen Beinen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.